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- 06.11.2002
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Der Zirkel der Nacht
Der Zirkel der Nacht
Der kleine Clio fraß die Kilometer. Weiter, die Landstraße entlang und fern jeder Ortschaft oder gar größeren Stadt. Jede Minute brachte mich meinem Ziel näher und mit jedem gefahrenen Kilometer stieg die Spannung in mir. Auf das, was mich erwartete. Auf die Menschen dort, die Feier und auch auf die Überraschung, welche mir versprochen worden war.
Nervös griff ich nach den Kaugummis, schob mir einen in den Mund. Als Raucherin hätte ich sicherlich eine halbe Packung dieser Glimmstängel aufgebraucht. Gut, dass ich nicht rauchte. Besser für meine Lunge, besser für meine Blutgefäße und besser für mein Herz.
Wieder fiel mein Blick in den kleinen Spiegel. Die dezent geschminkten Augen, lange Wimpern und das Rouge auf den Wangen. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Es konnte passen. Musste aber nicht. Mein Gesicht zumindest wurde betont, ohne mich in ein kleines Signalmännchen zu verwandeln. Nicht aufgedonnert und die Regel des weniger ist oft mehr beherzigend. Dazu passte auch meine Kleidung. Ein dünnes, aber blickdichtes Shirt in Schwarz mit aufgesetzten Pailletten. Darunter eine schlichte, aber ebenfalls schwarze Hose sowie die Stiefelletten. Auch im Sommer warne sie nicht zu warm, bestanden nur aus dünnem Leder.
Wer war sie, die Gastgeberin? Kyra hieß sie, und hatte am Telefon verdammt geheimnisvoll getan. Es ginge um eine Feier der besonderen Art. Was immer das bedeuten mochte. Eine Orgie vielleicht? Möglich. Ihre Stimme hatte jenes Timbre besessen, welches einen verwirren und neugierig machen konnte. Anziehend, ohne zu deutlich zu werden. Weich und lockend, gleichzeitig aber auch kühl und um die Wirkung wissend. Ein Mix, der die Neugier in mir geweckt hatte. Dabei gab ich mich nicht einmal der Vorstellung hin, dass sie explizit mich einladen wollte. Als ihr Anruf in der Redaktion entgegengenommen wurde, wollte sie mit einer Journalistin sprechen. Nicht mit mir. Zufall, dass man sie an mich weiterreichte. Es hätte auch eine Kollegin treffen können.
Wenn du über etwas wahrhaft atemberaubendes berichten möchtest, solltest du zu unserer kleinen Party kommen.
So hatten ihre Worte geklungen. Anschließend folgte Datum, Uhrzeit sowie die Adresse. Nicht mehr. Nicht einmal eine Bestätigung hatte sie abgewartet, sondern sofort aufgelegt. War sie sich so sicher, dass ich dieser Einladung folgen würde? Oder war es ihr nicht wichtig, einfach eine höfliche Geste?
Was erwartete mich? Seit dem frühen Nachmittag fragte ich mich dies, wieder und wieder. Einem Endlos-Tonband gleich, welches in meinem Kopf immer die gleichen Worte abspulte. Was erwartet mich dort?
Es gab viele Möglichkeiten. Sex und Drogen. Ein Schauspiel. Tanz und Essen. All das und noch mehr Dinge, von denen ich keine Ahnung. I see so many things I’ve never seen before. Don’t know what it is, but I don’t wanna see no more.
Die Straße beschrieb eine Biegung, zog sich nach links. Bäume wuchsen auf beiden Seiten empor, nahmen die Sicht auf die hinter ihnen liegenden Felder und sorgten gleichzeitig für dichte, wattige Dunkelheit. Auch die Straße wurde teilweise durch die tief hängenden Äste und das starke Laubwerk verdeckt. Besonders in diesen Kurven.
Meine Augen suchten die Dunkelheit ab. Irgendwo hier musste es…
Die Abzweigung kam am Ende der Biegung und führte nach rechts in einem mit Schotter und Kiesel bestreuten Privatweg. Ein großes Schild machte darauf aufmerksam und verbot es Wanderern und Ausflüglern, das Grundstück zu betreten. Eltern haften für ihre Kinder.
Der weitere Verlauf des Weges war schnurgerade und lief direkt auf das Haus an seinem Ende hin. Ein Prachtbau aus dem vorletzten Jahrhundert, wie mir schien. Oder noch älter. Ja, vermutlich war dieses Haus schon im siebzehnten Jahrhundert entstanden. Die Barocke Bauweise deutete darauf hin, denn die einzelnen Teile waren dem Ganzen untergeordnet. Ein typischer Ausdruck des Barocks.
