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- 31.10.2003
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Des Gunners Traum
Night after night
Going round and round my brain
His dream is driving me insane.
In the corner of some foreign field
The gunner sleeps tonight.
What's done is done.
We cannot just write off his final scene.
Take heed of his dream.
Take heed.
- Pink Floyd -
Es war die Zeit, als der Morast kam. Und das, was mit ihm lebte.
"Marten!" Stille. "Marten!"
Digger stand in dem kleinen Schlafzimmer des oberen Stockwerks, in dem sich außer einem alten klapprigen Bett mit ranziger Bettwäsche nichts befand. Das einzige Fenster war mit einer Stahlplatte einigermaßen lichtdicht abgeriegelt und nur eine matte Glühbirne spendete dem Raum ihre gespenstische Helligkeit. Sanft schaukelte sie hin und her, nicht erkennbar, wer oder was diese Bewegung ausgelöst hatte.
Digger verließ den Raum und trat ans Treppengeländer. "Hier oben ist er auch nicht!", brüllte er hinunter.
"Im Keller auch nich!", brüllte Corins Stimme von unten zurück.
Irgendwie hatte sich jeder in diesem Haus mit der Zeit einen brüllenden Ton angewöhnt.
"Scheiße", murmelte Digger und drückte sich die Hände in den Rücken. Es knackte.
"Was is mit dem verfickten Dachboden?"
Digger zuckte zusammen als er Corins Stimme vom oberen Treppenabsatz hörte.
"Was brüllst du so?", keifte er ihn an. "Ich bin nicht taub!"
"Warst du auf dem Dachboden?" Diesmal leiser.
Digger wollte fragen, wie der Junge da rauf gekommen sein sollte, beließ es aber dabei und machte sich daran, mit der Stange die Luke in der Decke über dem Flur zu öffnen. Sie kreischte wie ein altes Hafenweib und spuckte ihren trockenen Staub auf Digger hinab.
Dieser hustete und spürte ein gefährliches Stechen in den Bronchien; das verdammte Kraut, das sie unter anderem im Keller anbauten, war nicht gut für seine alten Lungen. Überhaupt nicht gut. Aber irgendwas musste man ja schließlich rauchen. Notfalls würde er Corins oder seine eigene Scheiße trocknen.
Corin war inzwischen heraufgekommen und die beiden Männer blickten nach oben in die schwarze Öffnung.
"Gab's eigentlich jemals ne Leiter da hoch?", fragte Corin.
Digger sah ihn an. Sein weißer Bart wirkte verfilzt - Corin erkannte getrocknete Suppe vom Vorabend darin - und die tiefen Augenringe zeugten von viel zu wenig Schlaf. "Keine Ahnung", sagte er, blickte wieder hinauf und brüllte: "Marten! Bist du da oben? Marten!"
Marten war etwa zwölf Jahre alt, und damals (war es wirklich erst drei Jahre her?), als alles anfing, hatte er es irgendwie geschafft, noch rechtzeitig in ihr Haus zu kommen. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Morast kam. Der Morast und das, was seitdem da draußen lebte.
"Marten!", brüllte Digger noch einmal.
"Erwartest du wirklich, dass er ausgerechnet heut auf dein Brüllen reagiert?" Corins Stimme ließ einen leichten Sarkasmus erkennen.
"Ich erwarte, dass er sich zeigt", fauchte Digger durch seinen filzigen Bart.
Corin legte seine Hand auf die bebende Schulter seines Gegenübers, was augenblicklich ein unsichtbares Band zu sprengen schien. Diggers Lippen zitterten. Dann senkte er seinen Blick und Corin spürte den Schauer unter seinen Fingern, der den Körper seines Mannes überzog. Digger begann zu weinen, ganz leise nur. "Er ... er kann doch nicht raus sein."
Corin breitete seine Arme aus und Digger ließ sich dankend hineinfallen. "Er kann doch nicht einfach raus sein."
Als der Gunner kam, saßen Digger und Corin auf dem Sofa und starrten zu dem Fernseher, der seit Jahren nichts mehr empfing.
