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Der Zusammenhang zwischen abwesenden Gliederfüßern und drohender Gefahr
Das unverkennbarste Anzeichen von drohender Gefahr ist das Fehlen jeglicher Geräusche von Insekten. Diesen Gedanken dachte Mario zuerst, als er und Baumann sich der Tatsache stellen mussten, dass sie sich hoffnungslos in diesen zermürbenden Wäldern verirrt hatten. Er hatte es in zahlreichen Horrorgeschichten gelesen, außerdem in einem Roman, in dem es um geklonte Dinosaurier in einem Vergnügungspark der heutigen Zeit ging.
“Hörst du was?”, fragte er Baumann mit aller Coolness, die er aufbringen konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er in dieser Reihenfolge jenes: einen geifernden Tyrannosaurus Rex, der durchs Unterholz brach, um ihn zu verschlingen, eine Rotte kannibalischer Vampirgeister, die es auf Blut abgesehen hatte, einen tollwütigen Dackel, der dringend in ein Bein beißen musste, um zu überleben und einen axtschwingenden Irren, der eine … nun ja, was sonst … Axt schwang, aber das auf blutrünstigste Art und Weise.
“Nö”, sagte Baumann unbeteiligt. “Was sollte ich denn hören?”
“Ja, nun eben irgendetwas. In erster Linie aber Insekten.”
“Insekten?”, erkundigte sich Baumann blöde, der in seinem ganzen Leben noch nie irgendwas gelesen hatte - noch nicht mal so was Triviales wie Horrorgeschichten. “Warum sollte ich Insekten hören?”
“Wenn man keine Insekten hört - zirpende Grillen oder … äh, wie tun Zikaden?”
“Woher soll ich wissen, wie Scheiß-Zikaden tun?”, brummte Baumann genervt, überlegte dann aber doch angestrengt. “Ich würde sagen, sie grisseln.”
Mario blieb ein Moment ungläubig stehen. “Sie grisseln?”
Baumann verdrehte die Augen. “Oder sie ratzeln. Du weißt schon.” Er machte ein Geräusch, das wie chrrrrrrr klang.
Mario grübelte eine Weile darüber nach, sprach das Wort einige Male im Stillen aus. “Nee, dann grisseln sie eher.” Er nickte zufrieden.
“Worauf willst du eigentlich hinaus?”, fragte Baumann, der langsam die Geduld verlor.
“Äh, ja. Also, wenn du keine Insekten hörst, keine zirpenden Grillen, keine grisselden Zikaden …”, Baumann reagierte mit einem warnenden Seitenblick. “Dann passiert in der Regel was Furchtbares! Habe ich … irgendwo aufgeschnappt.” Er wollte eigentlich “gelesen” sagen, aber bei Analphabeten wie Baumann musste man vorsichtshalber auf Nummer sicher gehen. “Wenn du keine Insekten hörst, lauert immer irgendwas Schlimmes hinter der nächsten Möglichkeit, wo es sich gut lauern lässt.”
“Das ist das Blödeste, was ich je gehört habe.”
“Findest du?”, Mario war erleichtert. Wenn Baumann keine Furcht verspürte, sich nicht wegen irgendein paar fehlender Insektengeräusche sofort in die Hose machte, war alles gut.
“Auf der anderen Seite”, hob Baumann an und schaute furchtsam zu den Bäumen am Wegrand hinüber. “ Klingt das irgendwie ganz plausibel.” Peng.
Mit dieser Einschätzung hatte Baumann, das wusste Mario, noch während ihm das Herz in die Kniekehlen oder womöglich noch tiefer sackte, ihrer beider Todesurteile unterschrieben.
Insektenparlamente haben sehr, sehr viele Sitze. Bei einer dermaßen zahlreichen Lebensform ist das unabdingbar. Stühle über Stühle. Im Vergleich dazu geht es bei dem Parlament einer überschaulicheren Art, wie zum Beispiel dem des Java-Nashorns mit nur ungefähr vierzig Plätzen, leider fast ausgestorben zu.