Wagen parkten keine vor der Tür. Entweder, sie wurden hinter dem Gebäude geparkt, oder die restlichen Gäste waren nicht mit dem Auto gekommen. Eine mehr als fragwürdige Annahme, denn dieses Haus stand definitiv im oft beschworenen Nirgendwo.
Langsam ließ ich meinen Clio ausrollen, parkte etwas am Rand des Weges und knapp zehn Meter von der Eingangstür entfernt. Anschließend stieg ich aus, richtete meine Kleider und lief das kurze Stück.
Die Aufregung in mir wuchs, und in Gedanken ging ich noch einmal die Dinge durch, welche sich in meiner Handtasche befanden. Ein Tonbandgerät, eine kleine, unauffällige Digitalkamera sowie das unvermeidliche Handy. Einerseits hatte mich diese Kyra als Journalistin eingeladen. Andererseits kam ich mir vor, als sei ich eine Geheimagentin und würde zu einem konspirativen Treffen gehen. Diese Abgeschiedenheit des Hauses, der merkwürdige Anruf und die Utensilien in meiner Tasche.
Die erste Überraschung des Abends erwartete mich bereits, bevor ich das Innere betreten konnte. Statt einer Klingel befand sich lediglich ein Klopfer in Form eines Katzenkopfes an der in schwerer Eiche gehaltenen Abschlusstür.
Lächelnd benutzte ich den Metallklopfer, ließ ihn dreimal gegen das Holz schlagen. Nichts geschah. Zumindest nicht sofort oder innerhalb der ersten Minute. Doch gerade als ich erneut zum Klopfer greifen wollte, erklangen Schritte hinter der Tür und mir wurde geöffnet.
Mein Blick fiel auf einen Mann, und mein Kiefer klappte vermutlich völlig von selbst herunter – denn mein Gegenüber war nackt. Nun, nicht völlig, aber doch größtenteils. Schwarze Lederbänder liefen gekreuzt über Brust und Rücken, verbanden sich an der Hüfte zu einem Gürtel. Mehr jedoch trug er nicht.
„Guten Abend und willkommen auf Westcliff Manor. Treten Sie ein.“
Seine Stimme klang devot und leise. Aber da war noch mehr. Ein leiser Unterton, mühsam beherrscht. Angst. Ja, das war es. Angst. Wovor? Oder besser gesagt – vor wem? Wohin war ich geraten?
Einem ersten Impuls folgend wollte ich mich umdrehen und zu meinem Wagen eilen. Dies hier war nicht mein Ding, denn von S/M hielt ich absolut nichts. Und jemand, der so devot die Tür öffnete, war eindeutig ein Anhänger der Sado-Maso-Spiele. Dachte ich zumindest.
Aber noch bevor sich die Fluchtgedanken in meinem Kopf derart manifestieren konnten, dass sie nach einer Umsetzung verlangten, kam mein Pflichtbewusstsein durch. Es war keine Vergnügungsreise hierher gewesen, und ich bekam den Aufwand schließlich bezahlt. Zudem konnte mich gewiss niemand zwingen, an diesen Spielen teilzunehmen. Vielleicht wollte diese Kyra einfach auf sich und ihr Haus aufmerksam machen. Möglich auch, dass es sich hierbei um ein besonderes Bordell handelte, welches auf diese Art kostenfreie Reklame erhalten wollte. Ein Bericht in der Presse lockt immer – und sei er noch so vernichtend.
Schließlich nickte ich nur und ging an dem Nackten vorbei in die Halle des Hauses. Wärme sowie der Duft von orientalischen Räucherstäbchen schlug mir entgegen. Aus versteckt angebrachten Boxen erklang sanfte, klassische Musik und das Licht verströmte mit einem leichten Rotstich versehen eine anheimelnde Atmosphäre. Es war nicht jenes Rotlicht, welches auf schwülen Sex hindeutet. Eine andere Intensität mit anderen Implikationen.
Die Halle war groß und endete gegenüber der Tür mit einer breiten Treppe, welche in das Obergeschoss führte. Eine kleine Galerie führte rundherum und Türen führten sowohl oben als auch unten zu weiteren Zimmern. Im Erdgeschoss standen diese alle offen – so, als wolle Kyra beweisen, dass es keine Geheimnisse gab.