Marten hatte jeden Abend ein Bild gemalt und es vor die Mattscheibe geklebt, woraufhin sie alle so getan hatten, als sahen sie einen spannenden Western oder Actionfilm oder ein Musical oder was auch immer. Hauptsache irgendetwas, das nicht der Realität entsprach.
Das jetzige Bild zeigte ein Feld mit spielenden Kindern. Im Hintergrund befand sich ein großer, grüner Wald. Ein wirklich grüner Wald. "Es ist die Fußballweltmeisterschaft der Kinder", hatte Marten freudig erzählt, nachdem er das Fernsehbild aufgehängt hatte. Und jeden Spielzug hatte er lautstark kommentiert, während Corin und Digger ein zehntausendfaches Publikum zu imitieren versuchten.
Digger lachte so laut, dass Marten seine pantomimischen Gesten unterbrechen mussten. Auch Corin wischte sich die Tränen. Das Bild zeigte irgendeine Castingshow (scheiße, der Junge konnte verdammt gut malen) und Marten hatte soeben einen Typen mit Krawatte imitiert, der verzweifelt versuchte, einen Song von Madonna zum Besten zu geben.
"Die scheiß Shows waren wirklich so!", hustete Digger. Mit zitternder Hand versuchte er die selbstgedrehte Zigarette in dem Aschenbecher auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa auszudrücken.
"Die Jury ist unfair", sagte Marten in einer gestellt tiefen Stimme. "Jeder bekommt hier das Recht, seine Kunst zu präsentieren. Das ist nicht fair!"
Corin und Digger brüllten vor Lachen.
Digger starrte durch glasige Augen auf das Bild mit den spielenden Kindern - hörte Martens kleine Stimme immer leiser werden, immer weiter weg. Ewig weit weg.
Das laute Klopfen an der Haustür ließ die Beiden aufblicken.
"Komm, alter Knabe. Er ist da." Corin erhob sich vom Sofa, wobei sein Körper einige knackende Geräusche von sich gab.
Digger blickte auf. "Meinst du, er weiß, wo Marten geblieben ist?"
"Der Gunner weiß viel, aber er is kein Hellseher." Als Corin die tiefe Traurigkeit in Diggers Augen sah, fügte er hinzu: "Aber wir werden ihn fragen. Vielleicht weiß er ja wirklich was."
Digger stand auf und auch sein Körper knackte.
"Du wirst alt", lachte Corin, während er zur Tür in Richtung Keller ging.
"Ich lach mich tot", murmelte Digger und folgte ihm.
Als sie die Haustür passierten, klopfte der Gunner erneut.
"Wir sind auf dem Weg!", brüllte Digger. "Gib uns ne Minute."
"Eine Minute", tönte es von draußen.
Die beiden Alten beeilten sich, in den Keller zu kommen. Das grelle Licht der künstlichen Beleuchtung für die Gemüse- und Tabakpflanzen schlug ihnen entgegen.
Sie verriegelten die Tür und warteten, bis sie das Öffnen der Haustür hörten. Ein hauchendes Zischen fuhr augenblicklich an der Kellertür vorbei, dann schlug etwas mit lautem Poltern dagegen. Tausendfache Stimmen rangen in einem unverständlichen Chor miteinander.
Digger schrie kurz auf und presste die Lider zusammen. "Scheiße", keuchte er. "Ich werd mich nie dran gewöhnen."
"Die Tür hält, alter Knabe. Schließlich hab ich sie sicher gemacht." Corin versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch trotzdem ertappte er sich dabei, dass er seine Augen ebenfalls fest zugepresst hatte.
Die Haustür fiel ins Schloss und die Stimme des Gunners drang zu ihnen herüber: "Ihr könnt wohl heraufkommen. Herauf mit euch, sofern euch die neuesten Nachrichten des Gunners interessieren. Herauf. Herauf."
"Sag mal, Dig. Meinst du, ich seh meine echten Eltern irgendwann mal wieder?"
Marten und Digger saßen neben der Haustür auf dem Boden. Draußen war es kalt, das spürten sie in ihrem Rücken.
