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Des Lebens inn´rer Schatten
Der Sommer hat viel von seiner Faszination eingebüßt. Er ist kurzatmiger und eintöniger geworden. Gleichgültig und gebückt zieht seine Aura in Richtung Herbst. Die Faszination findet sich nicht mehr unter den Seinen.
Welch Einbuße an Leben und Vielfalt! - Das Bild der Kindheit zeigt diese Jahreszeit in einem ganz anderen Licht. Flächen, auf denen Heu träge ausgebreitet liegt, kommen einem da gemeinsam mit dem Gejohle der Kinder entgegen. In ihrem Gedränge der Duft des Seins, lasziv, mild und betörend, der Vergänglichkeit entzogen, ganz so wie das Gesicht, das hinter der Scheune aus schwarz gewordenem Lärchenholz spöttisch und angespannt zugleich darauf wartet, entdeckt zu werden. Es ist das Ebenbild der ersten großen Liebe. Ohne Makel und stets fern, im Schmerz der Sehnsucht.
Das Leben hat mich mit allen Wassern gewaschen, denkt er, schmunzelt und macht sich auf den Weg zum Bahnhof. An der Kreuzung kurz davor fuchtelt gerade ein junger Lehrer mit priesterlichem Sendungsbewusstsein sein „Halt, Halt!“ den zwanzig Jungen und Mädchen entgegen. Warten mögen sie, es sei doch rot und nicht grün. Die Wirkung dieser Aufforderung verpufft aber sogleich im Drängen und Rempeln der Halbwüchsigen. ....
Der Pendelschlag der Zeit ist ein anderer geworden, unruhiger, denkt er. Töne und Inhalte aus dem sprachlichen Fleckerlteppich um ihn bestätigen die Annahme. Von „harzen“, „abkeimen“ und der „Pestlippe“ ist die Rede. Vergeblich sucht er in den Äußerungen das „Wie-die-Alten-sungen, -so-zwitschern-die- Jungen“.
Er schließt die Augen. Als er sie öffnet, sieht er sich im Gefolge der Schüler die Straße überqueren und bald darauf das Bahnhofsge-bäude betreten. Eine großflächige Leinwand, über die sich eine Palette mit allerlei Filmausschnitten wälzt, vereinnahmt ihn ebenso wie einige andere Reisende, welche auf der breiten marmornen Stiege sitzen, sich dann und wann einander zuwenden, um das Filmgeschehen mit einigen Bemerkungen zu kommentieren. Offenkundig ist das Verständnis nicht immer auf Anhieb gewährleistet, denn der Text aus dem Lautsprecher seitlich der Leinwand verursacht neben den Geräuschen aus der Eingangshalle und dem Wirrwarr beim Besteigen der Züge ein heilloses Durcheinander.
Er ergreift das Gepäcksstück, das er kurz zuvor bei einer Säule abgelegt hat, hebt es hoch und begibt sich zum Eurocity. Er steigt in den Zug und setzt sich auf einen der Plätze am Fenster.
Kurze Zeit später rollen leere Fabrikshallen und volle Biergärten vorbei in den schon fortgeschrittenen Nachmittag. In Letzteren perlen Gespräche über Tische hinweg direkt aus der Quelle von Erfahrung, Trost und Blütenträumen hin zu neuen Ufern. Hände rühren im Stoff aus Endlosthemen, manchmal zaghaft träge, dann wieder sehr bestimmt, wohl wissend um die Wirkung. Hier ein Nicken, das die Frucht des Behagens in sich vereint, dort ein entschiedenes Aufschlagen des Lides. Unerwartet trifft all dies ein und pfeilspitz, so, als habe sich die Seele in ihrem Abgrund hilflos an eine Stelle verrannt, wo die Kräfte zu erlahmen drohen. …. Wie vieles ihm doch fehlte.
