- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Deshalb sprach Mama nie von dir
Mit letzten Handgriffen zog Anita die Bettdecke glatt. Auf dem Nachttisch stand einzig die Schnabeltasse, Medikamente und andere Utensilien lagen nun geordnet in der Schublade. «Onkel Erwin, brauchst du …», da wurde sie durch das Läuten der Türklingel unterbrochen. «Das ist sicher Doktor Wirz». Erwin verzog nur das Gesicht, das angedeutete Lächeln wollte jedoch nicht recht gelingen.
«Grüezi, Frau Liebknecht», Dr. Wirz streckte ihr die Hand entgegen.
«Guten Morgen, Herr Doktor.» Ihm die Hand reichend, liess sie ihn zugleich eintreten. Seit vier Tagen kam er täglich vorbei, da der Zustand von Erwin sich sichtbar verschlechterte.
Leicht an den Türrahmen klopfend trat der Hausarzt in die Küche. «Bleiben Sie nur sitzen, Frau Liebknecht.» Er setzte sich ihr gegenüber, die Tasche auf den Knien stützend. «Es ist soweit. Ihr Onkel wird die nächsten zwölf Stunden nicht mehr durchstehen. Er nahm es sehr gefasst auf. Ich hatte direkt den Eindruck, er warte darauf, nicht nur der Schmerzen wegen.»
«Wie meinen Sie das?» Anita Liebknecht sah ihn gross an.
«Er sagte, was an Wiedergutmachung möglich sei, habe er getan. Das Weitere liege nun in der Hand des höchsten Richters. Weiter äusserte er sich dazu nicht. Doch wie er mir die Hand gab und sich verabschiedete, drückte sein Gesicht eine Zuversicht aus, als ob er eine lang ersehnte Reise antrete. Eine solche Stimmung erlebte ich nur bei Menschen, denen sich ein erfülltes Leben vollendet. … Dennoch war da noch etwas, wie ein Schatten huschte es vorbei, wie eine Erinnerung an etwas Leidvolles. Doch vielleicht war es auch nur ein kurzer Anstieg der Schmerzen, obwohl diese gedämpft sein sollten.»
«In den letzten Wochen hat er trotz des Morphiums manchmal stark unter den Schmerzen gelitten. Er wollte es mir nicht eingestehen, doch ich hörte ihn manchmal in der Nacht stöhnen.»
«Ich bot ihm an, eine höhere Dosis zu spritzen, aber er lehnte ab. Er gehört anscheinend zu den Menschen, die diesen letzten Moment bewusst erleben möchten. Ich gebe Ihnen hier noch ein paar Tabletten, für den Fall, dass es für ihn dennoch unerträglich werden sollte.»
«Was kann ich sonst für ihn tun?»
«Nicht mehr als bis anhin. Das Wichtigste ist Ihre Gegenwart. Er hängt sehr an Ihnen.»
«Dies ist mir selbstverständlich, er war auch für mich da.» Nun schossen ihr die Tränen in die Augen. «Damals als meine Eltern starben und meine Welt völlig zusammenbrach.»
«Ich weiss, er erzählte mir davon.» Dr. Wirz stand auf. «Ich muss in die Praxis. Sie können mich zu jeder Zeit anrufen, sobald es soweit ist. Aber auch wenn unerwartete Komplikationen eintreten sollten, was ich jedoch nicht annehme …»
Onkel Erwin machte einen abgeklärten Eindruck, als Anita in sein Zimmer trat. In das ausgemergelte Gesicht zu schauen schmerzte sie, doch meinte sie in seinen tief liegenden Augen, einen entschlossenen Ausdruck wahrzunehmen.
«Es ist gut, dass du kommst. Ich muss mit dir sprechen, Anita.»
«Du solltest dich nicht zu sehr anstrengen, Erwin.»
Sein kurzes Lachen war mehr ein Krächzen. «Dies muss sein. Ich fühle mich verpflichtet, dir das zu sagen, was in deiner Familie nie jemand aussprach.»