Digger merkte, wie der Jungen ihn ansah und versuchte krampfhaft seinen Blick zur Kellertür zu richten. Er hörte Corin unten poltern, dann leise fluchen.
"Dig?" Der Blick klebte heiß an Diggers Hals, wanderte hoch zu seiner rechten Wange, die zunehmend wärmer wurde. "Dig?"
Jetzt sah der Alte hinunter. "Hab dich schon verstanden."
"Und?", fragte Marten. "Was meinst du, sehe ich sie wieder?"
"Keine Ahnung. Wenn der Morast irgendwann verschwindet vielleicht. Oder wenn wir ne andere Möglichkeit finden, da rauszukommen."
Marten hatte gelächelt und dann mit den Schultern gezuckt.
Wenig später beugte er seinen Kopf ganz tief zum Boden, sodass sein Ohr am unteren Türrand lag. Er schielte hoch. "Hast du schon mal gemerkt, dass man sie hören kann?"
Digger wurde bleich, fasste den Jungen bei den Schultern und riss ihn hoch. "Bist du irre?"
Marten kreuselte die Stirn. "Man hört sie doch nur."
Digger stand auf, ohne Marten loszulassen. Sein Gesicht hatte inzwischen beinahe die Farbe der im Keller wachsenden roten Paprika angenommen.
"Scheiße", brüllte er und schüttelte den kleinen Körper. "Weiß du, was sie mit dir tun? Weiß du das? Verdammte Scheiße!"
"Dig!" Das war Corin, der durch die Kellertür gestürmt und auf sie zugerannt kam. Er trug eine grüne Gärtnerschürze und grüne Clogs. "Dig! Lass ihn sofort los!"
In Martens Augen hatten sich Tränen gebildet. Und als Corin ihn Diggers hartem Griff entriss, starrte er ihn immer noch ungläubig an.
"Du solltest dich was schämen", zischte Corin. "Sieh ihn dir an."
"Er hat sich ihre Stimmen angehört! Kapiert das eigentlich keiner hier? Wer sie sieht ist tot! Tot! Definitiv tot!"
"Ich denke, das weiß er", sagte Corin und drückte den Jungen an seinen grüne Schürze. "Und wenn du ihm was sagen willst, dann kannste das auch in ruhigem Ton machen."
Jetzt kniete Digger sich hin und Marten wich zurück. "Junge, hör mir zu. Wenn sie dich zwingen die Tür zu öffnen - und das werden sie, wenn du nur lange genug zuhörst -, dann sind wir alle verloren."
"Aber ich versteh sie da unten doch kaum. Und mit Sicherheit werd ich nicht die Tür öffnen. Ich weiß doch, dass sie ein zwingen können, die Augen aufzumachen. Das weiß ich doch."
Digger beugte sich vor. Diesmal wich Marten nicht zurück und ließ sich umarmen. "Ich wollte dich nicht erschrecken, Junge. Es tut mir leid. Aber versprich mir, dass du nicht mehr da unten lauschst."
"Ich versprech's!" Er legte zwei Finger an die Brust.
Digger lächelte. "Und mit Sicherheit wirst du irgendwann deine Eltern wiedersehen. Das verspreche ich dir."
Die drei Männer saßen am Küchentisch und der Gunner schlürfte den heißen Tee, den Corin zubereitet hatte. Seine toten Augen starrten immerzu in Diggers Richtung, was diesen zunehmend nervöser machte.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit konnte er nicht mehr an sich halten. Ihm war bewusst, dass man den Gunner keinesfalls drängen durfte, aber bei Gott, ihn machten diese leeren Augenhöhlen nervös - krank - und schließlich ging es hier um einen zwölfjährigen Jungen. Es ging um ihren zwölfjährigen Jungen.
"Was ist mit Marten? Habt Ihr ihn gesehen?"
