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- 02.10.2019
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Des Teufels Gebet
Der verstümmelte Schornstein hielt sich tapfer auf dem heruntergekommenen Bauernhaus. Weiße Bettlaken wälzten sich wie Meereswellen im Wind, der über das hoch stehende Gras wehte und die Wildblumen in einen sanften Tanz versetzte. Es war Herbst. Doch bereits in den frühen Morgenstunden breitete sich eine ungewöhnlich, drückende Hitze über das Land aus, die Mensch und Tier seit Wochen zu schaffen machte. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Kessel über die Landschaft gestülpt. Jede Bewegung verursachte Anstrengung und trieb einem den Schweiß auf die Stirn. Dementsprechend schlummerte das Land untätig vor sich hin und eine bedrückende Stille lag über dem Horizont.
Als ein Knall ertönte, stiegen Vögel, die im Blätterdach eines Baumes Schutz vor der sengenden Sonne gesucht hatten, nach oben und flatterten aufgeregt über das Maisfeld. Der Schuss hallte an den abgeblätterten Hauswänden, fing sich in den Laken und verlief sich in der ausgetrockneten Erde des Trampelpfades, der hinter das Gebäude führte.
»Gut gezielt, Junge.«
Frank klopfte seinem zehnjährigen Sohn Samuel so fest auf die Schulter, dass dieser zusammenzuckte. Im Gegensatz zu ihm, dessen Schultern breit, wie die eines Bären waren und dessen Schwielen an den Händen von der harten Arbeit zeugten, war Samuel schmächtig. Selbst durch das löchrige T-Shirt, das ihm seine Mutter am Morgen auf das Bett gelegt hatte, zeichneten sich seine Brust- und Beckenknochen ab. Dementsprechend schwer wog der Kolben in seiner Hand, den ihm sein Vater sofort nachlud.
»Du wirst von Tag zu Tag besser.«
Das Lob freute Samuel. Meist war er lediglich Kritik ausgesetzt, wenn er auf die Dosen, die er auf einem Brett hinter dem Haus aufgestellt hatten, schoss und kaum einen Treffer verbuchen konnte. Wobei er sich einzureden versuchte, dass das weniger an ihm, sondern vielmehr an dem alten und klapprigen Schießeisen lag, das sich bereits seit Generationen im Besitz der Familie befand.
»Womöglich wird doch noch ein passabler Schütze aus dir. Dann können wir gemeinsam den Kaninchen den Garaus machen.«
Diese verdammten Kaninchen. Selbst Samuel konnte mittlerweile diese Viecher mit den viel zu langen Ohren und der ständig zuckenden Nase nicht mehr leiden. Sein Vater bezeichnete sie als seelenlose Geschöpfe. Damit hatte er wohl recht. Sie machten sich über den Mais her und der war schließlich ihre Lebensgrundlage. Irgendwann würde er auch seine kleine Schwester Elise, davon überzeugen können, dass diese Plagegeister am besten mit Schrotkugeln ausgestopft werden sollten.
»Versuche es noch einmal«, forderte ihn sein Vater auf. Seine stahlfarbenen Augen funkelten dabei streng. Samuel wischte sich den Schweiß von der Handfläche, griff zum Schaft der Waffe und spannte den Hahn. Aufgeregt zwinkerte er und visierte die Blechdose ganz links an. Er versuchte, seine Atmung zu beruhigen und das Zittern in seinen Armen zu ignorieren.
»Du musst dich auf dein Ziel konzentrieren und darfst es nicht aus den Augen verlieren. Bring Kimme und Korn in eine Linie und denk an den leicht verzogenen Abschusswinkel.«
Am liebsten hätte Samuel seinen Vater um Ruhe gebeten. Die Ratschläge nützten ihm nichts. Im Gegenteil. Sie machten ihn noch nervöser. Was würde passieren, wenn er nach dem letzten Glückstreffer gleich wieder vorbeischoss? Würde ihn sein Vater verspotten? Oder noch schlimmer, der freundschaftliche Klaps zu einem Schlag ausarten? Samuel fürchtete sich vor seinem Vater. Natürlich liebte er ihn, wie es ein gut erzogenes Kind tat. Doch die Hand seines Vaters saß ziemlich locker. Besonders wenn er über den Durst trank. Dann kam man ihm besser nicht in die Quere. Welch ein Glück, dass er heute noch keine Gelegenheit dazu fand. Vielleicht würde es ein guter Tag bleiben.
»Warte nicht so lange. Dann werden deine Muskeln schwer.«
Sein alter Herr wirkte ungeduldig. Samuel blinzelte. Ein Schweißtropfen hatte sich auf der Augenbraue verfangen. Sein vorderes Bein zuckte leicht, weil er zu verkrampft auf dem staubigen Boden stand. Die Dose verschwand immer wieder aus seiner Zieleinstellung. Samuel hielt den Atem an. Sein Zeigefinger spannte sich weiter. Jeden Moment erwartete er den schmerzhaften Rückstoß. Er musste die Dose treffen. Sein Vater wäre sicherlich stolz auf ihn. Dann hätte er heute keinen Grund, sich dem Alkohol hinzugeben. Aus Enttäuschung über seinen einzigen Sohn. Dem Sohn, der irgendwann selbst das Land bestellen und es gegen die Kaninchenplage verteidigen sollte.
Er krümmte den Zeigefinger noch weiter. Die Waffe klickte. Samuel wartete auf den lauten Knall, nach dem ihm stets das Trommelfell zitterte. Aber nichts passierte. Der Schuss hatte sich nicht gelöst. Die Dose stand unverrückt und so standhaft auf dem Brett, als könnte ihr nicht einmal ein Tornado etwas anhaben. Hatte er vergessen, die Waffe zu entsichern? Oder zu wenig fest den Hahn gespannt?
Wieder blinzelte Samuel. Diesmal nicht vor Anspannung sondern aus Angst und Panik. Wie würde sein Vater reagieren?
»Gib das Scheißding her.«
Frank riss seinem Sohn die Waffe aus der Hand. Instinktiv duckte sich Samuel ein wenig.
»Ladehemmung. Blödes Scheißding.«
Samuel fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nicht versagt. Die alte Knarre hatte es. Wie ein Theologe hatte sie den Dienst verweigert. Gerne hätte sein Vater eine Waffe angeschafft. Da das Geld aber immer knapp war, hatte er sein Vorhaben stets verschoben.
»Kommt zum Essen, Männer.«
Dieses Mal hatte die Waffe Samuel vor einer Blamage bewahrt. Denn nach seinem Glückstreffer hätte es nicht besser werden können. Und seine Mutter rettete ihn mit ihrer Aufforderung vor weiteren Versuchen.
»Wir üben ein anderes Mal weiter«, bestätigte ihm sein Vater und klopfte ihm nochmals auf die Schulter.
»Heute hast du dir das Abendessen redlich verdient.«
Samuel war glücklich. Der Tag war zur Abwechslung gut zu ihm gewesen.
Die letzten Sonnenstrahlen fielen in Streifen durch die Vorhänge. Staubpartikel tanzten wie Goldstaub in der Luft. Samuels sechsjährige Schwester saß bereits an dem abgeschlagenen Holztisch. Elise war klein für ihr Alter. So klein, dass sie sich in der Schule strecken musste, um an die Tafel zu gelangen. Außerdem war sie genauso schmächtig wie ihr Bruder. Selbst Samuel konnte sie problemlos herumtragen, da sie leicht wie eine Feder war.
»Dieses blöde Scheißding hatte wieder Ladehemmung.«
Frank warf die Waffe auf die abgewetzte Sitzgarnitur.
»Fluche nicht in Gegenwart der Kinder«, mahnte ihn seine Frau. Sie stellte einen Topf auf dem Esstisch und setzte sich neben ihren Gatten.
Samuel pflanzte sich neben seine Schwester und wartete darauf, ob sein Vater eine Diskussion mit seiner Mutter riskieren würde. Christina war eine überaus gläubige Frau. So wurde sie von ihrer Mutter erzogen, so würde sie auch ihre Kinder erziehen. Und irgendwann würde sie auch ihren Ehemann dazu bringen, sich an die Regeln des Erlösers zu halten.
»Der Junge war heute besser«, ignorierte Frank den Vorwurf seiner Frau, rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich zu seinen Kindern an den Tisch. »Ich werde ihn demnächst auf die Jagd mitnehmen.«
Samuel wagte keinen Widerspruch.
Er setzte ein Lächeln auf und griff beherzt nach der Kelle, um sich an den Kartoffeln zu bedienen.
»Junger Mann, was soll das werden?«, fragte seine Mutter energisch und klopfte Samuel auf den Handrücken.
