Des Schwächsten Flug
Des Schwächsten Flug
Stop!
Warum nur?
Dann nichts.
Halt – die Zeit friert ein.
In dieser langen Sekunde, kurz nachdem er meinen Kopf wieder in die Schüssel drückte, wird mir zu ersten mal wirklich bewusst, dass ich hier nicht hingehöre.
Eine schäbige Toilette auf dem kleinen Dorfbahnhof, wo durch die gesprungenen Fenster fahles Licht auf den schmierigen Boden fällt.
Darum herum drei kräftige Jugendliche, Jens, Thomas und Markus, mit kurz geschorenen Haaren und engen Hosen, lachend und grölend. Ich mittendrin – kniend. Seine Hand greift das Haar an meinem Hinterkopf, während die beiden anderen verdammt fest meine Hände hinter meinem Rücken verschränkt halten.
In dieser kalten Sekunde, kurz nachdem er meinen Kopf wieder in die Schüssel drückte und das kalte Klowasser in meine Nase schoss, weiß ich, dass sie nicht meine Freunde sind. Auch nicht meine Kameraden. Schon bei der Sache mit dem Bobbycar habe ich etwas ähnliches gespürt – damals, als Jens meine Aufnahmeprüfung abnahm und mich auf dem verdammten Teil hinter dem Roller herzog. „Du darfst nicht runterspringen!“, hieß es.
Meine Knie hatten Narben bekommen. Die gehen nie wieder weg.
Dann plötzlich zieht er meinen Kopf wieder hoch. Die Suppe tropft von meinem Kinn auf meine Brust. Da lachen sie. „Er hat genug oder?“, höre ich Markus fragen. „Nein“, sagt Jens, und dann wieder das Wasser in meiner Nase.
Warum nur?
Dabei bin ich kein Karnacke. Auch kein Jude, und eine Zecke oder so´n Alternativer bin ich auch nicht. Die Zecken wehren sich immer, es scheint ihnen sogar Spaß zu machen, und die Türken oder Russen können auch verdammt gut austeilen. Das haben Jens, Thomas und Markus neulich erst zu spüren bekommen, am Freitagabend am alten Busbahnhof. Ziemlich besoffen waren sie, hat Markus mir erzählt, und die Türken haben Stress gemacht. Da hat auch Jensens Basey nichts mehr gebracht, Springmesser hatten die Scheißkarnacken, nur schnell in den Bus! So hat Markus es zumindest gesagt. Bei so was lausche ich immer und nicke, ich will mich ja nicht blamieren, will ja zuhören, an den Abenteuern der Drei Interesse zeigen, sonst gehör ich bald nicht mehr dazu.
„Du bist raus!“ hab ich schon oft gehört, meist von Jens, aber auch Thomas sagt das. Verdammt, dann dreht sich mir der Magen um. Warum kann ich nur nicht so sein wie Jens! Er ist ein Macher, er packt die Dinge an, er räumt auf mit dem Pack.
Nur schade, dass er mich irgendwie nicht mag. Vielleicht liegt es daran, dass ich der Jüngste bin, Jens und Markus sind schon 18, Thomas 17 und ich bin vor kurzem 16 geworden, aber das ist es glaub ich nicht. Okay – noch bin ich dabei, aber, fuck, ich bin ja nicht blöd und kann die Sache ganz nüchtern sehen: Ich bin von allen immer der Loser. Der Kleine, der Neue, der ach-ja-der-ja-der-macht-jetzt-auch-mit. Das macht mich total fertig.
Stop!
Warum nur?
Warum nur knie ich vor einer schmierigen Kloschüssel und drei – nein, Freunde sind es nicht, oder? – halten mich fest und drücken mich in das Klowasser?
Nur weil ich an dem Freitagabend schon feige im Bus saß und den anderen nicht helfen konnte, es nicht einmal versucht hab?
Im Bus haben sie mich zwar angeschrieen, aber -
Sie wollten sich hier mit mir treffen, hier im alten Bahnhof, hier sollte das neue Hauptquartier sein, mit dem wir vier bald richtig loslegen würden...“Sonntag Nachmittag, 15 Uhr bist du da, okay?“
Stop!
Erst spüre ich den Schmerz auf der Kopfhaut, als Jens an meinen Haaren zieht, dann kann ich wieder nach Luft schnappen: Ich sauge noch mehr Wasser in meine Nase und keuche und spucke, endlich nicht mehr unter Wasser.
„Der spuckt in seine eigene Pis-“, lacht Thomas, aber Jens unterbricht ihn:
„Hast du genug, verdammter Feigling? Nix besser als diese Scheißschwuchteln aus der Stadt bist du. Verpiss dich!“
Ich muss heftig husten und bringe nicht viel mehr raus als ein Krächzen. Dann lassen sie mich los. Ich atme tief ein – meine Arme sind frei!
Plötzlich tritt mir Jens mit aller Kraft in die Seite. Mir wird schwindelig. Die Springerstiefel haben Stahlkappen – fuck, ich werde sicher ein paar Wochen humpeln. Ich sacke zusammen und stütze mich wimmernd auf die Klobrille.
„Du bist raus!“, schreit Jens.
Die Toilettentür knallt zu und ich bin allein.