Der Gunner führte die Tasse langsam zu den spröden Lippen, die von keinerlei Bartwuchs umgeben waren und blies, ohne die geringste Regung in seinem Gesicht erkennen zu lassen, hinein. Sein Alter ließ sich schwer erahnen, irgendwas zwischen vierzig und achtzig, hatte Digger mal spaßeshalber geäußert. Die schwere Jacke, die vor Schlamm nur so starrte, hing über der Lehne seines Stuhls. Der gewaltige Rucksack stand daneben. Einige Schlammspuren führten von der Eingangstür bis hinüber zum Küchentisch.
Diggers Atem trat stoßweise aus ihm hervor. Er wollte seine Frage gerade wiederholen, als er Corins Hand auf der Seinigen spürte. Ein leichter Druck, der warte zu bedeuten schien. Digger beruhigte sich etwas. Er deutete mit seinen Fingern zunächst auf seine eigenen, dann auf die nicht vorhandenen Augen des Gunners. Dann fuhr er sich mit den Fingerspitzen über die Kehle und grinste.
Corin grinste zurück.
Der Gunner stellte die Tasse ab und sagte: "Die Herren amüsiert meine Blindheit?"
Digger und Corin schluckten gleichzeitig.
"Bedenket stets, dass nur das Nichtsehen vor den Nichtgesehenen zu schützen vermag. Bedenket es stets."
"Wir bitten um Verzeihung, Gunner. 's war durchaus dumm von uns", sagte Corin aufrichtig. Digger sagte nichts.
"Es sei einerlei. Ihr sucht euren Sohn? Er hat es nicht erzählt, habe ich recht?"
Digger sprang auf. "Er hat was nicht erzählt?"
Corin fasste erneut seinen Arm. "Dig, setz dich."
Der Gunner hob die Tasse.
Digger schnaufte. "Was hat er nicht erzählt? WAS?"
Das Schlürfen des Gunners schien durch den Raum zu hallen.
"Bitte setz dich", zischte Corin eindringlich.
Langsam ließ sich Digger wieder auf den Stuhl gleiten, keuchte, während seine Augen den Blinden anfunkelten. Dieser ließ langsam die Tasse sinken.
"Ich habe ihm dieses letzte Woche mitgebracht." Der Gunner beugte sich hinab und öffnete den überdimensionalen Rucksack. Sekunden später legte er eine Taucherbrille mit langem Schnorchel auf den Tisch. Corin wollte danach greifen, doch der Gunner zog sie sanft zurück.
"Was wollte er mit einer Taucherbrille? Sagt es uns, Gunner. Wollte er durch den Morast tauchen?" Diggers Stimme war noch immer laut.
"Nun, wenn euer eigener Sohn es euch nicht erzählt hat ..." Der Gunner lehnte sich zurück und starrte zu Digger hinüber ohne ihn zu sehen. Doch irgendwie wurde dieser das Gefühl nicht los, sein Gegenüber könne jeden seiner Gedanken durch diese toten Augen hindurch erkennen.
"Corin, sag du es mir: Was wollte der Junge mit einer Taucherbrille?"
Corin schluckte trocken. "Vielleicht ... vielleicht wollt er wirklich ..."
"Was redest du fürn Scheiß? Niemand kann da raus. Niemand, der nicht wirklich blind ist."
"Niemand darf in das Antlitz der Nichtgesehenen blicken", warf der Gunner ein.
Corin sah ihn an. "Genau deshalb könnt er doch versucht haben, durch den Morast ..."
Digger unterbrach ihn wieder laut: "Glaubst du, wenn es so einfach wäre, hätten es nicht schon Tausende versucht?"
"Es haben Tausende versucht", sagte der Gunner trocken. "Mit jedem Schritt dort draußen dringt ihr Brodem in mich hinein. Ein Gestank, an den man sich niemals gewöhnt, meine Herren. Niemals. Lasset es euch gesagt sein. Niemals."
"Vielleicht hat er einfach seine Augen zugehalten," sagte Corin. "Vielleicht hatte er den Willen. Sein Wille war immer sehr stark. Hab ich nicht recht, Dig. Ich hab doch recht."
Digger sah ihn mitleidig an. "Niemand hat den Willen, seine Augen zuzuhalten. Das weißt du doch, Corin. Das weißt du."
