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Der Zug nach Nirgendwo

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10.05.2007
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Der Zug nach Nirgendwo

Einmal hatte ich nicht aufgepasst und erwachte in einem feindlichen Land, welches mich schon immer umgeben hatte wie Dunkle Materie. Zuvor war ich auf einer Kunstmesse gewesen am südlichsten Zipfel Niedersachsens, hatte anschließend noch einige Drinks in einer Bar zu mir genommen. Nach Mitternacht war ich eingenickt im Zug auf der Rückfahrt. Als ich aufwachte, und auf meine Armbanduhr linste, wurde die Bahn gerade langsamer. Ich glaubte, in Göttingen wäre jetzt der Halt und stieg aus, noch etwas schlaftrunken und vom Alkohol benebelt. Schnell wurde mir klar, dass ich an einer falschen Station ausgestiegen war, als der Zug bereits weiter fuhr.

Ich registrierte das Haltestellenschild auf dem Bahnsteig mit der Aufschrift Friedland, schlenderte weiter. Es war hier alles dumpf beleuchtet; der eigentliche Ort musste sich weiter entfernt befinden. Jedenfalls sah ich im Umkreis keine Häuser. An einer großen schmutzigweißen Blechtafel hielt ich inne. Da stand irgendetwas in Russisch drauf in Druckbuchstaben. Mir ging kurz durch den Kopf, dass hier ein Lager für Aussiedler sein müsste. Ich aber dachte mehr an Sibirien. Denn die Eiseskälte in jener Nacht fraß sich durch meinen Winterparka; der scharfe Wind wirbelte Schnee auf wie Mehlstaub. Ein kleines Bahnhofsgebäude war gespenstisch in Dämmerlicht getaucht, lud mich ein, die Nacht dort zu verbringen, denn vor dem nächsten Morgen um sechs Uhr würde hier kein Zug halten, wie ich anschließend aus dem angeschlagenen Fahrplan entnahm. Geheizt wurde nicht. Der spärliche Raum mit der Sitzbank strahlte ohnehin schon Kälte aus. Ich sorgte mich, dass ich erfrieren könnte, würde ich mich auf die Bank zum Schlafen legen.

Seitlich war da eine Holztür, und ich fummelte mit den Schlüsseln von meinem Bund am Schlüsselloch herum, in der blöden Hoffnung, sie würde sich öffnen und ich in einen beheizten Bereich gelangen. Die Tür wurde zu meinem Entsetzen von innen aufgerissen. Ein Bahnbediensteter hielt drohend eine Eisenstange in seiner erhobenen Rechten. Überrascht und kleinlaut sagte ich ihm, ich hätte nur mal so meine Schlüssel ausprobieren wollen. Er antworte im scharfen Ton, ich solle sehen, dass ich mich davon mache, sonst würde er die Polizei holen. Ich trollte mich lieber und verließ das Bahnhofsgelände, geriet auf eine lang sich dahinziehende punktuell beleuchtete Allee. Ein unbarmherziger Wind peitschte mir ins Gesicht, drohte mich auszukühlen. Wenn ich dort mein Bewusstsein verlieren würde, wäre es das Ende. Kein Mensch weit und breit, der mir zu Hilfe kommen könnte. Gäbe es in der Nähe eine Telefonzelle, könnte ich nicht mal ein Taxi rufen; mein Geld war aufgebraucht und eine EC-Karte besaß ich nicht.

Ich versuchte mich aufzuwärmen, indem ich an mein gemütliches Einzimmerappartement dachte, nur eine Haltestelle weiter, mit der Bahn acht Minuten; anschließend im Umsteiger noch eine kurze Strecke. In meiner Jugendzeit hatte ich immer davon geträumt, Trapper in Alaska zu werden. Da hätte ich gewusst, was zu tun wäre. Ein Lagerfeuer hätte ich gemacht. Aber hier würde in fünf Stunden ein Zug kommen. Solange würde ich mich wach halten und mir Bewegung verschaffen.

Ich schlurfte an den ersten Häusern vorbei; in einigen brannte noch Licht. Es war die Nacht von Samstag auf Sonntag. Die meisten brauchten nicht zur Arbeit in der Frühe, tranken vielleicht Bier. Ich hatte im Rucksack noch zwei Dosen, doch kein Verlangen danach in dieser bitteren Kälte. Eigentlich hätte ich irgendwo an der Haustür klingeln und meine Lage, die Verfehlung des richtigen Halts, den Leuten erklären können. Aber Fremden trauten sie nicht, befürchtete ich, und sie würden mich abweisen. An einem hellerleuchteten Haus, aus dem lachendes Stimmengewirr tönte, versuchte ich dennoch mein Glück. Eine junge Frau öffnete die Tür einen Spalt. Bevor ich ihr meine Situation schildern konnte, rief sie ein paar kräftige Burschen zur Unterstützung herbei, um mich zu vertreiben. Wenn ich meine Bankerklamotten, Anzug und Mantel, angehabt hätte, ob sie mich dann ebenfalls verscheucht hätten? Ich musste aber ausgerechnet heute in einem schlabberigen Armylook daherkommen, mit handgemalten Sprüchen drauf von Drogen und so. Schien mir für eine Kunstausstellung passend.