»Wo bleiben deine Manieren? Zuerst das Tischgebet.«
Im Eifer hatte Samuel vergessen, dass es keine Mahlzeit ohne Tischgebet gab. Vor dem Einschlafen mussten Samuel und Elise das Vater-Unser beten. Und jeden Sonntag gingen sie zur Kirche. Wann immer es ihre Zeit zuließ, saß seine Mutter auf der verwitterten Veranda vor dem Haus im Schaukelstuhl und las in ihrer Bibel. Sie wippte dabei leicht auf und ab und summte ein Lied, das Samuel nicht kannte, ihn aber an den Gesang der Kirche erinnerte.
»Weil du mit deinem schändlichen Verhalten gleich was gut zu machen hast, wirst du das Tischgebet sprechen.«
Darauf hätte Samuel gerne verzichtet. Nachdem er seinen Vater glücklich gemacht hatte, wollte er jetzt nicht noch seine Mutter enttäuschen.
»Nun fang schon an, Sohn. Sonst wird noch alles kalt«, sagte sein Vater.
»Herr im Himmel«, begann Samuel zögerlich und faltete die Hände auf dem Tisch. Seine Stimmlage war nur unwesentlich tiefer als bei Elise. Noch zeigte die Pubertät keinerlei Anzeichen.
»Wir danken dir für die Speisen. Wir danken dir für den reichlich gedeckten Tisch. Und ich danke dir, dass du mich heute bei den Schießübungen unterstützt hast.« Er schielte zu seinem Vater, der ihm aufmunternd zuzwinkerte. Heute war wirklich ein guter Tag.
»Herr im Himmel«, fuhr er fort. »Hilf uns gegen diese dämlichen Kaninchen. Lass sie mich mit der Flinte jagen und von unseren Feldern vertreiben.«
»Mami! Er soll das nicht sagen«, schrie Elise vorwurfsvoll. Ihr Kopf hatte sich rot gefärbt und ihre Unterlippe hatte sie nach vorne geschoben.
»Jetzt ist es aber genug, Tochter!« Frank hatte sich drohend aufgerichtet und Samuel bereute sofort, seine Schwester gereizt zu haben. Er wusste, wie sehr sie die Tiere liebte und welchen Konflikt er damit heraufbeschwor.
»Herr im Himmel, wir danken dir«, wiederholte er daher schnell und schob das obligatorische »Amen« hinterher.
»Das hast du schön gesagt, Samuel. Und jetzt lasst es euch schmecken.«
Samuel und sein Vater stürzten sich auf die Speisen. Elise wartete geduldig mit gesenktem Blick. Erst als ihr ihre Mutter ein Stück Fleisch und eine kleine Kartoffel auf den Teller lud, griff sie zur Gabel und stocherte damit lustlos herum. Man merkte ihr an, dass ihr die Zurechtweisung ihres Vaters auf den Magen schlug. So gerne hätte sie ein Haustier gehabt. So gerne hätte sie mit den Kaninchen gespielt.
Das Abendessen verlief schweigsam. Keiner wollte ein Gespräch beginnen. Wohl auch aus Vorsicht, etwas Falsches zu sagen. Als Samuel seinen Teller geleert und seinen Magen gefüllt hatte, rutsche er unruhig auf dem Stuhl herum.
»Ihr könnt ruhig nach oben in euer Zimmer gehen«, forderte Christina die beiden Kinder auf. »Ich komme gleich nach und werde euch noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.«
Samuel seufzte, erwiderte aber nichts. Zumindest war er satt und er würde Mutters Geschichte über sich ergehen lassen. Wie jeden Abend. Wie jeden Tag. Mutter liebte die Geschichten aus der Bibel. Altes Testament. Neues Testament. Dem Weltuntergang.
Auch im Zimmer der Kinder war es drückend heiß. Samuel und Elise hatten sich in ihre Betten gelegt und die Decken weit von sich gestrampelt. Trotzdem schwitzte Samuel. Durch das offene Fenster kam kein Lüftchen. Vielmehr war es, als wollte sich die Hitze von draußen ins Innere fressen. Zu den Kindern. Und sie mit glühenden Zähnen verzehren.
»Worauf habt ihr heute Lust?«, fragte Christina, als sie ins Zimmer kam, sich einen Stuhl neben der Tür schnappte und diesen zwischen den beiden Betten platzierte.
Irgendwas mit Raumschiffen, dachte Samuel, wagte es aber nicht, seinen Wunsch auszusprechen. Er wusste sowieso, dass das keinen Sinn machen würde und dass seine Mutter auf Anekdoten aus ihrer geliebten Bibel bestehen würde. Auch Elise schwieg.
»Na dann überrasche ich euch mal.«
Eine Überraschung wäre zur Abwechslung echt mal nett.
»Ich erzähle euch eine Geschichte über Abraham und Isaak. Die kennt ihr noch nicht. Und die ist wahrlich sehr aufregend.« Christina begann zu flüstern, bewegte ihren Oberkörper ein wenig nach vorne und brachte sich näher an die beiden Kinder heran. Draußen war es bereits dunkel geworden. Die Nacht hatte sich längst gegen das Fenster gedrückt.
»Hört mir gut zu.«
Sie begann zu erzählen.
»Eines Tages wachte Abraham in seinem Bett auf. Er blickte sich zitternd um. Denn ihm war, als hätte er gerade die Stimme Gottes gehört. Diese Stimme war sehr eindringlich gewesen. Gott hatte ihm in seinem Traum aufgetragen, seinen Sohn Isaak zu opfern. Um seine Sünden durch ein Opfer abzuwaschen.«
Christina strich ihre rötlich blonden Haare hinter die Ohren und wischte sich mit der Handfläche über den Mund. Samuel hielt den Atem an. Er wollte eigentlich nichts mehr über Sünden und Opfer hören.
»Aber Abraham liebte seinen Sohn«, fuhr Christina flüsternd fort. Sie musste sich kurz räuspern.
»Obwohl er seinen Sohn liebte, war ihm klar, dass er für seine Sünden bezahlen musste. Er errichtete noch am selben Tag einen Altar.
"Aber Papa, wir haben doch gar kein Opfertier", sagte Isaak. Da band Abraham seinem Sohn Hände und Füße zusammen und legte ihn auf den Altar. Doch dann hörte Abraham erneut die Stimme Gottes…«
Samuel schloss die Augen. Er presste die Lider ganz fest aufeinander. Mit aller Gewalt blendete er die Stimme seiner Mutter aus, verbannte sie aus seinem Verstand. Und tatsächlich gelang es ihm mit der Zeit einzuschlafen.
Ein altes, hölzernes Schild vor einer ebenso alten, aber robusten Kirche mit einem hoch aufragenden Kirchturm verkündete das Thema der heutigen Predigt. Christina und Frank hatten für den Gottesdienst ihre besten Gewänder aus dem Schrank hervorgeholt. Der Kirchgang war Christina im wahrsten Sinne des Wortes heilig und wurde jeden Sonntag ausgiebig zelebriert. Die Kinder wurden ausgiebig gewaschen – auch in und hinter den Ohren. Danach frisiert. Fingernägel kontrolliert und gereinigt. Schuhe auf Hochglanz poliert. Für das Gotteshaus musste man sich ordentlich herausputzen. Hier duldete Christina keinerlei Kompromisse. Auf dem Parkplatz vor der Kirchen standen bereits drei weitere Karren, allesamt mit Staub bedeckt.
»Hallo Maisianer«, begrüßte sie eine vertraute Stimme.
Die Familie hatte nur wenig Kontakt zu ihren Nachbarn, von denen die meisten weit voneinander verstreut waren. Es war eben eine winzige Farmgemeinde, die nicht einmal auf einer Karte verzeichnet war, mitten im Nirgendwo. Wie alles andere in diesem Staat war sie von Maisfeldern umgeben. Lediglich William Miller stand Frank näher, da die beiden des Öfteren sich in der Kneipe des Dorfes trafen um einige Gläser zu leeren. Die Miller Farm stand schon seit unzähligen Generationen hier. Seine Familie hatte sich im Gegensatz zu vielen Anderen hier in der Gegend, auf den Anbau von Zuckerrüben spezialisiert.
»Morgen, Rübenschädel«, erwiderte Frank und reichte ihm die Hand, der daraufhin Christina mit einem Wangenküsschen und die Kinder mit einem Kopfkrauler bedachte, was Christinas Anstrengungen bezüglich der Frisuren von Samuel und Elise etwas zunichte machte.
Gemeinsam betraten sie die Kirche, begaben sich zur vordersten Bankreihe und setzten sich auf die harte Unterlage. Es war keine zwei Jahre her, da hatten sie sich hier von Williams Ehefrau Sandra verabschiedet. Sie war auf dem Rübenfeld unterwegs gewesen, um die Setzlinge zu prüfen. Und mit einem Schlag war sie umgefallen. Ihr Mann konnte ihr nicht mehr helfen.
»Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserm Herrn Jesus Christus.«
Pfarrer John stand neben dem hölzernen Altar, an dessen Spitze das Kreuz mit Jesus zu sehen war. Er war ein junger Pfarrer, der vor einem knappen Jahr in die Gemeinde gekommen war. Seine blauen Augen funkelten und sein Vollbart zuckte bei jedem Wort, das er mit seiner beruhigenden Stimmlage vortrug.