Der Gunner schob die Taucherbrille sanft auf der Tischplatte hin und her. Sein bartloses Gesicht zeigte ein leichtes Grinsen.
"Genau!", keuchte Corin und deutete hektisch auf die Brille. "Es spielt keine Rolle, ob er die Augen aufmacht. Nich wenn er im Morast is. Dann spielts keine Rolle."
Digger stand auf und ging zum Fenster, das ebenfalls, wie alle Fenster in diesem Haus, mit einer Stahlplatte verschlossen war. Er drückte die Fäuste in seine Nieren, sodass sich das Knacken seiner Wirbel mit dem Schlürfen des Gunners vereinte. Irgendwie ging ihm das Gespräch mit Marten vor einigen Tagen an der Haustür nicht aus dem Kopf. Sag mal, Dig. Meinst du, ich seh meine echten Eltern irgendwann mal wieder? - Wenn der Morast irgendwann verschwindet vielleicht. Oder wenn wir ne andere Möglichkeit finden, da rauszukommen. 'ne andere Möglichkeit, da rauszukommen. Sollte er wirklich?
"Ich kann euch eine verkaufen, wenn's den Herren beliebt. Oder wollt ihr gar zwei?" Die krächzende Stimme des Gunners unterbrach seinen Gedankengang.
"Was wollt Ihr dafür haben?" Corins Frage klang beinahe flehend.
"Bist du verrückt?" Digger kam zum Tisch zurück und schlug mit der Faust auf die Platte. Blitzschnell hatte der Gunner die Tasse angehoben. "Glaubst du denn nicht, wenn das möglich wäre, dann wäre es schon irgendwem gelungen?"
"Vielleicht war Marten der erste in diesem Ort, der es versucht hat", warf Corin ein.
"So ein Bullshit. Hat nicht der olle Pedderson vorn paar Monaten das mit den Rohren durch den Morast versucht? Monatelang hat er irgendwelche Konstruktionen gebaut, um die Rohre durch die Kellerwand in den Morast zu kriegen. Wollte dann da durchkriechen, der Idiot. Wie weit ist er gekommen, Gunner?"
"Ich weiß es nicht. Weiß nur, dass irgendwann sein Keller mit Morast gefüllt war."
"Siehst du, Corin."
Corin blickte ihm tief in die Augen. "Vielleicht war Marten der erste, der das mit der Taucherbrille versucht hat, Dig. Es wäre doch immerhin möglich."
Digger kam eine Idee. "Gunner, man behauptet, Ihr könntet manchmal Dinge sehen. Also ich meine, nicht richtig sehen."
"In manchem Traum erscheint mir manche Wahrheit, falls Ihr das meint."
Digger wurde nervös. "Ja, das mein ich. Habt ihr vielleicht gesehen, in Eurem Traum gesehen, meine ich, wie der Schnorchel eines kleinen Jungen durch den Morast wanderte?"
"Wohl hätte ich es erwähnt, wenn dem so gewesen wäre, meint Ihr nicht auch?"
"Also hättet Ihr auch erwähnt, wenn Ihr ihn irgendwo in einem der anderen Häuser angetroffen hättet, wenn dem so gewesen wäre. Stimmt's?" Digger atmete schnell und dieses Kraut, das sie im Keller anbauten, machte sich wieder in seinen Lungen bemerkbar.
"Ja. Und wenn es mir offenbart worden wäre. Selbstverständlich. Aber vielleicht hat er auch gerade in einem der anderen Häuser genächtigt. Nicht alles wird dem Gunner offenbart, müsst ihr wissen. Auch nicht in seinen Träumen. Der Gunner soll alles erzählen, aber er darf nicht alles wissen. Nicht wahr, meine Herren?" Der Alte erhob sich. "Ich verlange für eine Brille mit Schnorchel zwölf Blatt Rauchkraut. Für zwei Brillen gebt mir zwanzig."
"Das ist Wucher!", brüllte Digger und schlug erneut mit der Faust auf den Tisch. Diesmal aber nicht so fest, da ihm vom ersten Schlag noch immer die Knochen wehtaten.