Das Insektenparlament immer noch im gleichen Wald, aber akustisch zu weit entfernt von der Stelle, an der sich Mario und Baumann bald befinden würden, versammelte sich. Zunächst schwirrten die Motten an, die ewigen Zufrühkommer - nicht weil sie es unbedingt wollten, sondern weil sie vom Licht angezogen wurden. Aber dann trudelten schließlich auch die übrigen der Klasse Insecta ein, sodass es bald im Saal nur so summte und brummte. Einige Termiten, die sich auf den oberen Rängen tummelten, ließen ihren "Flugzeugblick" über die tieferen Tribünen unter ihnen schweifen.
"Schau mal. Von dieser Höhe sehen die Ameisen da unten fast wie Menschen aus."
Irgendwann wurde der Geräuschpegel abrupt durch den Hammer des ehrenwerten Präsidenten, eines grün schimmernden Hirschkäfers, zum Schweigen gebracht.
“Ich möchte heute ein ernstes Thema ansprechen”, rief er. “Es betrifft den Tod. Unseren Tod!” Leichenstill wandten sich alle Facettenaugen auf ihn. “Er betrifft unsere Spezies doch sehr. Keine andere Art wird wie wir mit Füßen getreten.”
“Hört, hört!”, rief ein Kakerlak aus der Menge.
“Zahlenmäßig sind wir viele. Und sterben tun wir ebenfalls zahlreich!”
Ein Raunen verschiedenster Stimmen schwoll durch die Reihen. Mücken sirrten, Falter säuselten, Libellen zwitscherten, Schaben zischten - ein einziger Chor der Zustimmung.
Der Hirschkäfer schlug mit den Flügeln um Grasshüpfer, Stabheuschrecken, Wanderameisen und weiteres wieder zur Ruhe zu bringen. Als dies geschehen war, setzte er wieder an. “Unsereins wird gefressen, zertreten, verbrannt, aufgesaugt, erschlagen, zerquetscht, in Honig eingelegt und gegessen - krank, nenne ich das - versehentlich eingeatmet, mit riesigen spitzen Zungen aufgeleckt …”
“Die Langnasigen!”, hauchten die Formicidae entsetzt.
“… aufgespießt, eingefroren, zerhäckselt von denen, die Rasenmäher genannt werden, geklatscht, eingesprüht, vergiftet, ertränkt, verbrüht und elektronisch gebraten!”
“Manchmal werden wir auch mit Gläsern rausgesetzt”, ließ sich eine Wespe vernehmen.
“Dabei verlieren wir aber schon mal das eine oder andere Bein!”, grollte jemand links außen, woraufhin ein hysterischer Aufschrei folgte.
“Eine Spinne! Es ist eine Spinne anwesend!”
Sogleich geriet der ganze Saal in Aufruhr. Viele Beine, aber nie mehr als sechs, gerieten in panisches Getrappel, bemüht von der Seite wegzukommen, wo der Arachnide es sich scheinbar bequem gemacht hatte. Von überall her gellten Schreie wie “Spinne! Wo?”, “Oh Gott, nein!” und “Nehmt sie weg! Nehmt sie weg!” im plötzlich entstandenen Durcheinander.
“Euresgleichen haben hier kein Zutritt!”, brüllte der Präsident. “Ihr seid keine Insekten!” Er winkte einigen Hornissen mit Ordnerbinden zu. “Entfernt diesen … dieses Subjekt!”
“Ja, genau!”, kreischte ein Tausendfüßler der sich in rechter Sicherheit wähnte und von der Tatsache ablenken wollte, dass er auf dem Weg zum Parlament der Myriapoda falsch abgebogen war. “Verschwinde du achtbeiniger Spinner!”
Die Hornissen näherten sich im Formationsflug und mit drohenden Stacheln dem Eindringling. Dieser nahm die Gefahr wahr und wuselte wieselflink aus der Gefahrenzone, hinein in eine dunkle Ecke.
“Das machen sie immer!”, rief eine weibliche Schnake. “Ich hasse sie!”