»Meine Brüder, je öfter ich eine Predigt über die Liebe halte, desto klarer sehe ich, wie ich selbst ein Schuldner der Liebe werde. Und ich weiß nicht, mit welchen Worten ich das Lob der Liebe verkünden soll, in der wir, solange wir in dieser Welt leben, durch gegenseitige Liebe so wachsen, wie wir durch Erweisen sie immerfort schulden müssen.«
Samuel drehte sich der Kopf. Er rutschte unruhig auf der harten Sitzfläche umher, was ihn einen genervten Blick seines Vaters einbrachte. Elise verhielt sich völlig ruhig und starrte den Pfarrer, als hätte sie noch nie zuvor einen Geistlichen gesehen.
»Wenn nämlich der heilige Paulus uns von allen Verpflichtungen freizusprechen befiehlt«, fuhr Pfarrer John fort, »wollte er uns nur durch die eine Pflicht der gegenseitigen Liebe stets gebunden wissen, da er sagt: „Bleibet keinem etwas schuldig, außer die gegenseitige Liebe!“ Dies ist der Inbegriff der apostolischen Lehre. Dies sind die Ratschläge väterlicher Liebe, dass wir keinem etwas schulden sollen als die gegenseitige Liebe.«
Ein Farmer, mit dem Samuel bislang noch nie ein Wort gewechselt hatte, erhob sich schwermütig. Es schien, als musste er sich sammeln, um die richtigen Worte zu finden.
»Bei so viel Lob und schönen Wörtern von ihnen Herr Pfarrer, muss ich das einfach einmal sagen. Auch wenn ich damit diesen Gottesdienst mit meinen Problemen stören werde.«
Samuel fröstelte. Die Stimme des Farmers hatte etwas Drängendes, etwas Unangenehmes. Außerdem fuchtelte er mit seinen Armen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Pfarrer John hielt sich an seinem Pult fest und Samuel bemerkte, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Im Gottesdienst darf doch jeder mal etwas sagen.« Die Stimme des Farmers wurde lauter. Gänsehaut breitete sich über Samuels Unterarme aus. Elise griff nach seiner Hand, als würde sie Schutz bei ihm suchen.
»Und ich muss das endlich einmal loswerden. Durch die große Trockenheit ist meine ganze Ernte verdorben. Erst letztes Jahr ist durch einen Sturm meine ganze Ernte verwüstet worden. Zwei Jahre hintereinander. Und ich bin ein wahrlich gläubiger Mann. Aber ich kann hier nicht Gott lieben und seine Schöpfung preisen, ohne daran zu denken, dass ich seit zwei Jahren keine sichere Existenz mehr habe. Dass ich nicht weiß, wovon ich leben soll, mich ernähren, neue Gerätschaften anschaffen, Saat zu kaufen. Soll das der Wille Gottes sein?«
Die eisblauen Augen des Priesters schienen den Farmer geradewegs durchbohren zu wollen. Dennoch blieb John ruhig, als er antwortete.
»Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Nicht aus sich selbst heraus, sondern wenn es als Geschenk Gottes verstanden wird. Entscheidend ist nicht, was ich esse, sondern mit welcher Haltung ich es tue. Und die angemessene Haltung ist Dankbarkeit. Und mit Dank meine ich, nichts als selbstverständlich zu betrachten, nicht als etwas, worauf ich Anspruch hätte, sondern als ein Geschenk, eine gute Gabe. Und es ist auch klar, wem ich danke. Gott ist der Geber aller guten Gaben.«
»Also soll ich die Dürre dankbar aus Gottes Hand nehmen?«, fragte der Farmer aufmüpfig.
»Vielleicht nicht für die schlechte Ernte. Aber dafür, dass wir trotzdem satt werden. Und möglicherweise neu gelernt haben, dass wir nicht unabhängig von der Schöpfung leben können, sondern nur als ein Teil von ihr«, entgegnete ihm der Priester. »Und wir dürfen niemals vergessen, wer uns in Versuchung führt.«
Samuel bemerkte, dass seine Mutter ihren Rücken durchstreckte. Ihre Unterlippe zitterte, als hätte sie der Angriff gegen IHREN Gott aufgewühlt. Hoffnungsvoll blickte sie zu Pfarrer John.
»Der Antichrist zeigt sich in vielerlei Gestalten. Er ist es, der das Leid zu uns bringt. Er ist es, der Gottes Werk zu vernichten versucht. Er ist es, der Zwietracht sät und Hass erntet.«
Christina nickte euphorisch. Pfarrer Johns Worte taten ihr gut und bestätigten ihren Glauben. Samuel hingegen war sich nicht sicher, was er von alledem halten konnte. War der Teufel mächtiger als Gott? Wie konnte er all das Leid verursachen, wenn Gott auf der Seite der Menschen stand? Wie hatte er Martins Frau sterben lassen können, wenn er Liebe bringen sollte? Letztlich war Samuel froh, dass die Predigt vorüber war. Langsam verließen alle die Kirche und sammelten sich auf dem Vorplatz.
»Schön, dass ihr an der Messe teilgenommen habt, Kinder.« Pfarrer John war an Samuel und Elise, die immer noch die Hand ihres Bruders hielt, in seiner Soutane herangetreten und vor ihnen in die Hocke gegangen. »Ich hoffe, dass es euch gefallen hat.«
Nein, gar nicht.
»Es war ganz toll«, mischte sich Christina ein.
»Falls ihr jemals meinen Beistand benötigen solltet, scheut euch nicht davor, mich aufzusuchen«, ignorierte John sie. Er schüttelte beiden Kindern die Hände und in Samuel verstärkte sich das Gefühl, das Angebot eines Tages annehmen zu müssen.
Christina fuhr mit den Kindern alleine nach Hause. Frank wollte noch mit William ein Gespräch führen. Ein Gespräch. So nannte er es. Sie wusste, dass dieses Gespräch in der Kneipe im Dorf stattfinden würde. Bei mehreren Gläsern Whisky als kommunikative Unterstützung. Als sie auf dem Hof ankamen, huschte Elise aus dem Auto und rannte in Richtung des Maisfeldes.
»Elli, komm zurück. Du musst noch das Sonntagsgewand ausziehen«, rief Christina ihrer Tochter hinterher, während Samuel die Tür zum Haus aufzog.
Das Türblatt quietschte in den Angeln und sofort strömte heiße Luft in dem Wohnraum. Samuel trat einen Schritt nach vorne und erstarrte. Sein Blick irrte zwischen den Holzdielen im Vorraum und dem offenen Fenster hin und her. Er konnte nicht glauben, was er sah. Vor ihm lag eine Spur aus dunkelbraunen Kügelchen um eine gelblichen Pfütze herum. Ein säuerlichen Geruch drang in seine Nase. Es war ekelhaft und er musste sich schütteln. Es musste Tatsächlich musste eines dieser Kreaturen es geschafft haben, ins Haus zu kommen.
»Mama«, stieß er aufgebracht hervor.
»Elli soll sofort kommen!«
»Was ist los?«, fragte sie besorgt.
»Sie soll sich diese Schweinerei anschauen«, antwortet der Junge.
und zeigte auf die Fäkalien. Seine Mutter warf einen Blick hinein.
»Sie ist hinüber zum Maisfeld gelaufen,« antwortete sie.
Samuel war drauf und dran, nach draußen zu stürmen. Doch seine Mutter hielt ihn zurück.
»Hilf mir zuerst, alles sauber zu machen.«
»Aber ich hätte ihr das gerne gezeigt.«
»Lass gut sein. Du wirst ihr die Liebe zu den Kaninchen nicht auf diese Weise austreiben können. Früher hattest du auch deinen Spaß mit den Fellknäueln. Und irgendwann hast du von alleine verstanden, dass es Schädlinge sind, die uns der Teufel geschickt hat. Ihr wird es eines Tages genauso gehen.«
Samuel zog zweifelnd die Augenbrauen in die Höhe.
»Schnapp dir Eimer und einen Lappen. Ich hole uns einen Besen.«
Für Christina war das Thema somit abgeschlossen. Doch Samuel sammelte einige von den Kotkugeln ein und stopfte sie in seine Hosentasche. Er würde sie Elise unter die Nase reiben. Irgendwann. Wann immer sie es nicht erwartete.
Danach holte er aus der Kammer die Putzsachen, wartete, bis seine Mutter den größten Schmutz aufgekehrt hatte und wischte dann den gesamten Boden auf. Da ihm so sehr ekelte, erweiterte er sein Vorhaben auf die gesamte Stube, den Eingangsbereich und den Treppenaufgang ins Obergeschoss. Danach säuberte er den Fensterrahmen und das Fensterbrett.
»Das hast du toll gemacht. Tu mir einen Gefallen und sieh nach deiner Schwester.«,trug ihn seine Mutter auf.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie lange ihn die Reinigungsarbeiten aufgehalten hatten. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Punkt verlassen, doch weigerte sie sich störrisch endlich unterzugehen.