Schließlich erreicht der Zug Karlsruhe und eine Asiatin, vermutlich Vietnamesin oder Thailänderin, trippelt mit zwei Mädchen auf ihn zu. „Is diesa Platz hia fei?“ lispelt die junge Frau, und er bejaht. Sie setzt sich ihm gegenüber und die Gören nehmen rasch die Plätze im Anschluss ein. Gleich darauf öffnen sie – beinah simultan – ihre Schultaschen und ziehen aus diesen ein Heft mit jeweils blauem Umschlag hervor.
„Mama, sieh mal: das a!“ sprudelt die Kleine neben ihm hervor. Erwartungsvoll richtet sich ihr Blick auf das Gesicht der Mutter. Im Ausdruck der beiden spiegeln sich rasch pralles Selbstbewusstsein, Freude und satter Erfolg wider. Sie sind, so ist er überzeugt, durch die gemeinsame Arbeit beider am Buchstaben möglich geworden. Schreibflüssigkeit und ungetrübte Lesbarkeit geben Zeugnis davon, wie das Graphem sich dem Phonem quasi in einem Liebesakt schenkt.
„Wir haben heute das a gelernt!“, ergänzt die andere schnippisch. „Es war natürlich schwieriger als das i. Das hab´ ich ja gleich gekonnt.“
Offenkundig um die Konkurrenz nicht allzu mächtig werden zu lassen, platzt die erste schließlich mit der Meldung „Stell´ dir vor, ich habe es sogar an die Tafel schreiben dürfen!“ hervor und sieht sodann ihre Schwester herausfordernd an. Was diese wohl als nächstes einbringen würde?
„Die sind aba schoen“, hört er die Mutter sagen. „I bin so stolz auff oech.“
Spätestens als diese Bemerkung fällt, hat ihn die Reise in sein Inneres geführt, dorthin, wo nicht nur die Nachwehen aus den Untiefen des Orkus der Vergangenheit nach oben strömen. Gestochen scharf sieht er sich an jenem Ort auf dem Weg in Richtung Fluss. In dessen Nähe hatte er, kurz nachdem der Schnee geschmolzen war, als Kind eine Höhle gebaut. Jedes Mal, wenn er sich in ihr befand, strömte der Geruch von gekappten Wurzeln von oben auf ihn herab und ging mit dem eindringenden Licht des Frühlings eine besondere Liaison ein. In ihr fühlte er sich geborgen. Genauso geborgen wie an jenem Tag, als er aus Vaters Armen zur Zeit des Aperns juchzend in den metertiefen feuchten Schnee flog, um dort sein Gesicht wieder und wieder in das prickelnde Nass zu tauchen und das Leben in seiner ganzen Vielfalt und Größe wahrzunehmen. Da war vom Danaergeschenk noch nichts zu spüren, nichts vom unnachgiebig strengen Blick des Dorfschullehrers.
Erneut sucht er den Buchstaben im Heft des Mädchens. Wohlgeformt gibt sich der als Teil des Werkzeugs zur Selbstfindung zu erkennen. Helle Zustimmung und Bejahung liegt ihm inne. Aber auch der Anfang und das Ende und zwischen diesen, wenig zaghaft, die ungebrochene Bereitschaft, voranzuschreiten.
„So muss das aussehen, Franz! So! Und nicht anders!“ hört er die Maßregelung. Er wendet den Kopf und sieht von der Seite in ein hageres Gesicht mit scharfen Zügen. Dieses setzt alles daran, dass er dem Leben auf den Pelz rückt. In seinem Ausdruck findet sich keine Gnade. Schon aus dem Grunde muss er jetzt sein Unvermögen überwinden. Er setzt erneut an, die Feder zaghaft in der Linken führend. Doch der Strich geht zu weit, entspricht nie und nimmer den Vorgaben der Lateinischen Ausgangsschrift, lässt keine Korrektur und somit keine gütliche Regelung mit dem Lehrer mehr zu.