Mit der Flucht der Spinne beruhigten sich die Anwesenden und nahmen wieder auf ihren zugedachten Sitzen platz, wenngleich sie sich nervös in die Richtung umblickten, in die das gattungsfremde Tier verschwunden war.
“Ich weiß manchen hier erscheint unser Benehmen hinsichtlich dieser Typen als zu orthodox und nicht offen für andere Gliederfüßer, wie auch wir welche sind”, erklärte der Nashornkäfer apologetisch. “Aber wir haben richtig gehandelt, denn Spinnen fressen Insekten! Ja, ich wiederhole es - sie fressen uns!”
Empörte “Nein” und “Mörder” Rufe wurden laut.“ Nur eine Schlupfwespe errötete, und nuschelte kleinlaut: “Aber es lässt sich ganz gut seine Brut in ihnen einnisten.” Niemand schenkte ihr groß Beachtung, denn die Schlupfwespe galt als Prolet und außerdem war sie ein wenig pervers.
“Doch! Und da wären wir wieder beim eigentlichen Thema. Nicht nur werden wir von Spinnen, Vögeln, Echsen, Fledermäusen, Ameisenbären und manchmal sogar Fischen verspeist, nein - selbst Pflanzen fressen uns! Ich meine, herrje, Pflanzen! Wie peinlich ist das denn!”
“Und dann diese trügerischen Namen”, erboste sich eine Schwebefliege. “Venusfliegenfalle! Hallo? Wie soll man das denn wissen, dass die tabu ist!”
“Aber, was das aller Beschämendste ist … wir fressen uns sogar selbst.”
Alle Blicke richteten sich anklagend auf eine Gottesanbeterin, die abwehrend die Arme nach oben hielt, was ein Reflex hätte sein können.
“Ach, tu doch nicht so fromm”, wütete ein Schmetterling. “Wir sehen alle den leeren Stuhl neben dir. Da saß gerade noch dein Sitz- und Ehepartner!” Die Angesprochene wandte den Blick ab, sie konnte keinem in die Augen sehen, solange sie noch verdächtig an irgendwelchen Überresten kaute.
“Machen wir uns nichts vor.” Der Hirschkäfer-Präsident rasselte betrübt mit seinem Chintinpanzer. Wir sind eine oft getötete Art. Es ist eine Schande.”
“Stimmt.” Eine Küchenschabe, die entweder von natürlicher Färbung oder aus Wut kupferrot geworden war, hatte sich erhoben. “Was nützt es mir, wenn ich einen nuklearen Fallout überleben kann, aber keinen Schuh! Das ist nicht nur lächerlich. Das ist einfach nur Kacke!”
Bei der Erwähnung von Kot dachten einige Schmeißfliegen mit tropfendem Rüssel sehnsüchtig an ihr Lunchpaket.
“Und dann noch die Zweibeiner. Sie sind viel schlimmer als die Fressfeinde. Metzeln uns aus reiner Langeweile. Da hilft langfristig nur eins. Wir müssen uns wehren!” Der Präsident schüttelte ein mit Widerhaken versehenes Bein.
“Tun wir ja!”, schrieen die Wespen und Hornissen unisono. “Manchmal sterben sie, wenn wir sie stechen.”
“Und wir Bienen erst. Wir sind die Schrecken aller Allergiker! Doof ist nur, dass wir dann auch sterben. Da überlegt man sich das schon zweimal.”
“Halt die Fresse, Maja!”
Herausfordernd starrte ein Moskito in die Runde. “Wir bringen fiese Krankheiten, die sie dahinraffen. Zählt das nichts?”
“Und mein Vetter ist mal einem Radfahrer in den Hals geflogen”, verkündete eine Zikade stolz. “Der ist an ihm erstickt. Das nenne ich Widerstand. Das nenne ich Résistance.” Ein peinliches Schweigen folgte, irgendwo zirpte eine vereinzelte Grille.