Samuel ging von der hölzernen Veranda, auf dem Mamas Lieblingsstuhl leicht im Wind schaukelte, zum Maisfeld. Entlang des ausgetrockneten Wassergrabens, der sich um das Feld zog, entdeckte er seine Schwester. Elise saß am Rand des Feldes im Schneidersitz und machte leise Schnalzlaute, wobei sie die rechte Hand nach vorne ausstreckte und ihre Finger wie Feuerstöcke aneinander rieb.
»Was machst du da, Elli?«
»Pssst.«
Über das Feld hinweg hörte Samuel das Geräusch eines Motors. Wahrscheinlich brachte Martin gerade seinen Vater auf die Farm zurück.
»Du darfst sie nicht erschrecken.«
Unbewusst nahm Samuel einen gebückte Haltung an und schlich auf seine Schwester zu.
»Sie sind schon ganz nah«, sagte sie.
In ihrem Gesicht lag ein verzückter Ausdruck, als würde sie gerade mit ihrer Lieblings Puppe spielen.
Aus der Ferne hörte der Junge den Ruf seines Vaters. Doch die Rufe wurden vom hereinbrechendem Rascheln des Maisfeldes verschluckt. Dieses Rascheln klang, als würde Regen fallen. Da bemerkte der Junge schlagartig, dass er sich kaum noch an den Geschmack des Regens erinnern konnte. Keine vier Fuß von Elise entfernt tauchten zwei Kaninchen zwischen den Maispflanzen auf und fingen an, sich mit den Vorderpfoten über die Ohren zu streichen. Das glänzend weiße Fell der Tiere war auf den ersten Blick makellos sauber.
»Ich glaube, ich komme an sie heran.«
»Nein, du sollst die Kaninchen doch nicht anfassen«, protestierte ihr Bruder.
Bevor das Mädchen eines der Tiere berühren konnte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Keine Armlänge von Elise entfernt platzte die Erde auf und schleuderte den Kindern Dreck ins Gesicht. Die beiden Kaninchen stoben auseinander und verschwanden in dem Maisfeld. Ihr Vater eilte mit hochrotem Schädel zu ihnen. In der einen Hand hielt er die Flinte. Die andere hatte er zu einer Faust gepresst.
»Was macht ihr Gören da? Wollt ihr diese verdammten Viecher auch noch heranzüchten?«
Er schwankte leicht und fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Samuel konnte nicht glauben, dass er tatsächlich auf sie geschossen hatte. Er packte seine Schwester am Oberarm, zerrte sie hoch und rannte mit ihr in Richtung des kleinen Waldstückes, das an das Maisfeld angrenzte.
»Wo wollt ihr jetzt hin? Bleibt sofort stehen.«, rief Frank ihnen hinterher.
Am klügsten wäre es gewesen stehen zu bleiben und auf ihren alten Herren zu hören. Aber ihr Vater klang jetzt gerade nicht wie die Stimme der Vernunft, deswegen liefen sie weiter. Er würde es bestimmt nicht wagen, nochmals auf sie zu schießen. Die Kinder mussten ihm nur so lange aus dem Weg gehen, bis er wieder klar bei Verstand war. Und Samuel wusste hierfür das perfekte Versteck.
So liefen sie nun in den Wald hinein, sprangen über einige umgestürzte Bäume, verwitterte Stümpfe und wichen geschickt einem Feld Brennnesseln aus. Das Gras war braun und verdorrt, selbst die Bäume ließen ihre Äste herabhängen. Auch sie hatten Genug von der Hitze. Die Kinder erreichten eine kleine Hütte, die nur aus zwei losen Brettern und einem Dach bestand. Hier verbrachte Samuel viel Zeit mit seiner Science-Fiction Sammlung, die den Namen Amazing Stories trugen. Seine Mutter würde ihm nie erlauben über Roboter oder ferne Planeten zu lesen. Oder gar darüber zu fantasieren. Schriftsteller wie Isaac Asimov oder Ray Bradbury hielten sich selten an die Regeln oder Überzeugungen der Bibel. Und ganz sicher wäre sie nicht über die Magazine mit den nackten Weibern erfreut, die er seinem Vater entwendet hatte.
»Ich wollte Papa nicht verärgern«, stieß es aus Elise hervor. Tränen liefen ihr dabei über die geröteten Wangen. Samuel empfand nun Mitleid mit ihr. Seine Standpauke über die Kaninchen war bei dem Anblick seiner traurigen Schwester schnell vergessen.
»Hast du es gespürt?«, fragte er sie ganz aufgeregt.
»Was gespürt?«
»Wir sind gerade mit annähernder Lichtgeschwindigkeit über das Feld gelaufen«
»Lichtgeschwindigkeit?«, fragte sie erstaunt.
»Weißt du etwa nicht, was Lichtgeschwindigkeit ist?«
»Nein«, bedauerte sie.
»Ich glaube du bist jetzt schon groß genug, um eine Geschichte über fliegende Untertassen zu hören. Aber das muss unter uns bleiben. Unser kleines Geheimnis. Verstanden?«
»Verstanden«, sagte sie.
Mit einem Finger wischte er ihre Tränen ab.
»Ok. Aber ich muss dich aber warnen, solche Dinge kommen in Mutters Geschichten nicht vor«, gab er ihr zu verstehen.
Samuel zog einen Karton, der unter Blättern versteckt war, hervor und öffnete ihn. Kleine Käfer krochen über den Deckel und verschwanden in der Dunkelheit.
Er nahm vorsichtig ein Magazin heraus, das einen Roboter zeigte der gerade dabei war, eine blonde vollbusige Frau in ein Raumschiff zu entführen. Der Junge blätterte durch die von der Sonne vergilbten Seiten. Seine Augen fingen zu strahlen an, als er anfing ihr eine Geschichte darin vorzulesen. Aufmerksam lauschte sie seinen Stimmen. Ihr Bruder bemühte sich und verstellte an spannende Stellen sogar seine Stimmen.
»Ich habe deine Geschichten mit den Antrotauten gern.«
»Astronauten, Elli. Ich habe sie auch gerne. Und ich habe dich gerne. Auch wenn du immer mit diesen dämlichen Karnickeln spielen musst.«
Sie blätterten gemeinsam noch eine Weile in den Magazinen, bis es zu dunkel wurde um noch etwas erkennen zu können. Samuel packte alles in die Schachtel zurück und verdeckte sie wieder mit den Blättern.
»Lass uns nach Hause gehen. Ich habe großen Hunger bekommen.«
Auch Elise knurrte der Magen. Sie hatten beide noch kein Abendbrot. Und Mutter hätte wahrscheinlich alle Hände voll zu tun, um ihren angetrunkenen Ehemann zu beschäftigen. Die Kinder verließen das Versteck im Wald, schlichen in gebückter Haltung entlang des Maisfeldes zum Haus zurück und betraten vorsichtig die Veranda. Der Mond stand bereits hoch am Himmel und warf ein fahles Licht auf die morschen Bretter. Als Samuel einen Schritt in Richtung Haustüre machte, knarrte eine der Dielen so laut, dass es ihn an den Gewehrschuss erinnerte. Erschrocken zuckte er zusammen und ging in die Hocke. Ängstlich blickte er um sich. Auch Elise hatte sich zu einem kleinen Häufchen zusammengerollt. Ihr Vater würde jeden Moment aus dem Haus stürmen. Sie hatten ihn verärgert und er würde Sie ihre Wut spüren lassen. Zuerst würde er mit seinem alkoholgeschwängertem Atem herumbrüllen. Dann würde er sie packen und ihnen eine Tracht Prügel verpassen. Samuel hielt seinen Atem an. Doch nichts von alldem geschah. Im Haus herrschte weiterhin Stille. Das einzige Geräusch war das Rascheln der Blätter im Maisfeld, und irgendwo stieß eine Eule ihren unverkennbaren Ruf aus. Nichts zu hören von ihrem Vater. Samuel musste erleichternd ausatmen. Nachdem die beiden Kinder vorsichtshalber noch eine Minute verstreichen ließen, krochen sie nun auf allen Vieren zur Haustür. Sie achteten darauf, ihr Körpergewicht möglichst gleichmäßig auf den Brettern zu verteilen um die Holzdielen zu entlasten. Sie durften keine lauten Geräusche mehr machen. Sie durften ihr Glück nicht herausfordern. Vorsichtig griff Samuel zum Türknauf und drehte ihn. Leise schwang die Türe nach innen auf. Heiße Luft kam ihnen entgegen, doch von Frank fehlte jede Spur. Sie lauschten. Sie hörten ihre Eltern nicht. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch den Vorraum am Wohnraum vorbei in Richtung Küche. Samuels Magen meldete sich grummelnd. Sie brauchten vor dem Bettgehen unbedingt noch eine kleine Mahlzeit. Sonst würden sie nicht schlafen können. Er ging zur Brotlade und fand darin einen halben Wecken, den er sich mit Elise teilen würde. Gerade als er sich umdrehte, um seiner Schwester den schmackhaften Fund zu zeigen, erstarrte er. Aus dem Wohnraum zog sich ein langer, bedrohlicher Schatten in die Küche. Beinahe hätte Samuel aufgeschrien. Sein Vater war doch noch gekommen. Er hatte sie entdeckt. Jetzt müssten sie mit den Konsequenzen leben. Wären sie doch gleich in ihr Zimmer gegangen. Hungrig aber sicher. Beinahe hätte Samuel einen Entschuldigung gemurmelt, als ihm bewusst wurde, dass sich der Schatten nicht bewegte. Das Mondlicht hatte aus dem Kleiderständer das erschreckende Abbild geschaffen. Wahrscheinlich lag Frank schon lange im Bett und schlief seinen Rausch aus. Mit klopfendem Herzen griff Samuel nach der Hand seiner Schwester und ging mit ihr ins Obergeschoss. Als sie endlich im Bett lagen, wagte er es wieder, durchzuatmen. Einige Zeit später schliefen die Beiden endlich ein.
