Der Zug nach Nirgendwo
Einmal hatte ich nicht aufgepasst und erwachte in einem feindlichen Land, welches mich schon immer umgeben hatte wie Dunkle Materie. Zuvor war ich auf einer Kunstmesse gewesen am südlichsten Zipfel Niedersachsens, hatte anschließend noch einige Drinks in einer Bar zu mir genommen. Nach Mitternacht war ich eingenickt im Zug auf der Rückfahrt. Als ich aufwachte, und auf meine Armbanduhr linste, wurde die Bahn gerade langsamer. Ich glaubte, in Göttingen wäre jetzt der Halt und stieg aus, noch etwas schlaftrunken und vom Alkohol benebelt. Schnell wurde mir klar, dass ich an einer falschen Station ausgestiegen war, als der Zug bereits weiter fuhr.
Ich registrierte das Haltestellenschild auf dem Bahnsteig mit der Aufschrift Friedland, schlenderte weiter. Es war hier alles dumpf beleuchtet; der eigentliche Ort musste sich weiter entfernt befinden. Jedenfalls sah ich im Umkreis keine Häuser. An einer großen schmutzigweißen Blechtafel hielt ich inne. Da stand irgendetwas in Russisch drauf in Druckbuchstaben. Mir ging kurz durch den Kopf, dass hier ein Lager für Aussiedler sein müsste. Ich aber dachte mehr an Sibirien. Denn die Eiseskälte in jener Nacht fraß sich durch meinen Winterparka; der scharfe Wind wirbelte Schnee auf wie Mehlstaub. Ein kleines Bahnhofsgebäude war gespenstisch in Dämmerlicht getaucht, lud mich ein, die Nacht dort zu verbringen, denn vor dem nächsten Morgen um sechs Uhr würde hier kein Zug halten, wie ich anschließend aus dem angeschlagenen Fahrplan entnahm. Geheizt wurde nicht. Der spärliche Raum mit der Sitzbank strahlte ohnehin schon Kälte aus. Ich sorgte mich, dass ich erfrieren könnte, würde ich mich auf die Bank zum Schlafen legen.
Seitlich war da eine Holztür, und ich fummelte mit den Schlüsseln von meinem Bund am Schlüsselloch herum, in der blöden Hoffnung, sie würde sich öffnen und ich in einen beheizten Bereich gelangen. Die Tür wurde zu meinem Entsetzen von innen aufgerissen. Ein Bahnbediensteter hielt drohend eine Eisenstange in seiner erhobenen Rechten. Überrascht und kleinlaut sagte ich ihm, ich hätte nur mal so meine Schlüssel ausprobieren wollen. Er antworte im scharfen Ton, ich solle sehen, dass ich mich davon mache, sonst würde er die Polizei holen. Ich trollte mich lieber und verließ das Bahnhofsgelände, geriet auf eine lang sich dahinziehende punktuell beleuchtete Allee. Ein unbarmherziger Wind peitschte mir ins Gesicht, drohte mich auszukühlen. Wenn ich dort mein Bewusstsein verlieren würde, wäre es das Ende. Kein Mensch weit und breit, der mir zu Hilfe kommen könnte. Gäbe es in der Nähe eine Telefonzelle, könnte ich nicht mal ein Taxi rufen; mein Geld war aufgebraucht und eine EC-Karte besaß ich nicht.
Ich versuchte mich aufzuwärmen, indem ich an mein gemütliches Einzimmerappartement dachte, nur eine Haltestelle weiter, mit der Bahn acht Minuten; anschließend im Umsteiger noch eine kurze Strecke. In meiner Jugendzeit hatte ich immer davon geträumt, Trapper in Alaska zu werden. Da hätte ich gewusst, was zu tun wäre. Ein Lagerfeuer hätte ich gemacht. Aber hier würde in fünf Stunden ein Zug kommen. Solange würde ich mich wach halten und mir Bewegung verschaffen.
Ich schlurfte an den ersten Häusern vorbei; in einigen brannte noch Licht. Es war die Nacht von Samstag auf Sonntag. Die meisten brauchten nicht zur Arbeit in der Frühe, tranken vielleicht Bier. Ich hatte im Rucksack noch zwei Dosen, doch kein Verlangen danach in dieser bitteren Kälte. Eigentlich hätte ich irgendwo an der Haustür klingeln und meine Lage, die Verfehlung des richtigen Halts, den Leuten erklären können. Aber Fremden trauten sie nicht, befürchtete ich, und sie würden mich abweisen. An einem hellerleuchteten Haus, aus dem lachendes Stimmengewirr tönte, versuchte ich dennoch mein Glück. Eine junge Frau öffnete die Tür einen Spalt. Bevor ich ihr meine Situation schildern konnte, rief sie ein paar kräftige Burschen zur Unterstützung herbei, um mich zu vertreiben. Wenn ich meine Bankerklamotten, Anzug und Mantel, angehabt hätte, ob sie mich dann ebenfalls verscheucht hätten? Ich musste aber ausgerechnet heute in einem schlabberigen Armylook daherkommen, mit handgemalten Sprüchen drauf von Drogen und so. Schien mir für eine Kunstausstellung passend.
Wenn ich es gar nicht mehr aushielte, würde ich die Polizei rufen. Dann dachte ich an die Warnung des Bahnbediensteten und dass er die Polizei vielleicht verständigt hatte. Die hielten mich demnach für einen Einbrecher. Ich sah seitlich von mir ein Gotteshaus. Doch das war gewiss auch verschlossen. Ich überprüfte es erst gar nicht. Und beim Pastor klingeln? Rundherum die Bungalows hüllten sich in Finsternis.
Vielleicht gab es das Aussiedlerlager noch und sie würden mich hereinlassen auf ein Tasse Kaffee zum Aufwärmen. Ich war ja nun auch so etwas wie einer ohne Heimat, jedenfalls für ungefähr fünf Stunden. Aber ich war nicht legitimiert und man durfte mich nicht reinlassen. Ich drehte ab, retour Richtung Bahnhof, schaute im Licht einer Straßenlaterne auf meine Armbanduhr. Die Zeit schien eingefroren genau wie ich, der sich wie eine Schnecke in einer feindlichen Gegend bewegte. Nur ungefähr fünfunddreißig Kilometer Luftlinie entfernt herrschten die gleichen Verhältnisse. Dort kannte mich auch keiner, dort war ebenfalls Sibirien, dort wäre ich genauso verreckt wie hier, würde sich da nicht dieses winzige Stück Heimat befinden, meine kleine Mietwohnung, eine Zuflucht, eine Enklave mitten in Sibirien. Jedoch befand ich mich gefühlt mindestens fünfzig Lichtjahre davon entfernt.