Wenn ich es gar nicht mehr aushielte, würde ich die Polizei rufen. Dann dachte ich an die Warnung des Bahnbediensteten und dass er die Polizei vielleicht verständigt hatte. Die hielten mich demnach für einen Einbrecher. Ich sah seitlich von mir ein Gotteshaus. Doch das war gewiss auch verschlossen. Ich überprüfte es erst gar nicht. Und beim Pastor klingeln? Rundherum die Bungalows hüllten sich in Finsternis.

Vielleicht gab es das Aussiedlerlager noch und sie würden mich hereinlassen auf ein Tasse Kaffee zum Aufwärmen. Ich war ja nun auch so etwas wie einer ohne Heimat, jedenfalls für ungefähr fünf Stunden. Aber ich war nicht legitimiert und man durfte mich nicht reinlassen. Ich drehte ab, retour Richtung Bahnhof, schaute im Licht einer Straßenlaterne auf meine Armbanduhr. Die Zeit schien eingefroren genau wie ich, der sich wie eine Schnecke in einer feindlichen Gegend bewegte. Nur ungefähr fünfunddreißig Kilometer Luftlinie entfernt herrschten die gleichen Verhältnisse. Dort kannte mich auch keiner, dort war ebenfalls Sibirien, dort wäre ich genauso verreckt wie hier, würde sich da nicht dieses winzige Stück Heimat befinden, meine kleine Mietwohnung, eine Zuflucht, eine Enklave mitten in Sibirien. Jedoch befand ich mich gefühlt mindestens fünfzig Lichtjahre davon entfernt.

 
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Hallo Betula!
Dankeschön für die Veröffentlichung der Geschichte.
Die Idee ist zwar nicht wirklich neu, aber ich war neugierig gewesen, wie es weitergeht.
Die kühle Atmosphäre, die seltsame Gegend, die (wenigen) sonderbaren Leute, ich fand es gut.
Doch mittendrin hört die Geschichte einfach auf.
Wie geht's weiter?
Kommt er dort wieder weg?
Wo und warum ist er dort? (Oder ist er tatsächlich in Sibirien, war er nicht vorher in Deutschland?)
Warum sind die Leute so seltsam? (Und wenn er tatsächlich in Sibirien ist, warum können die alle seine Sprache, oder kann er die Fremdsprache verstehen?)
Du baust eine Atmosphäre auf, die mich stetig neugierig auf die Geschichte macht und plötzlich ist Schluss.
Schade!

Mein Fazit:
Gute Geschichte mit dichter Atmosphäre, die plötzlich einfach endet.
Ich würde mich echt freuen, wenn du diese weiterschreiben würdest.

Lg
MyStoryWorld

 
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Hallo Betula,

zuerst will ich dir meine Vermutungen zum Inhalt offenbaren. Ich zähle mal ein paar Schlüsselbegriffe auf:
"Nirgendwo", "feindliches Land", "falsche Station", "Eiseskälte", "spärlicher Raum", "Eisenstange (als Waffe)", mein Geld war aufgebraucht". Das alles passt auf die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland. Ein wichtiges Thema.

Aber dann gibt es auch Indizien dafür, dass dein Prota doch nur ein ein wehleidiger Single um die dreißig ist. Auch das könnte eine gute Story abgeben. Leider lässt mich das plötzliche Ende ratlos zurück. Vielleicht ist dein Ich-Erzähler nur einer, der mal kurz einen Trip ins Unbehauste gewagt hat?

Fortsetzung unbedingt erwünscht!

Zu Schreibstil nur kurz: Er ist klar und präzise, etwas Tempo würde ihm guttun. Es müssen nicht immer vollständige Sätze sein.

Freundliche Grüße

wieselmaus

 
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Hallo Betula,

deine Geschichte hat mir wirklich gut gefallen.

Ich habe mich einmal in einer vergleichbaren Situation befunden und konnte daher die Stimmung und Gefühle des Prot. sehr gut nachvollziehen. Auch wenn es damals im Vergleich glimpflicher ausgegangen ist, erinnere ich mich eigentlich nicht so gerne daran. Beim Lesen des Textes war das aber anders. Von daher danke ich dir für diese, für mich persönlich aufarbeitende Wirkung.

Mit dem Ende hatte ich keine Probleme. Natürlich fragt man sich, wie es weiter geht. Musst du aber nicht unbedingt erzählen, wie ich finde. Es kann durchaus auch mal offen sein.
Da ich mich aber, wie oben erwähnt, so stark mit dem Prot. identifiziert habe, habe ich ihm während des Lesens natürlich ein Happy End gewünscht. Im Nachhinein bin ich aber froh das es nicht dazu gekommen ist. Neben meiner ganz allgemeinen Abneigung gegen derartiges, hätten die Gedanken deiner letzten Zeilen nicht ihre volle Wirkung entfaltet.

