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Der Zorn des Lammes
Eines Morgens erwachte ein Lamm inmitten einer toten Herde Schafe. Wollfetzen und Schafköpfe lagen wild über die Wiese verteilt. Die Herde war in der letzten Nacht von einem Rudel Wölfe überfallen worden.
Das Lamm stand wackelig auf seinen schwachen, dünnen Beinchen, tapse dann unsicher über die blutbedeckte, ehemals grüne, jetzt schmutzig rote Wiese und betrachtete das, was ihm am meisten bedeutetet hatte.
Hass stieg in dem kleinen Wesen auf, dann hob es ein Füßchen in die Luft und schrie: „Und meine Rache soll das Feuer sein, das lodernd Euch verbrennet! So wird man mich kennen als das böse Lamm…“, so sprach das Lamm hielt weiter auf drei wackeligen Beinen stehend das vierte wutentbrannt in die Höhe.
Langsam raffte es sich wieder auf, aß ein wenig sauberes Gras von der gegenüberliegenden Seite der Wiese. Nachdem es durch das frische Gras gesättigt war, torkelte es unsicher zum nahe gelegenen Fluss, der rot vom Blute der Herde war. Das Lamm trank, stillte seinen Durst und sammelte so die nötigen Kräfte um sich bei den Wölfen für den Tod der Schafsherde zu rächen.
Am Tag darauf brach das kleine Lamm auf, den Wölfen zu folgen. Es fiel ihm nicht schwer den Spuren zu folgen, denn so wie die Wölfe gewütet hatten, waren deutlich Fußabdrücke und eine frische Blutspur zu erkennen, die in den nahe gelegenen Wald führten.
Es vergingen Stunden im dunklen Wald, da spürte das Lamm erneut den Hunger und die Müdigkeit. So aß es ein wenig, trank das Wasser eines alten Waldsees und schlief schließlich völlig erschöpft ein.
Ein paar Stunden, nachdem es dunkel geworden war, wachte das kleine Lamm auf und schaute ängstlich umher. Ein leichter Wind wehte und das Laub wirbelte durch den düsteren, nebeligen Wald. Zwischen den hohen Baumwipfeln war nur sehr schwach das Licht des Mondes zu sehen.
„Määääääh!“, sagte das Lamm ängstlich und seine großen, runden Augen blickten in die Dunkelheit, ohne etwas erkennen zu können. In einem nahen Strauch raschelte etwas. Das Lamm streckte seinen Hals in die Richtung des Strauches und lauschte.
Dann raschelte es wieder. Das Lamm schlich sich leise an den Strauch heran und spürte die Angst vor dem, was wohl in dem Strauch lauern mochte.
„Nein“ überlegte das Lamm „so leiden soll’n die Mörder meiner Herd’, im eigen Blute untergeh’n. Schaffen werd’ ich es nicht, wenn vor kleinem Tier im Strauche ich mich fürcht’!“.
So sprach das Lamm und schritt voran. Mutig sprang es in den Strauch. Dort war tatsächlich ein kleines Häschen. Das Lamm schnappte zu, mit einem Knacken brach es das Genick des Tieres und schüttelte das es mehrmals in seinem kleinen Mäulchen umher.
Schließlich zerrte es den Hasen aus dem Busch heraus. Es war ein traumhaftes Mahl. Das Lamm grub seine Zähne tiefer in das Fleisch des Hasen, saugte ihm das Blut aus den Adern und spürte, wie die Lebensenergie den Kadaver verließ und seine eigenen Kräfte stärkte. Mit jedem Schluck wurde des Lammes Hunger nach dem Blut und der Kraft größer. Ja, nur wenn es die nötigen Kräfte sammelte, könnte es gegen die Wölfe bestehen.
Nachdem das Lamm dem Hasen keine weitere Kraft mehr entziehen konnte, legte es sich wieder schlafen.
Am nächsten Morgen erwachte das Lamm neben dem leeren Leib des Hasen und fühlte sich stark… stärker als je zuvor. Die Spur der Wölfe war undeutlicher geworden, jedoch für die geschärften Sinne des Lammes noch immer leicht auszumachen. Lange würde es nicht mehr dauern, der Tag der Rache sollte schon bald dem Wolfsrudel das Leben aushauchen. Das Lamm setzte seine Reise durch den Wald fort und spürte, wie es dem Rudel jeden Tag ein Stück näher kam.
Am siebten Tag dann wachte das Lamm auf und fühlte sich ausreichend gestärkt. Ganz deutlich spürte es nun die Nähe der Wölfe. Schon bald würde es keine Wölfe mehr geben, nie wieder sollte ein Wolf einem Schaf ein Leid zufügen. Mit diesem Schwur auf den Lippen machte das Lamm sich auf den Weg.
Schließlich drang helles Licht zwischen den Bäumen hindurch und das kleine Lamm schaute aus dem Wald heraus auf eine Lichtung, auf die sanftes Sonnenlicht fiel. Dort waren sie: Sechs Wölfe, einer von ihnen noch ein Wolfskind, lagen auf der Wiese und sonnten sich müde in der Nachmittagssonne. Ihre langen Zungen hingen durstend aus ihren Mäulern, das Wolfsjunge schien tief und fest zu schlafen.