„Welche Hand soll die Feder führen?“ vernimmt er die Stimme hinter sich. „Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass man mit der Rechten schreibt. Die Rechte ist die gute Hand. Das hat euch euer Religionslehrer wohl beigebracht.“ …
Regungslos sieht er jetzt auf das Blatt in den Händen des Mädchens. Dieses ist nun mit der Tinte aus dem Fass vor ihm verschmiert.
„Das musste ja so kommen. Alle schreiben rechts, nur du nicht. Bis morgen wirst du es aber kapieren!“
Gleichsam um dieser Aufforderung Nachdruck zu verleihen, klatscht eine Hand mächtig auf der Schulbank auf. Es ist die rechte. Das Geräusch hat zur Folge, dass sich die Köpfe seiner Mitschüler weiter in den Rumpf bohren und die Stille schier unerträglich wird.
Er ist am Ende, richtet seinen Blick vorsichtig in die zweite Reihe, dorthin, wo sie sitzt. Ihr strohblondes Haar hat plötzlich etwas Abweisendes und Unnahbares an sich, das die Gabe aus der Büchse der Pandora für ihn gutzuheißen scheint. Er presst die Lippen zusammen, so, als würde dadurch die verabreichte Essenz reiner Verachtung ihren Weg besser nach unten finden. Von dort strömen ihr bereits Zorn, Hass und Scham unaufhaltsam entgegen. Nach deren Zusammenprall fliegt das Schreibwerkzeug gegen die direkt angrenzende kalkweiße Wand und überlässt dort ihr unverkennbares Zeichen der Ewigkeit.
Er spürt den scharfen Schmerz an seinem linken Ohr. Dieser hebt den Körper vom Sessel hoch und lässt ihn schließlich auf Zehenspitzen das Hier und Jetzt vergessen. Kein Laut dringt aus ihm, dem Gequälten, hervor, ein Umstand, der ihm in der Folge den stillen Respekt seiner männlichen Mitschüler einbringen sollte.
In diesem Augenblick dringt eine breite Woge Lichts abrupt in den Zugwagen. Sie trifft die Asiatin und bewirkt, dass deren Gesicht mit dem hinter der Scheune eins wird. Das eintreffende Bild führt die Gedanken in eine andere Richtung. ….
„´nschuldigung, kennen wia uns?“, hört er sein Gegenüber plötzlich sagen. -
Die Frage lässt bei ihm die Tür zur Vergangenheit endgültig ins Schloss fallen und er fängt sogleich das Lächeln auf, das ihm mit einem Anflug von Vergänglichkeit entgegenhuscht. Es ist ein müdes, aber doch gefestigtes.
„Leider nein. Ich war nur etwas weggetreten“, gesteht er mit milder Gestik ein. Und nach einer Weile fügt er hinzu: „Ihre Mädels sind aber tüchtig.“ Die Fremde grinst ihn unverhohlen an und blickt sodann auf die Tochter neben ihm. Die wiederum meldet sich ohne zu zögern mit der dem Wesen des behüteten Kindes inneliegenden Selbstverständlichkeit zu Wort: „Und was machen Sie in Rüdesheim?“
Er sieht kurz auf den vor ihm liegenden Reiseführer mit dem Bild der Stadt.
„Ja, was mache ich in Rüdesheim? - Und darauf wie ein Honigkuchenpferd schmunzelnd: „Ich denke, ich werd´ dort in der Nähe die Frau auf dem Felsen zu einem Gläschen Wein einladen, sobald die Sonne den Regen ganz eingelullt hat. Ich könnt´ wetten, sie und ich werden uns dann mal ganz vom b verzaubern lassen.
Wenig später steht er auf, holt das Gepäck aus der Ablage und verabschiedet sich. Als er sich umdreht und kurz verweilt, hört er eine der Gören mit verhaltener Stimme: „Seht mal, ich glaub´, der hat unterschiedlich lange Ohren. Das linke ist fast so lang wie das von Mr. Spock in Star Trek.