“Ja, wir sind vielleicht für einige Todesfälle verantwortlich, was Mensch und Tier anbelangt. Aber reicht das aus? In Relation zu unseren Opferzahlen. Ist das gerecht, frage ich euch?” Resignation sorgte dafür, dass der Präsident und alle Anwesenden die Fühler hängen ließen. Für eine ganze Weile sagte niemand mehr etwas, jeder raschelte und knisterte nur betrübt vor sich hin.
“Ach. Es ist zwecklos”, seufzte der Parlamentsoberste schwermütig. “Gestehen wir es uns ein: sie werden uns immer töten oder fressen. Weil wir so viele sind. Sie sagen sich, ach, es gibt ja genug von uns und in Klammern denken sie sich (außerdem sind sie so ekelig). Nein, sehen wir der Tatsache ins Auge, sie werden uns weiterhin in Mengen ermorden.”
“Und in so eine Welt werde ich meine tausend Eier legen”, schluchzte eine Kriebelmücke, vielleicht war es auch eine Gnitze.
Und da, aus einer Schreckensvision heraus, sprach es plötzlich ein Kartoffelkäfer aus: “Und was ist, wenn sie uns irgendwann alle erwischen? Ja, noch sind wir viele. Aber wenn das Sterben auf diese Weise weitergeht? Stellt euch das vor: eine Welt ohne Insekten!”
Ein undenkbarer Gedanke, ein apokalyptischer Horror. Betroffen rutschten diverse Anwesende auf ihren Stühlen herum. Einige Eintagsfliegen starben vor Schreck, aber noch mehr an Alterschwäche.
Ein alter Holzrüsselbohrer erhob sich steif, blickte melancholisch in die Runde und sagte schließlich: “Dann müssen sie in dieser Welt leben. Eine Welt ohne Insekten? Ich wage es nicht, mir das vorzustellen. Aber dann sollen sie darin leben. Und vielleicht, ganz vielleicht nur, passiert ja was ganz Schlimmes, wenn wir nicht mehr da sind …”.
Darüber grübelten alle eine Weile nach.
“So soll es sein!”, schloss der Präsident feierlich. “Und jetzt zum nächsten Tagespunkt. Ehrensold.”
Was Mario und Baumann nicht wussten: Das unverkennbarste Anzeichen von drohender Gefahr ist nicht das Fehlen jeglicher Geräusche von Insekten, sondern ganz allgemein das Fehlen von Insekten.
“Und hörst du was?”, fragte ein mittlerweile verzweifelter Mario einen angestrengt und furchtsam lauschenden Baumann.
“Gar nichts.”
Sie gingen weiter, zitternd aneinandergedrängt. Die Bäume am Wegesrand streckten ihre knorpeligen Finger über den Pfad nach ihnen aus. Der fressbereite T-Rex und die bluthungrigen kannibalischen Vampirgeister ließen auf sich warten. Ebenso empfing sie kein tollwütiger Dackel. Mario atmete innerlich auf. Vielleicht hatte er doch zu viele Horrorgeschichten gelesen.
“Weißt du was, Baumann, vielleicht ist das doch alles Schwachsinn mit den Insekten. Vergiss, dass ich es erwähnt habe.”
Der axtschwingende Irre war kein Horror, sondern ganz und gar real. Er lauerte hinter einer besonders Deckung gebietenden Eiche nur einige Schritte von Mario und Baumann entfernt. Der Wald war geräuschlos. Und das war gut so. Nicht eine Grille zirpte in den Gräsern, nicht eine Zikade grisselte oder ratzelte im Unterholz. Nicht ein Insekt war da. Das war das Zeichen. Der axtschwingende Irre verließ seine Deckung, schwang seine Axt besonders blutrünstig und holte aus.
Eine hungrige Spinne krabbelte einsam über den Oberschenkel des Irren, als er gerade damit beschäftigt war mit einem Papiertaschentuch seine Axt zu säubern. Überrascht schaute er auf den achtbeinigen Gast hinunter. Er stutzte kurz, zuckte dann aber nur milde mit den Achseln. “Du zählst nicht," sagte er. "Du bist kein Insekt.” Damit war er vollkommen im Recht.