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Des Freundes neue Kleider

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03.05.2003
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Des Freundes neue Kleider

Letzte Woche traf ich mich mit meinem Freund Bernd in unserer gemeinsamen Lieblingskneipe, um mal wieder einen Kleinen zu heben. Doch ich erkannte ihn kaum wieder. Er saß am Tisch, das Kinn auf die Hand gestützt, die andere Hand geistesabwesend am Henkel seines Glases, und starrte trübsinnig ins Leere.
„Was ist los?“ fragte ich ihn. „Was machst du für ein Gesicht?“
Er runzelte die Stirn und seufzte tief, als wäre es kaum der Mühe wert, zu antworten, bevor er sagte: „Höre nie auf den Rat anderer Leute. Es ist zu deprimierend, wenn sich herausstellt, daß sie recht haben.“
Ich sah ihn abwartend an, bis er fortfuhr:
„Solange ich mich erinnern kann, war ich Junggeselle, und es ging mir gut dabei. Es ist nicht gerade so, daß ich mich dagegen gewehrt hätte, die Frau meines Lebens kennenzulernen, aber ich dachte, immer noch besser gar keine Frau als irgendeine.
Letztens sagt meine Großmutter zu mir: ‚Wenn du immer in diesen alten Klamotten herumläufst wie ein gewöhnlicher Arbeiter, lernst du nie eine richtige Frau kennen. Kauf dir doch mal was Anständiges anzuziehen.‘ Dann legt sie mir ein paar Scheine auf den Tisch und sagt: ‚Am Geld soll es jedenfalls nicht scheitern.‘ Was bleibt mir also übrig? Ich machte mich auf den Weg und legte mir all die Klamotten zu, die ich eigentlich schon immer mal haben wollte, aus Bequemlichkeit aber nie gekauft hatte.“
„Na und?“
Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und wischte sich den Mund ab.
„Nachdem ich mich eingehend im Spiegel bewundert hatte, ließ ich mich mit meinem nagelneuen Outfit, nach teurem Eau de Toilette duftend, in der Öffentlichkeit sehen. Und was soll ich dir sagen? Das Wunder geschah tatsächlich. Ich lernte wirklich eine Frau kennen. Sie war hübsch, gebildet, jung, selbständig. Genau das, was ich mir immer gewünscht hatte. Mahagonihaar. Nougataugen. Rosenblütenbetupftes Liliengesicht. Sie sagte, sie könnte unter allen Umständen nur mit einem gut gekleideten Gentleman mit guten Manieren zusammenleben.
Ich konnte es fast nicht glauben. Zuerst telefonierten wir häufig, dann trafen wir uns, gingen ins Kino, essen, in die Oper. Schließlich fragte ich sie, ob sie mich nicht einmal besuchen wollte. Sie antwortete, sie habe schon gedacht, ich würde sie nie fragen. Also kaufte ich mir extra eine neue Fliege und ein noch teureres Eau de Toilette und öffnete ihr frisch frisiert, rasiert und gebügelt die Tür.
Es lief genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zuerst plauderten wir, ich zeigte ihr meine neuen Computerspiele, später hörten wir Musik, tranken Sekt, tanzten ein wenig, und schließlich kamen wir einander näher. Wir küßten und liebkosten uns, und ihre Augen funkelten wie Wunderkerzen in der Sylvesternacht. Ihr Mahagonihaar rieselte knisternd in mein Gesicht. Und dann kam der Höhepunkt des Abends.“
Er verstummte und machte ein überaus verdrossenes Gesicht.
„Ja und?“ drängte ich. „Das ist doch toll.“
„Nein, ist es nicht. Wir kamen einander noch näher, und weißt du, was sie gesagt hat, als ich nackt vor ihr stand?“
„Nein.“
„Sie hat mich enttäuscht angesehen und gesagt, nackt sehe ich genauso aus wie alle anderen Männer auch. Und dann hat sie gesagt, sie glaube, sie müsse jetzt gehen.“
Er stützte das Kinn wieder in die Hand und starrte trübsinnig vor sich hin.
Ich atmete auf. Es hätte mein Weltbild im Innersten erschüttert, wenn er Erfolg gehabt hätte. Es hätte bedeutet, daß ich seit fünfzehn Jahren mit meiner braven, wackeren Frau zusammenlebte, obwohl ich eine Traumfrau hätte haben können. Ich räume ein, modisch gesehen mache ich nicht viel her. Aber ich kann zumindest guten Gewissens behaupten, daß ich nie äußerlich etwas vorgetäuscht habe, das innerlich nicht vorhanden ist.

 

Hallo Qwertz!

Das ist mir aus der Seele geschrieben. Ein Mann, der wirklich was drauf hat, muss sich nicht herausputzen wie ein Heiratsschwindler, sondern kann rumlaufen wie Inspektor Colombo.

Grüße gerthans

 

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