"Akzeptiert oder nennt mir ein anderes Begehr. Mein Weg ist noch weit an diesem Tag."
Corin erhob sich ebenfalls und zum ersten Mal an diesem Tag erkannte Digger, wie gebrochen sein Mann aussah. "Dig, hols du bitte den Zettel mit den Bestellungen? Ich geh in den Keller und hol die zwanzig Blatt Tabak."
"Du bist verrückt, alter Mann", murmelte Digger und ging ins Wohnzimmer, während der Gunner die zweite Maske aus dem Rucksack holte. Sein Grinsen sah keiner der Beiden.
"Wie tief ist der Morast, Gunner?", fragte Digger den Mann mit dem schweren Rucksack und den schlammbeschmierten Schneeschuhen.
"Überlegt, junger Herr. Wenn Eure Häuser noch stehen, mag so tief er nicht sein." Er zwinkerte tatsächlich mit seinem toten Auge. "Doch bedenke er stets die Länge seines Schnorchels." Jetzt lachte der Gunner. Und sein Lachen klang für Digger wie der Schrei einer Krähe.
"Geht zurück in euren Keller, meine Herren. Und erwartet meinen nächsten Besuch in einigen Tagen."
"Vergiss nichts von unsrer Bestellung, Gunner", sagte Digger. Dann ging er mit Corin hinunter in den Keller. Er musste jetzt, verdammt noch mal, eine rauchen.
"Ich glaub, ich scheiß mir gleich in die Hose, Corin."
"Bitte bedenke, dass du keine trägst."
Die beiden Männer hockten nackt neben der Eingangstür, hatten die Taucherbrillen auf der Stirn und waren insgeheim froh, dass sie in diesem Moment niemand sehen konnte.
"Der Morast fängt also wirklich direkt vor der Haustür an." Diggers Stimme war mehr ein Krächzen.
Corin, der gerade den Schnorchel testete, nahm diesen aus dem Mund. "Ich weiß doch auch nur das, was der Gunner erzählt hat. Seit sich die Erde in Morast verwandelt hat, is halt überall Morast. Also auch vor der Tür." Er steckte sich den Schnorchel wieder in den Mund und atmete tief ein und aus. "Ich glaub, ich werd hiermit ersticken."
Auch Digger testete den Schnorchel noch einmal, dann nahm er ihn heraus und sagte: "Wir öffnen die Tür und tauchen sofort ein. Okay?! Auf keinen Fall die Augen öffnen."
Corin schluckte. "Der Gunner hat erzählt, wie es draußen an vielen Stellen nach Verwesung stinkt. Von denen, die es versucht ham."
"Ich war dabei, als er es erzählt hat, Corin. Danke, dass du es mir noch mal ins Gedächtnis rufst."
Corin schien ihn nicht zu beachten, sein Blick war starr auf den Schnorchel in seinen Händen gerichtet. "Irgendwann habe er sich ma gewundert warum seine Schneeschuh immer so seltsam wegknickten. Bissa gemerkt hat, dassa durch ne Gruppe halb verwester Kinderleichen gelatscht is."
"Wenn du nicht aufhörst, kotz ich dir gleich vor die Füße." Digger rieb sich durch den Bart, der heute sauber war.
"Er is ma mit der Spitze vom Schneeschuh in einem offenen Brustkorb hänggeblieben. Er musste die ganzen Knochen wegbrechen, um wieder rauszukommen."
"Corin!"
"Scheiße, Dig, manchmal wünscht ich, ich wär auch blind. Manchmal wünscht ich das echt." Corin sah ihm tief in die Augen. "Wir hättn nochma miteinander schlafen sollen. So zum Abschied. Wer weiß, ob ..." Er stockte.
Digger nahm die Hand seines Mannes und streichelte dessen Finger. "Lass es mich allein machen. Ich versuch rüber zu Harson zu tauchen und wenn ich es geschafft hab ..."
"Was dann? Was dann, Dig? Was tun wir überhaupt, wenn wir es tatsächlich schaffen sollten? Was tun wir, wenn wir bei Harsons Haus angekommen sind?"