Stimmen waren zu hören. Meist weiblich und teils mit scharfem Befehlston, teils sanft und fast spielerisch.
„Wer war es?“
Eine Frau verließ einen der Räume, betrat die Halle und lächelte, als sie mich sah.
„Ronda Martens, nicht wahr? Die Journalistin. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Mein Name ist Kyra Stuart. Willkommen auf Westcliff Manor – meinem bescheidenen Heim fern von zu Hause.“
Sie sprach mit einem stark britischen Akzent, aber das war es nicht, was mich in ihren Bann zog. Vielmehr war es ihr Auftritt insgesamt.
Sie war schlank. Nein, grazil trifft es besser. Ein ausdruckstarkes Gesicht, dunkle, nahezu schwarze Augen mit einem durchdringenden Blick sowie fein geschwungene Lippen. Ihr Teint war hell, fast bleich. In starkem Kontrast dazu standen die tiefschwarzen Haare, die verspielt frisiert in die Höhe toupiert worden waren.
Auf Make-up hatte sie fast verzichtet. Einzig ihre Lippen und auch ihre Nägel an Händen und Füßen schimmerten in einem dunklen Rot. Ihre Kleidung bestand aus einem durchsichtigen Kleid, welches locker von ihren Schultern herab fiel und nichts von ihrem Körper verdeckte. Nicht die Brüste und auch nicht ihre Scham.
Mein Blick haftete auf ihr, und für ein paar Sekunden verschwamm die Realität, nahm surreale Züge an. Was bedeutete dieser Auftritt, was ihre Aufmachung und ihr Lächeln, welches in seiner Rätselhaftigkeit jenem der Mona Lisa in nichts nachstand. Wissend vielleicht, und auch ein bisschen amüsiert.
„Danke.“
Ein einziges Wort kam über meiner Lippen. Noch immer starrte ich – teils fasziniert, teils ängstlich. Was hatte diese Person, dass ich derart reagierte? Sie war eine Frau, kein überirdisches Wesen. Und doch schien dieses Gebaren eher zu einer Märchengestalt zu passen, denn zu einem normalen Menschen.
„Die anderen Gäste warten bereits. Hans wird dir nun dein Zimmer zeigen. Dort hast du Gelegenheit, dich umzuziehen. Komm zu uns, sobald du fertig bist. Und lasse dein Equipment beruhigt in deinem Raum. Weder brauchst du ein Telefon, noch eine Kamera oder ein Tonbandgerät.“
Sie wandte sich ab und verschwand wieder in jenem Raum, aus dem sie gekommen war. Völlig perplex schaute ich ihr nach, wurde erst von dem Nackten aus meiner Verblüffung gerissen. Er deutete zur Treppe und ging schließlich vor, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Dass ich ihm folgte, stand für ihn zweifelsfrei fest.
Woher wusste sie, was ich in meiner Tasche trage, schoss es mir durch den Kopf, während wir die Treppe hinauf stiegen, uns nach rechts wendeten und schließlich vor einer verschlossenen Tür stehen blieben. War es einfach ein Schuss ins Blaue? Weil Journalisten eben solche Dinge haben? Oder… wusste sie es?
Ein Ding der Unmöglichkeit. Sie konnte es nicht wissen. Woher auch? Niemand kann wissen, was ein Fremder in seiner Tasche trägt. An Hellsichtigkeit glaubte ich nie, und auch nicht an sonstige Magie und all den Hokuspokus. Also blieb nur erstere Möglichkeit – gut und logisch geraten. Ein Punkt für sie, wie ich lächelnd zugeben musste.
Vielleicht war es auch das gesamte Ambiente, ihr Auftreten und der Nackte gewesen, welche mich zweifeln ließen. Unter normalen Umständen hätte ich keine Sekunde gezweifelt, dass sie schlicht auf den Busch geklopft hatte. Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, dass sie diese Geräte nicht bei ihrer Feier – die sich nun eindeutig als kleine Orgie entpuppte – dabeihaben wollte. Nur mich als Person, aber nicht meine Hilfsmittel. Vielleicht sollte ich einfach erleben, was sie bot – und dann darüber schreiben.