Die Wolfsmutter warf einen traurigen Blick auf ihr Junges. Es lag dort, so klein und unschuldig, seit Tagen hat es nichts zu Fressen bekommen. Seit der Anführer des Rudels einem Bären zum Opfer gefallen war, zogen die Wölfe hilflos umher.
Nur ein gelegentlicher Hase oder ein Überfall auf eine Schafsherde sicherte dem Rudel das Überleben. Doch seit Tagen schon gab es kein frisches Fleisch mehr.
Wo sollen wir hier mitten im Wald nur etwas zu fressen finden, überlegte die Wolfsmutter und sah wieder traurig auf ihr hungriges Junges, das dort müde auf der Wiese lag und die kurzen Beinchen ausstreckte.
Mit großen, runden Augen starrte das Lamm hinaus auf die Lichtung. „So sollet Ihr den Preis nun zahlen für das plötzlich End’ der Herd’, in der aufgewachsen ich bin. Sollet Ihr die Qual erleiden bis meine Rache enden werde! Im Zorne des Lammes soll Euer Ende nah’n“, sprach das Lamm leise und reckte seinen dünnen Hals zwischen den Bäume hervor. Dann nahm es seinen ganzen Mut zusammen und stürmte hinaus auf die Lichtung.
Die Wölfin hörte ein Rascheln im nahen Geäst. War dort ein Tier? Neugierig spitzte sie die Ohren und begann in die Richtung zu schnuppern. Dieser Geruch… es musste ein Schaf sein. Doch was machte ein Schaf hier allein mitten im Wald? Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten.
Ein kleines Lamm kam auf wackeligen Beinen aus dem Unterholz gesprungen und sprach: „Ihr Wölfe, heut’ ist euer Ende nah! So leget euch dar nieder und recket mir eure zarten Hälse entgegen!“
Das Lamm zuckte kurz mit einem Ohr.
„Heulet eurer letztes Lied und machet euch bereit, den ganzen Zorn des Lammes zu empfangen! Ja, mein Hass gedeiht! So zerbrechet an den Blüten meiner Wut und ergebet euch in euer Schicksal… so soll es sein!“, sprach das Lamm und schlug allein diese Schlacht, die ihm unerwartet schnell einen blutigen Sieg über die Mörder seiner Herde brachte.
Des Abends dann, so ist geschehen,
Der Wölfe Jagd ein Ende fand.
Aus toten Leibern wird’ erstehen
Das Lamm in dem der Zorn entbrannt.
Die glühend’ Scheib’ am Himmel sinkt,
wie seine Kräfte gehen.
Was der Zorn ihm jetzt noch bringt,
Hofft bald es schon zu sehen.
Es war bereits spät geworden und vom Horizont strahlte der Sonne Feuer auf die Lichtung herab. Die Schlacht war geschlagen und auf der ehemals friedlichen Lichtung stand nun einsam und klein das Lamm, sein Fell rot vom Blut der Wölfe, zwischen den Zähnen den Kopf des Wolfsjungen haltend.
Über die Lichtung verteilt lagen die Kadaver der fünf übrigen Wölfe, ihre Leiber zerfetzt, gebadet in ihrem eigenen Blut. Doch es war nicht viel Blut übrig… das Lamm kroch müde über die Lichtung und saugte einen Wolfskörper nach dem anderen aus. Nachdem es erneut seinen Durst gestillt hatte, fühlte es sich mächtiger als je zuvor.
Doch nun, da die Wölfe, die die Herde des Lammes getötet hatten, selbst ihr Leben ausgehaucht hatten, war der Zorn des Lammes noch lange nicht vorüber. Sein Durst nach Blut und Tod wurde immer größer, des Lammes Hass auf die Welt war mit dem Tod der Wölfe nur gewachsen.
So ruhte das Lamm aus, schöpfte neue Energie um der Welt seinen ganzen Zorn, seine ganze Wut und den ganzen Hass zu zeigen, der seit jenem Morgen nach der Abschlachtung seiner Herde in ihm gedieh.
Eine Welle von Hass, Leid, Tod und Verderben überkam das Land. Wohin der Zorn des Lammes es auch führte, endete jedes Leben, tausende Tiere fielen ihm zum Opfer. Doch es kam wie man erwarten sollte. Je mehr Tiere starben, desto einsamer wurde das Lamm und wurde schließlich des Mordens müde. Es gab kein Blut mehr, das die Kräfte des Lammes erhalten konnte und so legte es sich nieder, bereit zu schlafen.
Es glänzt die Kling’ im sterbend Lichte,
hernieder gleitet auf mein’ Leib.
Des Lammes Zorn sie bald vernichte,
den Wolf im Schafe dann vertreib’.
Der Zorn des Lammes ist vergangen, doch ein Spur der Verwüstung und des Todes und die Erinnerung an all die Taten des bösen Lammes verblieben auf der Welt.
Töte deinen schlimmsten Feind und du wirst selbst dein schlimmster Feind. Doch schenke ihm Vergebung, so wird er auch dir vergeben (Peter W., 2004)