Digger sah ihn ernst an. "Na, wir klopfen an, warten etwa eine Minute bis er im Keller ist, dann gehn wir rein. Und wenn Marten nicht dort ist, dann versuchen wirs mit einem anderen Haus. Du lässt es mich also nicht allein machen, hab ich das richtig verstanden?"
"Das hast du. Wenn du krepierst, alter Mann, dann gefälligst an meiner Seite."
Sie lachten beide und es dauerte lange, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatten.
"Auf mein Kommando reißt du sie auf. Corin! Hast du mich verstanden?" Diggers Stimme war laut wie gewohnt.
Corin, der eine Hand am Türgriff hatte, sah ihn an und nickte stumm. "Sieh bitte zu, dass du schnell im Schlamm bis, wenn ich sie aufgemacht hab. Nich, dass du mir da im Weg bis und ich über dein fetten Arsch stolper." Er lachte trocken.
"Ich war noch nie so schnell irgendwo weg, das kannst mir glauben. Nicht mal als sie damals bei Chucks die Tuntenparty aufgemischt haben." Jetzt lachte auch Digger trocken. Nach einer Weile hatte er sich beruhigt. "Alles klar bei dir?"
"Alles klar. Dig? Ich liebe dich."
"Werd ma nicht tuckig, alter Mann. Auf drei. Und Augen zulassen."
Als die Tür aufflog, war das Erste, was Digger spürte der enorme Gegendruck. Beinahe, als hätte man ein Vakuum von innen geöffnet. Er fuhr ihm in die Lungen wie ein heißer Schwall Wasser. Dann kamen die Stimmen. Leise, zischend, bohrend.
Öffne sie, Digger! Öffne deine Augen! Sieh die Welt! Sieh wie sie wirklich ist! Sieh sie dir an! Es ist deine Welt. Öffne sie ...
"Spring, du Idiot!" Das war Corin. Weit weg. Irgendwo in einer anderen Welt.
Und Digger sprang. Hechtsprung nach vorn. Möglichst schnell mit dem Kopf eintauchen. Er presste eine Hand auf die Taucherbrille, biss die Zähne fest auf das trockene Gummi des Schnorchels und sprang ohne zu wissen wohin.
Was, wenn es da unten gar keinen Morast gab?
Öffne deine Augen, Digger! Sieh deine Welt!
Etwas Kaltes schlug gegen seinen Brustkorb, presste die Luft aus seinen Lungen, knallte gegen seinen Unterkiefer. Hätte er nicht die Zähne auf den Gummi des Schnorchels gepresst, so hätte er sie sich mit Sicherheit ausgeschlagen. Der gewaltige Schlag wurde in Geschwindigkeit umgesetzt. Sein nackter Körper schlitterte auf etwas Weichem, Stinkendem.
Öffne sie!
"Nein!", brüllte er, doch war es nur in Gedanken, denn seine Lippen umschlangen noch immer den Schnorchel. Trotzdem hatte er auf einmal den Geschmack von Blut im Mund.
Er schlitterte immer weiter auf dem schwammigen Untergrund. Du musst runter! Unter die Oberfläche! Los, alter Mann, tauch in den Morast!
Weit hinter sich hörte er Corins Stimme. "Marten? Marten? Bist ... bist du das?"
Wie war das möglich? Wie konnte Corin sprechen? Er hatte doch den Schnorchel ...
Tauch unter!
Öffne deine Augen, Digger! Erkenne deine Welt! Die Stimmen in seinem Kopf wurden fordernder.
Wieder Corin: "Nein, ich darf sie nicht öffnen, Marten. Das weiß du doch."
Scheiße, was tat Corin da? Digger spürte, wie sich einer seiner Arme unter die Oberfläche schob und somit seinen Schwung abbremste. Die Masse umschlang ihn wie warme Gelatine.
"Ich kann doch nicht, Marten." Corin schien zu weinen.
Digger spuckte den Schnorchel aus. "CORIN!", brüllte er so laut, wie er noch niemals zuvor gebrüllt hatte. "Steck den verdammten Schnorchel wieder rein und tauch in den verdammten Morast!"