Als Samuel aufwachte, war seine Schwester bereits aufgestanden. Der Junge ging nach unten. Sein Vater hatte Ringe unter den Augen, begrüßte ihn jedoch freundlich. Er hatte heute überaus gute Laune und Samuel wusste auch weswegen. Heute war der große Tag. Es war Erntezeit. Zeit um Geld zu verdienen. Elise schmatzte genüsslich an ihrem Toast und leckte die Marmelade herunter. Mutter trank draußen im Schaukelstuhl Kaffee, der so bitter roch, dass sich bei Samuel die Fingernägel aufstellten. Sie sprach heute Morgen nur wenig, doch die Stimmung war heiter. Erleichtert setzte sich Samuel zum Esstisch und griff ebenfalls nach einem Toastbrot.
»Fertig!« Elise strahlte.
»Ich mag hinaus.«
»Geh ruhig«, sagte Frank und wuschelte Elise durch ihren blonden Haarschopf, der noch in alle Richtungen abstand. Daraufhin eilte sie aus dem Haus. Frank blickte ihr hinterher. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Fast sorglos und ohne Kummer. Es war das letzte Mal, das er seinen Vater lächeln sah.
Christina schloss die Bibel und warf ihren Kopf etwas zurück. Schweiß tropfte dabei von der Stirn. Sie versuchte sich zu erinnern, ob es jemals im Herbst so heiß gewesen war. Bei dieser Hitze fällt einem nichts leicht. Alles kostete Überwindung, selbst das Lesen. Sie stellte den Kaffeebecher ab und legte das Buch zur Seite. Christina öffnete die Fliegengittertür, um nach draußen zu gehen. Der Wind trocknete ihr feuchtes Gesicht. Die Frau mochte den Wind, doch ihr Mann Frank bekam davon Kopfschmerzen. Ein leichtes Ziehen, das sich in ein heftiges Klopfen verwandeln konnte.
Elise spielte draußen im Feld. Ihre blonden Löckchen sah man hin und wieder an den Maiskolben vorbei hüpfen. Das Mädchen war klein. So klein, dass sie sich strecken musste, um an der Tafel in der Schule schreiben zu können. Dafür konnte sie schneller laufen als andere Kinder in ihrem Alter. Sie lief durch das Feld und jagte einem Hasen hinterher. So wie sie es fast täglich machte. Ihr wurde dabei niemals langweilig. Sie war sich sicher, dass ihr eines Tages es gelingen würde eines zu fangen. Dann würde sie es streicheln und knuddeln. Dabei machte sie sich keine Gedanken über Krankheiten, die diese Tiere verbreiten könnten. Über Läuse, Zecken oder ähnliches Ungetier. Für sie waren es Plüschtiere, die sie lieb haben wollte. So wie dieses eine mit der braun-weißen Färbung, das vor ihr Reißaus nahm. Geschwind bog es um die Maisähren, sprang über winzige Gräben und Erdhaufen. Plötzlich blieb das Kaninchen unerwartet stehen. Es sah das Mädchen unbekümmert an, als wollte es die Jagd beenden und sich von ihr streicheln lassen. Elise unterdrückte ein Kichern. Der Hase dürfte müde geworden sein. Endlich würde sie das Plüschtier zu packen bekommen. Vorsichtig ging sie in die Knie, spürte die trockene Erde auf ihrer Haut. Zögerlich streckte sie ihre Hand dem Tier entgegen. Sie spreizte die Finger, konzentrierte sich voll und ganz auf das flauschige Fell. Elise vergaß alles um sie herum. Es gab nur noch sie und das Kaninchen. Immer weiter tastete sie sich voran. Sie war schon ganz nah. Doch anstelle des weichen Fells berührten ihre Finger die scharfen glänzende Klingen des Mähdreschers. Es erklang ein Schrei. Kein Schrei eines Kindes. Es war der verzweifelte Schrei eines Erwachsenen.
Frank brauchte einen ganzen Nachmittag, um in der trockenen, harten Erde das Grab auszuheben. Die gleißende Sonne verbrannte ihm den Nacken. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Seine Kehle war ausgedörrt und seine Zunge fühlte sich wie eine vertrocknete Nacktschnecke an. Es war ihm egal. Es war ihm alles egal. Die Erde türmte er an den Seiten auf. Aufgrund der Trockenheit waren nicht einmal Würmer darin. Würmer die sich über das Fleisch hermachen und es in neuerliche Erde verwandeln würden. Lebloses Fleisch. Leblose Erde. Auch aus Frank schien jegliches Leben gewichen zu sein. Neben ihm stand seine Frau Christine und weinte unaufhörlich. Am liebsten hätte er sie angebrüllt. Am liebsten wäre er davon gerannt. Und nie wieder zurückgekommen. Samuel weinte schon längst nicht mehr. Er hatte all seine Tränen vergossen. Frank ließ den Spaten fallen, ließ sich mit beiden Knien auf den Boden fallen und griff nach der einfach gezimmerten Holzkiste. Der Sarg war kaum einen Meter dreißig lang. Er war weder aufwändig verziert noch dekoriert. Das Grab lag am Grundstück hinter der Scheune. Dort, wo Frank und Samuel das Schießen geübt hatten. Dort wo Samuel mit seiner Schwester Verstecken spielte. Nie wieder würde er mit Elise spielen. Sie lag in dieser Kiste. Zerfetzt. Zerrissen. Tot.
Der Sarg war kaum einen Meter dreißig lang. Die Familie bestattete ihr Kind am Grundstück hinter der Scheune unter einem Baum. Im Sommer duftete es hier immer nach Äpfeln. Schwermütig richtete der Vater seine Augen auf den Sarg, der neben dem offenen Grab stand. Darin war seine Tochter. Zumindest alles, was von ihr übrig war. In ein paar Minuten würde sie in die Erde hinuntergelassen werden. Dann ist sie für immer fort. Lautlos zerriss sein Herz noch ein wenig mehr. Der Wind schlug getrocknete Blätter gegen den Sarg. Dieses Geräusch ließ ihm unweigerlich an den Mähdrescher denken. An das Geräusch, als sich die Klingen in das Fleisch seiner Tochter gruben. Dabei musste Frank sich übergeben. Als die Predigt beendet war, schüttete der Prediger eine Handvoll Erde auf den Sarg. Das Loch wurde zugeschüttet und es war vorbei. Erde zu Erde und Staub zu Staub. Nach der Trauerfeier blieb seine Frau noch eine Zeit lang auf der Veranda sitzen. Ihr Haar war ungekämmt und ungewaschen. Ihre Augen leer. Christina saß nur da und starrte auf ein Foto ihrer Tochter. Dabei sprach sie etwas Unverständliches zu sich selbst. Das letzte Wort war ein Würgen. Einen Augenblick später schluchzte sie in ihre vorgehaltenen Hände.
Tage der Trauer und der Wut vergingen. Oder waren es Wochen? Zeit schien keine Bedeutung mehr zu haben. Vergesst nüchterne Bemerkungen von Therapeuten oder Psychiatern über seelische Qualen und den Prozess der Trauer. Gerede. Alles nur Gerede. Es kam der Moment, kurz aber doch ausreichend, wo selbst Christina vom Glauben abfiel. Auf die Gefahr hin, auf der schwarzen Liste des Himmels zu landen, verfluchte sie Gott, seinen Sohn und alles was sich dort oben herumtrieb. Doch dem Sog der Bibel konnte sie nicht lange standhalten. Es schien kein Entkommen zu geben und bald befand sich das Buch wieder an seinem gewohnten Platz. Aufgeschlagen in ihrem Schoß.