Anita konnte sich nicht vorstellen, dass es in ihrer Familie Heimlichkeiten gab. Dass ihre Eltern mit Erwin keinen Kontakt hatten, seinen Namen niemals erwähnten, schrieb sie einem lange zurückliegenden Streit zu. So etwas kommt unter Geschwistern vor, manchmal aus läppischen Gründen. Ihren Onkel hatte sie nie darauf angesprochen, der Meinung, es würde unnötig alte Wunden aufreissen. Durch den schrecklichen Unfall ihrer Eltern erfuhr sie erstmals, dass ihre Mutter einen älteren Bruder hatte. Anita war damals fünfzehn. Es war für sie und ihren Onkel nicht einfach, sie waren sich fremd, doch fanden sie einen Draht zueinander. Onkel Erwin ermöglichte ihr so gut es ging, den Weg für das weitere Leben zu ebnen. Ihre schulischen Leistungen waren stark eingebrochen, über Monate litt sie unter depressiver Verstimmung, doch Erwin kümmerte sich liebevoll um sie und tat alles um sie aus dem Tief herauszuholen. Es kam ihr zugute, dass er ein hervorragender Schüler gewesen war und mit seiner Hilfe auch die aufgetretenen Lücken innerhalb nützlicher Frist wieder behoben werden konnten.
Nun schaute sie ihn nur stumm an, ein ungutes Gefühl beschlich sie.
«Ich war damals knapp zwanzig, ein junger Mann voll von Idealen und Abenteuerlust. Seit zwei Jahren herrschte rund um unser Land Kriegszustand. Die offiziellen Nachrichten, die wir vernahmen, waren natürlich zensuriert, doch hörten wir auch ausländische Radiosender. Kurz, ich reiste, ohne zu Hause etwas zu sagen nach Deutschland und meldete mich als Freiwilliger bei der Wehrmacht. Da meine Mutter von Geburt her Deutsche war, stellte dies kein Problem dar.»
«Du warst freiwillig im Krieg? Das ist und war doch verrückt!»
«Schon, aber es war jugendliche Unerfahrenheit und Übermut. Dass es höchst naiv war, wie ich mich von der deutschen Propaganda im Radio anstacheln liess, merkte ich erst später. Nach kurzer Ausbildungszeit, die mich noch verheissungsvoll sein liess, wurde ich als Wachsoldat dem Lager Dachau zugeteilt. Ich war enttäuscht, statt an Eroberungen teilzunehmen, musste ich Internierte bewachen. Anfänglich merkte ich nicht, was in diesem Lager vorging, doch dann wurde es mir umso erschreckender klar, es war ein Schock. Dort wurden Menschen systematisch eliminiert.»
Anita fühlte sich betäubt, sie konnte es nicht glauben, was ihr Onkel da berichtete. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
«Aber die Angehörigen von Papa waren doch in solchen Lagern umgekommen!» Ihre Stimme hatte sich beim Sprechen überschlagen.
«Ich lernte deinen Vater nie kennen und auch deine Mutter kannte ihn damals noch nicht, sie war da noch eine Jugendliche. Aber dies macht es natürlich nicht weniger schlimm. Die Eltern deines Vaters hatten ihn rechtzeitig zu Verwandten in die Schweiz geschickt, als sie merkten, dass sie aufgrund ihres Familiennamens zu den nicht genehmen Bürgern im Reich zählten. Sie ahnten jedoch nicht, dass selbst ihr Leben gefährdet sein könnte. All dies habe ich auch erst erfahren, als deine Eltern verstarben.»
«Kamen Papas Eltern in das Lager, in dem auch du warst?» Im Tonfall klang die Frage beinah wie eine Feststellung.
«Ich weiss es nicht, es gab da verschiedene Lager.»
«Dies ist ja schrecklich, wie konntest du nur!», schrie Anita unter Tränen. Ein widersinniges Gefühl war ihr aufgekommen, als ob auch der Tod ihrer Eltern unter dem Vorzeichen der Schuld ihres Onkels stehen würde.
«Ich habe nie einen Menschen getötet.»
«Wie kannst du das sagen, es starben unzählige Menschen in den Lagern.»
«Ja, daran bin ich mitschuldig, obwohl ich selbst nie gegen jemanden die Hand erhob. Ich verzweifelte, als ich merkte, was dort geschah.»
«Das entschuldigt es in keiner Weise. Deshalb sprach Mama nie von dir! Ich hasse dich, ich hasse dich!», gellte ihre Stimme. Anita stürmte aus dem Zimmer, packte ihren Mantel und die Handtasche und rannte aus der Wohnung.
Stundenlang war sie herumgeirrt, zwischendurch auf einer Parkbank gesessen und wieder ziellos herumgelaufen. Die Wunde klaffte, der Schmerz von damals war wieder da, jenes quälende Verlustgefühl, für dessen Verarbeitung sie lange Zeit benötigt hatte. Was es jetzt noch verschärfte, war ein Schuldgefühl, als ob sie ihre Eltern und die Angehörigen ihres Vaters verraten hätte. Beruhigen konnte und wollte sie sich nicht, ihre Gedanken hämmerten wild auf sie ein.