Das Schlittern hatte aufgehört. Jetzt lag Digger wie ein sterbender Fisch auf einer schwammigen Oberfläche, durch die er langsam in die Tiefe gezogen wurde. Viel zu langsam.
Öffne deine Augen, Digger! Öffne deine Augen! Willst du denn gar nicht sehen, was mit deinem geliebten Mann geschieht?
Die Stimmen wurden lauter, drangen tiefer in ihn ein, bohrten.
"Corin!", brüllte er noch einmal, spuckte Blut und Schlamm.
"Digger, du wirst es nicht glauben. Hier ist Marten. Marten! Bist du es wirklich?"
Digger spürte, wie sich etwas Heißes in seinen Hals schob. Es schien tief aus seinem Inneren zu kommen. "Corin! Du hast nicht etwa deine Augen ..."
Diggers Beine wurden von der Gelatine umschlungen. Warm, zart.
Sieh, was dein Mann sieht, Digger! Sieh doch!
Immer tiefer.
"Oh Marten", rief Corin. "Wo zum Teufel warst du denn? Wir haben uns Sorgen gemacht. Digger! Sieh doch. Du meine Güte, hier ist ja alles anders. Was hat der Gunner denn fürn Mist erzählt? Marten, siehst du Digger dort unten in der Pfütze liegen. Digger, steh doch auf." Lachen.
Das andere Bein wurde ebenfalls umschlungen. Diggers Augen brannten, so fest hatte er die Lider aufeinander gepresst.
Öffne sie! Öffne sie!
Wie kommt es, dass Corin nichts passierte? Scheinbar hatte er ja bereits seit einiger Zeit die Augen auf.
"Corin! Hast du die Augen auf?"
"Ja klar hab ich sie auf." Wieder dieses freudige Lachen. Wann hatte er Corin das letzte Mal so freudig lachen gehört? Es musste eine Ewigkeit her sein. Es musste vor der Zeit gewesen sein, als ... Ja, als was eigentlich?
"Digger, komm zurück zu uns. Marten steht hier neben mir. Sieh nur, wie er lacht. Und winkt."
Öffne sie!
Diggers Druck auf die Augenlider nahm ab. Er zog den Arm wieder aus dem Morast heraus. Morast?
"Das sieht lustig aus, Dig. Wie du dich da in dem Schlammloch suhlst. Oh man, ist das Leben nicht herrlich? Was haben wir all die Jahre hindurch verpasst? Eingepfercht wie Vieh. Warte, Dig, ich komm dich holen. Vielleicht traust du dich dann ja, deine Augen zu öffnen." Lachen.
Öffne sie! Breite deine Arme aus und empfange deinen Mann!
"Dig."
"Corin", flüsterte Digger. Dann noch etwas leiser: "Ich liebe dich auch!"
Stampfende Schritte. Laufende Schritte. Werd mal nicht tuckig, alter Mann. Das war definitiv nicht Corins Stimme.
Digger öffnete die Augen.
Zuerst war es nur blendend hell. Aus der Helligkeit kristallisierte sich die schwarze Masse, in der er steckte, hervor. Digger sah sie überall. Ihre Ausläufer schwappten an die Häuser und sahen aus wie Hände, die nach den Fenstern des ersten Stocks griffen. Er sah Corins zerplatzten Leib im Türrahmen hängen, Arme und Beine gespreizt als seien sie an das Holz genagelt worden. Der gesamte Körper war von der Stirn bis hinunter zum Schritt geöffnet wie ein Buch und das dampfende Gedärm schwamm schillernd unter seinen Beinen. Irgendwas schien daran zu zerren und es hinunterziehen zu wollen. Schmatzende Laute drangen herüber.
Das Letzte, was Digger sah, war der Gunner, der neben dem Leichnam hockte und große Stücke Fleisch in Papier wickelte.
Willkommen, Digger, sagten die Stimmen. Willkommen in unserer Welt! Sei es auch die Deinige. Wusstest du nicht bereits, dass wir es immer schaffen?
Etwas platzte in seinem Kopf.