Nur ein flackerndes Fernsehlicht, aus einem Fenster im oberen Stockwerk, erhellte etwas die abblätternde Fassade des viktorianischen Bauernhauses. Es wirkte fast friedlich. Die Mutter säuberte das Geschirr in der Spüle, wobei Dampf aufstieg. In der Küche, wie im restlichen Haus, hatte sich seit Generationen nichts verändert. Abblätternde Tapeten, dunkle Möbel, alte Porzellanpuppen saßen auf den Regalen. Familienporträts aus den 20er und 30er Jahren, hingen an den Wänden. Ein uralter Geruch durchzog das Haus, der Geruch von Fliegenpapier, Kaffee und Tabak. Frank betrat die Veranda, der Schaukelstuhl knarrte als er sich setzte. Draußen schien sich die Hitze etwas zu legen. Obwohl alle Fenster offen standen, war es im Haus noch unerträglich heiß. Als würde man in einem Backofen leben, der nur langsam abkühlte. Er blickte hinauf in die Nacht zu den funkelnden Sternen. Der Mond wurde von einer schmalen, dunklen Wolke zerschnitten. Die Titelmelodie von „The Real McCoys“ erklang. Es war die Lieblingssendung der Familie. Seine Frau liebte, neben ihrer Familie, zwei Dinge auf dieser Welt. Die Bibel und den Humor von Walter Brennan. Gott führte die Liste zwar ungeschlagen an, schielte aber sicherlich mit strengem Blick zu Mr. Brennan. Frank lauschte und versuchte herauszufinden, worüber sich das Publikum amüsierte. Dabei hörte er ein leises Rascheln des Mais. Allerdings wehte kein Wind. Vielleicht war einfach zu hören, wie der Mais wuchs. Wie er zu einer Mauer wurde, die seine Farm von der Welt abriegeln würde. Dann sah er die Maiskolben. Sie fingen an, sich hin und her zu bewegen. Das Rascheln klang dabei, als würde etwas flüstern. Frank trank den letzten Tropfen aus seiner Whiskey Flasche. Das Flüstern wurde lauter. Etwas schien im Feld zu sein. Etwas, das im Mais lauerte.
»Ist hier jemand?«
Die Bewegungen hörten auf. Natürlich kam keine Antwort. Wer auch immer dort war, würde seine Gegenwart nicht verraten. Frank versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
»Wenn hier jemand ist, sollte er sich verdammt nochmal aufmachen und von hier verschwinden. Ich habe eine geladene Schrotflinte und bin bereit, sie zu benutzen.«
Die Waffe war einen Scheißdreck wert. Klar, man konnte sie noch abfeuern, aber die Kugeln scherten sich nicht darum, wohin er zielte. Im Feld fing es erneut an, zu rascheln. Der Eindringling bewegte sich in Franks Richtung. Unaufhaltsam bahnte er sich seinen Weg durch den Mais, bis er kurz vor dem Ende des Felds anhielt. Frank stand auf. Ängstlich starrte er ins Feld.
Ein Kaninchen sprang hervor. Blut klebte auf dem weißen Fell des Tieres. Frank erschrak und machte einen Schritt zurück. Sein Atem wurde schneller und zugleich flacher. Fast stolperte er über den Schaukelstuhl. War es Elises Blut?
»Nein«, flüsterte er zu sich selbst.
Der Gedanke war einfach unerträglich. Seine Hand ballte sich zu einer Faust.
»Verschwinde.«
Frank warf die ausgetrunkene Flasche nach dem Kaninchen. Das Tier blieb unbeeindruckt, als die Flasche neben ihm auf dem Boden landete. Ein weiteres Kaninchen kam aus dem Maisfeld hervor. Dann noch eines. Einen Moment später waren es unzählige. Sie rührten sich nicht. Starrten ihn nur mit dunklen Augen an. Sie wirkten wie ein unheimliches Geschworenengericht. Bereit ihr Urteil zu fällen. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Frank hatte Angst, eine so tief sitzende Angst, dass er sie sich selbst gegenüber kaum einzugestehen wagte. Nachdem er ins Haus flüchtete, verriegelte er zum ersten Mal in seinem Leben die Tür.
Es kam die Dämmerung, aber es kam kein Tag. Am Himmel erschien eine rote Scheibe und ihr Licht schien auf der Haut zu stechen. An solchen Tagen verließen selbst die Tiere nicht den Schatten. Die Sonne brannte herab auf den wachsenden Mais, bis die grünen Speere an den Rändern braune Streifen bekamen. Wolken tauchten auf und verschwanden wieder. Nach endlosen Stunden kam wieder die Dunkelheit, und der Wind heulte über das Feld hinweg. Frank lag im Bett, seine Stirn und Wangen waren heiß, sein Atem ging schwer und langsam. Seine Frau fand, er sah ganz verfallen aus. Sie nahm einen kalten Waschlappen und wischte ihm das Gesicht ab. Christina stellte etwas zu essen auf den Nachttisch, ging nach unten ins Wohnzimmer und schaltete den Schwarzweißfernseher an. Sie wollte sich ablenken, denn an Schlaf war sowieso nicht zu denken. Frank wachte erschrocken auf. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Möglicherweise waren es die Kopfschmerzen gewesen, die wieder durch seine Schläfen pochten. Vielleicht etwas anderes. Er sah sich um, er war alleine. Seine Frau lag nicht wie üblich neben ihm. Und doch spürte er eine Präsenz im Zimmer. Langsam richtete er sich auf, versuchte etwas in der Dunkelheit erkennen zu können. Dann hörte er es. Ein Rascheln. Es klang, als sei ihm der Mais ins Zimmer gefolgt. Kamen die Geräusche doch von draußen? War es das Feld, das sich im leichten Wind bewegte? Litt er an Wahnvorstellungen oder hatte ihn der übermäßige Alkoholkonsum mürbe gemacht? Er versuchte, sich zu beruhigen. Dennoch dauerte es eine Zeitlang, bis er wieder einschlief.
Er schlief bis zum Nachmittag, wachte verschwitzt auf und fühlte sich ein klein wenig besser. Draußen tobte ein Gewitter, er konnte den Donner nicht hören, sah aber in der Ferne die Blitze. Die Dielen knackten unter seinen Beinen wie Eis. Alles im Haus wirkte alt und verbraucht. So wie Frank selbst. Er setzte sich zu dem Esstisch und strich sich seine verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Eine Tasse Kaffee stand für ihn bereit. Draußen herrschte weiterhin eine unnachgiebige Hitze. Die letzte Nacht hatte ihm solche Angst gemacht, dass er nicht darüber sprechen konnte. Er trank den Kaffee aus und sagte sich, dass es am Alkohol liegen würde. Genügend davon, gepaart mit Schuldgefühlen, konnte sicherlich zu merkwürdigen Gedanken führen. Der Alkohol war nicht die Lösung gegen die Trauer. Aber er gewährte ihm eine kurze Atempause. Vielleicht erreichte er gerade einen Punkt, an dem seine geistige Gesundheit zusammenbrach. Schwermütig griff er sich an seinen Kopf. Da waren wieder diese grauenhaften Kopfschmerzen. Es war alles meine Schuld. Ich will sterben, dachte er sich. Die Worte hallten seltsam durch seinen Verstand, was ihn in dem Glauben wiegte, er hätte sie laut ausgesprochen. Erschrocken betrachtete er seine Frau. Sie schien unbekümmert zu sein, saß wie immer mit der Bibel in der Hand und las. Ganz sicher konnte sie inzwischen die Passagen darin auswendig. Seit Tagen sprach sie nichts mehr. Er nahm es hin. Wollte sie zu nichts drängen. Es war ihre Art der Trauerbewältigung. Er hoffte, dass seine geliebte Frau in diesem Buch Trost fand. Oder wenigstens die Antworten, nach der sie so fieberhaft zu suchen schien. Frank ging nach draußen, die Hühner mussten schließlich gefüttert werden. Sein Blick wanderte nach oben. Die dunklen Wolken lasteten schwer über dem Maisfeld, doch das angekündigte Gewitter blieb aus.
Samuels Mutter starrte in die Bibel, die von der anhaltenden Hitze langsam auseinander fiel. Immer öfter saß sie den Tag über regungslos in ihrem geliebten Schaukelstuhl und klammerte sich an das Buch. Undeutlich, nicht mehr als ein Flüstern, wiederholte sie dieselben Wörter. Das Kind versuchte seine Mutter zu verstehen und rückte näher an sie heran.
»Nicht zu Hause…«, sagte sie.
Ihre Worte zitterten in ihrer Kehle. Als hätten die Worte Angst. Angst davor ausgesprochen zu werden. Samuel runzelte die Stirn. Was meinte sie mit nicht zu Hause? Etwa seine Schwester? Dass sie nicht mehr heimgekommen war? Samuel holte tief Luft. Er hätte alles dafür gegeben, selbst sein erspartes Taschengeld, wenn seine Mutter mit ihm sprechen würde. Und sei es lediglich für einen Augenblick.