Was ich aber anzumerken habe, sind die z.T. recht drastischen Vorstellungen deiner Hauptfigur, dass er sich sicher ist, er würde "verrecken". Auch dabei kann ich nachvollziehen, dass einem solche Gedanken kommen Dass dies aber in einem deutschen Siedlungsgebiet wahrscheinlich ist, halte ich dann doch für eher unrealistisch.

Sprache ist gut zu lesen.

Grüße,
D.H.K.

 

Hallo Betula,

ich habe gerade deinen Text gelesen und bin ein wenig ratlos. Zum einen, weil mir eine richtige Handlung fehlt: Dein Protagonist wandelt umher und erreicht nicht viel. Zusätzlich finden die wenigen Teile, die spannend werden könnten (er rtifft den Bahnangestellte, er fragt die Bewohner des Hauses) allesamt in indirekter Rede statt. Vielleicht hast du Lust,zum Vergleich eine zweite Version zu schreiben. Und in dieser lässt du die Personen in direkter Rede und Echtzeit aufeinander prallen. Ich denke, dass das deine Geschichte bereichern könnte.

Und zum anderen denke ich, dass man sprachlich hier noch viel rausholen kann:
Manche Sätze bestehen einfach aus zu vielen Teilsätzen, die jeder besser zur Geltung kommen, wenn man sie trennt:

Schnell wurde mir klar, dass ich an einer falschen Station ausgestiegen war, als der Zug bereits weiter fuhr.
Besser: Schnell wurde mir klar, dass ich an der falschen Station ausgestiegen war. Aber der Zug führ bereits weiter Durch kürzere Sätze erhöhst du das Tempo. Gerade wenn du einen Satz mit 'Schnell' beginnst, als ob tatsächlich gerade etwas schnell gehen würde, passt es weniger, einen ewig langen Satz dran zu hängen.
Ein kleines Bahnhofsgebäude war gespenstisch in Dämmerlicht getaucht, lud mich ein, die Nacht dort zu verbringen, denn vor dem nächsten Morgen um sechs Uhr würde hier kein Zug halten, wie ich anschließend aus dem angeschlagenen Fahrplan entnahm.
Besser wäre es, daraus zwei Sätze zu machen. Das Bahnhofsgebäude hat einen eigenen Satz verdient! :)

Außerdem hast du Wendungen dabei, mit denen du dir offensichtlich viel Mühe gegeben hast und starke Bilder hervorrufen:

umgeben hatte wie Dunkle Materie.
die Eiseskälte in jener Nacht fraß sich durch meinen Winterparka
der scharfe Wind wirbelte Schnee auf wie Mehlstaub.
unbarmherziger Wind peitschte mir ins Gesicht
Haus, aus dem lachendes Stimmengewirr tönte
Ein kleines Bahnhofsgebäude war gespenstisch in Dämmerlicht getaucht,
Diese Stellen an sich finde ich gut, wenn auch stellenweise zu dramatisch und ein wenig bemüht wirkt. Allerdings stehen sie in starkem Kontrast zu manch anderer Stelle in deinem Text. Die Sprache ist nicht einheitlich.
Jedenfalls sah ich im Umkreis keine Häuser.
Da stand irgendetwas in Russisch drauf in Druckbuchstaben.
Seitlich war da eine Holztür,
Ich aber dachte mehr an Sibirien.
mit handgemalten Sprüchen drauf von Drogen und so
Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.
Andere Sätze wiederum könnte man verbessern, indem man einzelne Worte austauscht oder die Wortgruppen im Satz umstellt:
Nach Mitternacht war ich eingenickt im Zug auf der Rückfahrt.
Besser: Auf der Rückfahrt bin ich im Zug eingenickt. Es war nach Mitternacht.
dumpf beleuchtet
Ein Ton oder ein Schmerz kann dumpf sein, Licht dagegen weniger.
ich war nicht legitimiert
Zu hochtrabend.

Vielleicht hilft dir ja das ein oder andere bei der Verbesserung.

Liebe Grüße
Zantje

 

Danke euch, fürs Lesen und Verbesserungsvorschläge. Allerdings sehe ich für mich keinen
Grund etwas zu verändern. Der Erzähler soll nah am Erlebten sein. Deshalb würde hier auch eine direkte Rede der
Nebenfiguren störend wirken. Wenn der Erzähler nun emotional eingebunden erscheint, darf er natürlich auch schon mal
ein wenig übertreiben. Jedoch, wenn er ohnmächtig geworden wäre auf der nachts unbefahrenen Allee vom Bahnhof zur Siedlung, wäre er sicherlich krepiert.

LG Betula

 
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Hey Betula

Danke euch, fürs Lesen und Verbesserungsvorschläge. Allerdings sehe ich für mich keinen Grund etwas zu verändern.

Diese Antwort auf vier zum Teil ziemlich ausführliche Kommentare mit ziemlich berechtigten Bedenken und Fragen? Und eine (ziemlich seltsame btw.) Begründung in vier Sätzen? Also von mir kriegst du keinen Kommentar.

Gruss
Peeperkorn

 
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