Nur langsam versiegten ihre Tränen und der Schmerz gab dem ungeschönten Selbstmitleid Raum. Nun habe ich auch meinen Onkel durch seine Worte verloren, er, der mir in der grössten Not meines Lebens beigestanden hatte. Sein Trost war ihr eine wertvolle Stütze gewesen, er hatte in den traurigsten Stunden mit ihr geweint und versucht, einem jungen Mädchen Vater zu sein. Ihm verdankte sie die gute Ausbildung, die sie machen konnte. Dafür war sie ihm dankbar, hatte ihn zu sich genommen, als er schwer krank wurde. Es war ihr eine Selbstverständlichkeit als klar wurde, dass man nicht mehr für ihn tun konnte.
Nun liegt er qualvoll im Sterben, ein Tod, den er verdient für die Abscheulichkeiten, die er und seinesgleichen den Menschen antaten. Doch Erwin war der Bruder ihrer Mutter. Er war auch ihre Familie vor und nach ihrer eigenen gescheiterten Ehe. Hätte er mir nichts gesagt, wäre er einfach gestorben, könnte ich ihn in guter und liebevoller Erinnerung bewahren. Aber so. … Er liegt allein im Sterben, ist vielleicht schon tot? … Oder es gab Komplikationen und er muss qualvoll verenden, da niemand zugegen ist? Der Gedanke erschreckte sie.
Gehetzt kam sie in der Wohnung an, kein Laut war zu vernehmen.
Sein Gesicht auf dem Kissen wirkte ihr noch bleicher als bis bisher, die vorstehenden Knochen liessen es wie einen Totenschädel wirken, wären da nicht die halb offenen Augen, die ihr wach entgegenblickten. Mit wenigen Schritten war sie beim Bett und vergrub ihr Gesicht heulend in der Decke. Da spürte sie seine Hand, wie sie sich leicht und tröstend auf ihren Rücken legte. Wie damals.
«Es tut mir sehr leid, aber ich musste dir die Wahrheit sagen. Ich wollte nicht, dass du es nach meinem Tod aus den Papieren entnehmen oder von Dritten erfahren musst.»
«Aber warum hast du dich damals nicht dagegen gewendet, als du merktest, was dort geschah?»
Das Lächeln wirkte bitter auf dem schmalen Gesicht von Erwin. «Wer nicht parierte, wurde an die Front geschickt, Deserteure wurden gar erschossen. Ich bat damals um meine Versetzung, was schon als sehr dreist empfunden wurde. Doch ich hatte Glück, da ich einer der Freiwilligen war und gut Skifahren konnte, versetzte man mich nach einem Jahr dann zur Gebirgsinfanterie. Dort war ich weg von diesem schrecklichen Lager und weit weg vom eigentlichen Frontgeschehen.» Erwins Atem ging schwer, er hatte offensichtliche Mühe anhaltend zu sprechen.
Anita wollte ihm sanft die Hand auf den Mund legen, zum Zeichen, dass er sich nicht überanstrengt, doch Erwin wehrte sie ab.
«Nach Kriegsende wurde ich durch die Alliierten an die Schweiz ausgeliefert und hier vor Gericht gestellt. „Militärdienst für einen fremden Staat“, lautete die Anklage. Dass dieser Staat dazu noch Krieg führte, verschlimmerte die Sache nur noch. Man verurteilte mich zu fünf Jahren Zuchthaus. Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben - abgesehen von dem Lager. Ich war im Zuchthaus mit Dieben und Mördern zusammengesperrt, ein übles Gesindel. Jedoch einen Landesverräter, wie sie mich nannten, zählten sie zu den noch minderwertigeren Insassen, als sie selbst waren. Auch das Wachpersonal gab mir dies zu spüren.»
«Und Mutter, hatte sie dich besucht?»
«Ich hatte ihr geschrieben, mehrfach, doch die Briefe kamen zurück mit dem Vermerk „Annahme verweigert“.»
Anita fasste nach seiner Hand, die sich kühl anfühlte. In ihrer Ambivalenz der Gefühle dominierte nun doch das Mitleid. Sie glaubte ihm, dass es jugendliche Dummheit war, die ihn leitete und ihn in eine Welt voller Grausamkeit und Sinnlosigkeit führte.
«Ich bin dir dankbar, dass du für mich da warst», sagte sie leise. «Mama und Papa hätten dir sicher verziehen, wenn sie gewusst hätten, wie du wirklich gewesen bist.»
Er antwortete nicht. Da erst bemerkte sie, dass sich seine Brust nicht mehr hob und senkte, in seine Augen eine starre Leere eingekehrt war.