Samuel brauchte mit dem Fahrrad fünfundzwanzig Minuten zur Kirche. Der Priester hatte ihm bei der Messe angeboten, für ihn da zu sein. Ihm zu helfen. Wenn er jetzt mit ihm über seine Mutter reden könnte, würde ihn der Gottesmann sicherlich nach Hause begleiten. Er würde wissen, was zu tun war. Er würde seiner Mutter die Hand auflegen. Oder irgend so ein heiliges Ding halt. Jedenfalls ihr beistehen, in irgendeiner Art und Weise, wie es sein Vater gerade nicht konnte. Dann würde alles wieder gut werden. Irgendwie.
Vielleicht würde ihm der Priester sogar sagen, dass es nicht seine Schuld war. Schuld am Tod seiner Schwester zu haben. Er fühlte diese Schuld. Sie lastete schwer auf ihm. Warum musste er sie wegen der seelenlosen Geschöpfe so aufziehen? Was hatte er davon? Nichts. Außer Kummer und Leid.
Samuel fuhr die Hauptstraße entlang, am Maisfeld vorbei nach Osten. Nach ein paar Kilometern erblickte er ein waberndes Etwas. Gleichzeitig erhob sich ein leichter Wind. Nur eine schwache Brise, aber ausreichend, dass sie den schweren, ekelerregenden Geruch von Verwesung zu ihm trug. Das sich bewegende Etwas entpuppte sich als ein kleines Mädchen. Sie war barfuß und trug ein schmutziges blaues Kleid. Das Mädchen stand am Wegesrand, dabei stocherte sie mit einem Stock in etwas, das am Boden lag. Samuel blieb mit dem Fahrrad vor ihr stehen. Ihr rotes, struppiges Haar sah aus wie ein brennender Busch.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie ohne ihn anzusehen.
Der Junge stieg von seinem Fahrrad ab und schritt bedächtig durch den staubigen Boden. Als er sich dem Mädchen näherte, bemerkte er, dass es sich um einen Hund, oder was davon übrig war, handelte. Das Mädchen stach weiter mit dem Stock auf den Kadaver ein.
»Es stinkt wie ein alter Furz, ist aber schon tot«, sagte sie.
»War das dein Hund?«, fragte Samuel.
»Oh nein. Aber ich bin mir sicher, ein Kind wird ihn vermissen.«
»Das ist traurig.«
»Meine Mama sagt immer, wenn schlimme Dinge passieren, betet der Teufel.«
Samuel dachte über die Worte des Mädchens nach.
»Dann betet der Teufel viel in letzter Zeit«, sagte er.
Das Mädchen rieb sich kichernd die Schienbeine.
»Ja, das tut er.«
Sie neigte ihren Kopf und reichte ihm den Stock.
»Möchtest du es mal versuchen?«
Jetzt bemerkte Samuel, dass dem Mädchen ein Auge fehlte. Die Haut spannte sich dünn über den Knochen und war ganz dunkel. Wie abgestorben. Samuel musste an einen Totenschädel denken und beinahe hätt er sich abgewandt.
»Was ist mit deinem Auge passiert?«, ignorierte er ihre Frage und ließ seine Neugierde obsiegen.
Das Mädchen berührte den Rand der Augenhöhle mit den Fingerspitzen. Ihre Fingernägel waren gelblich und abgekaut. Das Fleisch rund herum war aufgescheuert und schmutzig. Als hätte sie in der Erde gegraben. Vorsichtig drückte sie einen Finger hinein. Am liebsten hätte Samuel aufgeschrien und es ihr verboten.
»Ich hatte ein Glasauge. Irgendwo unterwegs habe ich es wohl verloren.«
Sie holte tief Luft und stach weiter auf den toten Hund ein. Mittlerweile hatte sich der Schädel des Kadavers vom Rumpf gelöst und war in eine Senke gerollt.
»Kannst du mit einem Auge überhaupt den Weg richtig sehen?«, fragte er.
»Ich brauche ihn nicht zu sehen, wenn ich ihn kenne. Egal was ich tue, der Weg ändert sich nicht.«
Der Junge hob sein Fahrrad hoch und setzte sich darauf.
»Wohin fährst du?«, fragte sie.
»Zur Kirche, ich suche den Priester.«
»Einen Priester habe ich hier schon länger nicht mehr gesehen. Obwohl immer wieder mal einer von denen sich hierher verirrt. Aber was gibt es auch schon groß zu predigen? Ist doch eh alles klar. Wort und Fleisch. Mehr gibt es nicht.«
»Meiner Mutter geht es nicht besonders gut. Der Priester kann ihr vielleicht helfen. Das tun sie doch, sie helfen wenn jemand aus der Herde Hilfe benötigt.«
»Das sagen sie immer. Nicht wahr? Aber darf ich dir ein kleines Geheimnis verraten?«
Samuel nickte.
»Ein Hirte ist nichts weiter als der Schlächter des Lammes.«
Als die Sonne den Horizont berührte und ihn in ein rötliches Gold tauchte, erreichte Samuel die Kirche. Er lehnte das Fahrrad an einen verfallenen Zaun und eilte zu der Pforte. Der Junge klopfte an das Holztor. Der Pfarrer würde ihn sicher hören. Er würde mit ihm zurück zum Farmhaus gehen. Dann würde alles gut werden. Immer fester hämmerte der Junge an die Tür. Die Schläge des Jungen hallten über den Vorplatz. Doch niemand öffnete ihm. Das Gotteshaus blieb dunkel und verschlossen. Samuel sah sich um und umrundete das Gebäude, ging den morschen Holzzaun entlang, der das Grundstück von einem Maisfeld trennte. Nirgendwo brannte Licht und der bereits hoch stehende Mais warf Schatten über das Gelände. Wie Finger reckten sich die Schatten in Samuels Richtung. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wenige Schritte vor Samuel sprang ein Kaninchen aus dem Maisfeld und baute sich vor ihm auf. Das Tier legte den Kopf schief und schien ihn regelrecht zu mustern. Das Kaninchen wirkte sprungbereit. Samuel war sich sicher, die messerscharfen Schneidezähne im Mondschein funkeln zu sehen. Falls das Tier auf ihn losgehen würde, würde es ihn mit Sicherheit beißen. Womöglich hatte es sogar die Tollwut? Samuel machte auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zu seinem Fahrrad. Als er sich umdrehte, hoppelten weitere Kaninchen auf ihm zu. Immer mehr sprangen aus dem Feld. Wie die Gischt einer Welle fluteten die Hasen den Vorplatz der Kirche. Samuel schwang sich auf sein Fahrrad und trat die Pedale durch. Schotter spritzte auf, als er den Kirchplatz verließ. Er wagte es nicht, sich nochmals umzudrehen.
Es war bereits dunkel und die Nacht hatte die Welt verschlungen als Samuel nach Hause kam. Er stieg von seinem Fahrrad ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Kind blickte sich um. Keine Kaninchen. Kein Rascheln der Felder. Entweder hatten die Kreaturen ihn nicht verfolgt, oder es war ihm gelungen, sie abzuschütteln. Ein Schauder überlief den Jungen. Was war das bloß? Noch nie in seinem Leben hatte er so viele Kaninchen gesehen. Das war mehr als nur eine Plage. Es war eine Invasion.
Das klang zu fantastisch, etwas das nur in Science Fiction Geschichten vorkommen konnte. Ging seine Fantasie etwa mit ihm durch? Hatte er sich das nur eingebildet? Die Vorstellungskraft eines Kindes konnte einem sicherlich schon einmal einen Streich spielen. Samuel schaute sich um. Das Obergeschoss mit Elises verlassenem Zimmer lastete wie eine drückende Präsenz über dem Haus. Seine Schwester würde heute nicht zum Abendessen nach Hause kommen. Sie würde nie wieder nach Hause kommen. Er trat zur Fliegengittertür und sah seinen Vater an der Scheune. Der Junge verharrte eine Minute lang an der Tür und überlegte, zu ihm zu gehen. Doch die Angst, dass er wieder zu viel getrunken hatte, hielt ihn schließlich davon ab. Samuel stieg die Stufen hoch, ging in sein Zimmer, zog seinen Pyjama an und huschte ohne das übliche Abendbrot ins Bett. Er löschte das Licht und starrte in die Dunkelheit hinaus. Draußen konnte er eine Gestalt durch das Mondlicht huschen sehen. Er wusste, dass es sein Vater war. Von draußen war kein Laut zu hören, abgesehen vom leisen Rascheln der Maisfelder.
Frank ging zur Scheune. Er öffnete eine Holzkiste und griff nach der letzten Flasche Whiskey. Mit dieser setzte er sich unter einem Apfelbaum. Er öffnete sie und trank einen kräftigen Schluck daraus. Wenn er wenigstens daran ertrinken könnte. Ertrinken an der Flasche. Wäre nicht der schlimmste Selbstmord. Wer konnte ihm einen Vorwurf machen, dass er sich mit solchen Gedanken herumschlug? Was zum Teufel sollte er jetzt machen? Er trank die Flasche aus und fing die Nächste an, zwang sich aber, langsamer zu trinken, damit sie länger reichte. Das Tageslicht begann zu sterben. Es wurde dunkel. Der Mond flackerte durch die Äste. Und die Sterne waren, wie Traurigkeit und Freude so dicht beisammen. Sein ganzes Leben lang hatte er in diesen Nachthimmel geblickt. Aber an diesem Abend sahen all die Dinge da oben anders aus. Er hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt sah er es. Irgendetwas war anders. Etwas lag in der Luft. Er konnte es fühlen. Konnte es in der Luft schmecken. Ein rußiger, heißer Geschmack, der von überall herzukommen schien. Etwas bewegte sich wieder im Feld. Frank erhaschte kurz einen Blick darauf. Jemand stand da und beobachtete ihn. Dann verschwand die Gestalt wieder im Mais. Der Mais nahm ihn auf. Verbarg ihn. Frank ging auf das Feld zu, versuchte dabei, nicht zu sehr zu taumeln. Die grünen, schwertähnlichen Blätter raschelten erneut und schoben sich zur Seite. Stille. Das Feld schien mit angehaltenem Atem darauf zu warten, dass er hineinging. Dann drang ein Kichern hervor. Das Kichern eines Mädchens.
Samuel wachte auf und ging nach unten, um sich ein Glas Wasser zu holen. In der Küche blickte er aus dem Fenster und bemerkte seinen Vater, der wie angewurzelt vor dem Maisfeld stand. Als er ihm nach draußen folgte, sah er unzählige Kaninchen, die am Grundstück umherhoppelten. Und er sah sie. Das Mädchen mit den roten Haaren. Es bewegte sich auf ihn zu. Die Tiere wichen vor ihr zurück. Ein Szenario, das dem Alten Testament hätte entsprungen sein können. Wie Moses teilte sie ein Meer aus Kaninchen. Das Mädchen berührte mit ihren zarten Fingern das hochgewachsene Maisfeld. Dieses entzündete sich und fing daraufhin Feuer. Sie öffnete den Mund, vermutlich um zu schreien, doch anstelle von Worten drang schwarzer Rauch heraus. Noch dunkler als die Nacht selbst. Er umhüllte alles, auch das brennende Feld verschlang er. Samuel konnte nichts mehr erkennen. Nur die Haare des Mädchens glühten wie Feuer. Der Junge spürte eine Hand auf seiner Schulter, die an ihm zog. Es war die Hand seines Vaters. Er packte seinen Sohn und eilte mit ihm zurück ins Haus. Doch wie schnell sie auch liefen, ihr schützendes Heim schien sich immer weiter von ihnen zu entfernen. Es blieb unerreichbar.
Samuel schreckte auf. Es war nur ein Albtraum. Er verspürte einen Anflug von Erleichterung.
Doch dann hörte er etwas. Etwas bewegte sich durchs Zimmer. Das Kind setzte sich im Bett auf. Er versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Aber außer einzelner Schatten und unscharfer Umrisse konnte er nichts erkennen. Ein knarrendes Geräusch am Holzboden. Es war jetzt näher als vorher. Etwas kam durch den Raum auf ihn zu. Samuels Augen tränten, weil er so angestrengt ins Dunkle starrte. Er tastete nach dem Schalter der Leselampe, die am Kopfende befestigt war. Verzweifelt versuchte er, ihn zu finden. Das unheimliche Geräusch kam jetzt aus der Schwärze neben seinem Bett. Das Ding hatte ihn erreicht. Plötzlich fanden seine Finger den lebensrettenden Schalter. Das Licht fiel über den Fußboden. Nichts war zu sehen, wovor er sich hätte fürchten müssen. Samuel warf die Decke zurück, stieg aus dem Bett, stand im Schlafanzug mit bloßen Füßen regungslos da und lauschte. Das seltsame Geräusch ließ nicht lange auf sich warten. Dieses Ding war jetzt unter dem Bett. Das Licht begann zu flackern. Das Kabel führte nach unten zu einer Steckdose in der Wand hinter dem Bett. Dieses Ding versuchte, den Stecker herauszuziehen. Etwas knarrte und die Lampe erlosch. Er hörte eine Bewegung im Raum. Etwas kam unter dem Bett hervor. Samuel hielt den Atem an. Wie konnte das bloß sein? Wie war es herein gekommen? Aus der Finsternis hoppelte ein Kaninchen auf ihn zu. Seine blutunterlaufenen Augen starrten ihn an. Seine breiten Hintertatzen schienen einen Takt zu schlagen, den nur Samuel hören konnte. Es wirkte ungeduldig, fordernd. Samuel verließ eilig das Zimmer und verriegelte die Tür. Er musste das Tier, dieses WESEN, einsperren, sonst würde es entkommen. Niemand würde ihm glauben. Es war ja auch völlig unmöglich, dass ein Kaninchen in sein Zimmer kam. Gerade noch hatte er von diesen seelenlosen Geschöpfen geträumt. Und jetzt hatte es ihn heimgesucht.
Als er ins Wohnzimmer kam, stand die Tür offen. Samuel war sich sicher, dass sein Vater noch draußen war. Das Licht des Vollmonds reichte aus, um ihn in der Dunkelheit mühelos zu finden. Sein Vater verharrte am Rand des Grundstücks. Sein Sohn eilte zu ihm. Der Vater sah ihn ängstlich an und warf einen Blick auf die hochgewachsenen Felder. Seit dem Tod seiner Tochter hatte er diese nicht mehr betreten.
»Ich höre sie. Ich höre deine Schwester rufen.«
Seine Stimme zitterte. Speichel blieb an seinem Bart hängen. Die Hände umklammerten die Flasche Whiskey, die er schützend an sich drückte. Dann sah Samuel sie. Seine Schwester ging auf seinen Vater zu. Er nahm den Geruch vermoderter Rosen wahr. Sie trug ein weißes Kleid und auf ihrem Gesicht konnte man ein Lächeln erkennen. Vielleicht täuschte der Junge sich auch. Das Licht des Mondes fiel ungünstig in dieser Nacht.
Samuel rannte zurück ins Haus. Seine Mutter musste erfahren, dass Elise noch am Leben war. Jetzt würde alles wieder gut werden.
Frank rieb sich seine Augen. Seine Tochter. Seine Tochter stand wahrhaftig vor ihm. Sie lächelte, ihre Augen funkelten dabei im Mondschein. Das Mädchen breitete die Arme aus. Dann kamen die blutbeschmierten Kaninchen hervor. Etwas geschah mit seiner Tochter. Sie veränderte sich im Licht des Mondes. Ihr Fleisch wimmelte von Käfern und Maden. Er konnte sehen, wie ihr Gesicht vom Schädel zu tropfen begann. Frank musste tief Luft holen. Aber diese war so mit dem Gestank von Zersetzung und Verwesung geschwängert, dass ihm übel wurde. Franks Herz klopfte, als wollte es aus seiner Brust springen. Er wandte sich ab. Der Ausdruck in ihren Augen wurde feindselig.
»Du hast alle in den Abgrund gerissen.«
»Es tut mir so leid.«
»Du hättest dich nicht umbringen sollen.«
»Mich nicht..? Ich verstehe nicht.«
»Die Kugel fand am Ende ihren Weg.«
Sie berührte sein Gesicht. Dabei erklang ein Knall. Teile seines Kopfes wurden fortgerissen und in die Dunkelheit geschleudert. Frank zuckte zusammen. Die Hälfte seines Schädels fehlte. Panisch tastete er seinen Kopf ab. Überrascht stellte er jedoch fest, dass alles in Ordnung zu sein schien. Sein Kopf war vollständig. Augen, Nase und Mund befanden sich an der dafür gewohnten Stelle. Frank atmete erleichtert auf und begann hochzublicken, in diesem Moment verschluckte das Maisfeld seine Tochter. Dann hörte das Rascheln auf. Er war alleine.
Als Samuel die Treppen ins Schlafzimmer hochgehen wollte, sah er seine Mutter im Wohnzimmer sitzen. Sie war schon wach. Hatte sie überhaupt geschlafen? Wie üblich starrte sie in ihre Bibel.
»Mama, ich muss dir was erzählen. Elise steht draußen.«
Seine Mutter zeigte keine Reaktion.
»Hörst du mich? Elise steht draußen im Feld. Sie lebt.«
Christina hob ihren Kopf. Zum ersten Mal seit Tagen schien sie ihren Sohn zu bemerken. Doch der Ausdruck in ihren Augen ängstigte ihn zu Tode. Ihr Mund öffnete sich aber die Worte weigerten sich herauszukommen. Sie schüttelte den Kopf, holte tief Luft und versuchte es erneut.
»Wir sind nicht zu Hause. Wir sind im Fegefeuer. Hier gibt es kein Wort Gottes.«
Sie ließ die Bibel auf den Boden fallen. Die Seiten fielen heraus.
Sie waren leer.
Die Seiten waren alle leer.
Ende.