Damit stellte sich mir die nächste Frage. War ich bereit, an einer solchen Ausschweifung teilzunehmen? War ich bereit, mich fremden Menschen hinzugeben, Lust zu empfinden und zu teilen, was Kyra bot? Vielleicht. Es kam darauf an, was genau sie taten und wollten. Im Grunde war ich schon ein großes Mädchen und beileibe kein Kostverächter. Doch es gab auch Grenzen. Andererseits war es noch immer Job, und wenn mir meine Redaktion einen Orgasmus bezahlte, war es auch okay. Schon früher hatte ich an gewissen Partys teilgenommen und sie durchaus genossen. Lassen wir das.
Hans – so hieß der Nackte offensichtlich – öffnete die Tür nach einem kurzen Kampf mit dem Schloss und trat zur Seite.
Die Halle und auch der Flur waren relativ schmucklos gehalten. Läufer auf dem Boden, ein paar unspektakuläre Bilder und Holzvertäfelung. Oh, und ein paar Blumen in den Ecken der Galerie. Schnittblumen wohlgemerkt, keine Stöcke.
Ganz anders hingegen sah es aus, als ich das mir zugedachte Zimmer betrat. Das Bett erweckte den Eindruck, als sei es mindestens so alt wie das Haus. Vier Pfosten, welche in die Höhe ragten und somit einen Himmel hielten, der sich über das Bett spannte.
Ein Flokati lag auf dem Boden. Daneben kleine, von Hand geknüpfte Läufer. Ein großer Eichenschrank erhob sich gegenüber dem Bett. Ohne Spiegel, aber mit fünf Türen. Altes Holz, mit inzwischen verblassten Malereien versehen. Die Nachtschränkchen zeigten die gleichen Muster, und auch der Rahmen des Betts. Eine Manufaktur, wie es schien.
Die an den Wänden hängenden Gemälde zeigten meist Portraits junger Frauen und Männer. Lediglich zwei Bilder hoben sich ab, denn bei ihnen hatte der Künstler das Motiv eines alten Gemäuers gewählt.
Über der Lehne eines Stuhls hing ein Kleid – nicht unähnlich jenem, welches die Gastgeberin getragen hatte. Dünn, durchsichtig und anschmiegsam.
Hans stand noch immer an der Tür, wartete entweder auf neue Befehle oder darauf, dass ich mich entblößte. Kurz drehte ich den Kopf, gab ihm ein Zeichen. Er nickte und schloss die Tür, wartete aber im Flur. Seinen Schritten nach zu urteilen kam er zumindest nicht sehr weit.
Langsam begann ich mich zu entkleiden. Es war mir unangenehm, mich derart nackt zu zeigen. Niemand kannte mich. Wer auch immer dort unten wartete, war mir höchst wahrscheinlich fremd. Zudem war es ein Job, und als Journalistin sollte man nicht Teil der Story werden. In diesem Moment aber, als ich Shirt und Hose ablegte, auch den Slip abstreifte und die Strümpfe folgen ließ, geschah genau dies. Ich wurde zu einem Teil der Story.
Schließlich war ich nackt. Zumindest empfand ich es so – trotz des Kleides. Es war so leicht, dass ich es kaum spürte und verdeckte absolut nichts. Dies wurde mir klar, als ich den Spiegel entdeckte und hinein schaute. Der feine Stoff floss um meinen Körper, betonte die richtigen stellen und ließ mich attraktiver erscheinen, als ich war. Erotischer vielleicht, denn letztlich lief es genau darauf hinaus.
Der nackte Hans wartete noch immer vor der Tür, nickte mir freundlich zu und ließ seinen Blick über meinen Körper gleiten. Offenbar gefiel ihm, was er sah. Seine steigende Erregung zumindest ließ darauf schließen.
Lächelnd folgte ich ihm die Treppe hinab, durch die Halle und hin zu jenem Raum, in dem die Feier offensichtlich stattfand. Zumindest in diesem Moment.
Hans blieb exakt drei Schritte zurück, kaum dass wir die Schwelle überschritten, und er blieb stehen, als auch ich stehen blieb.
Die Szene, die sich mir bot, war atemberaubend. Es verschlug mir die Sprache, und für einen Moment glaubte ich, Opfer der Versteckten Kamera geworden zu sein.
In der Mitte des Zimmers stand ein runder Tisch, umgeben von großen, mit Leder gepolsterten Stühlen. Ein Kronleuchter mit echten Kerzen spendete Licht, und die Wände des saalartigen Raumes waren mit rotem Brokat verhangen. Lediglich eine knapp zwei mal zwei Meter große Fläche der getäfelten Wand blieb frei, denn dort hing das Portrait eines Mannes. Ebenfalls alt, so wie alles in und an diesem Haus. Obwohl das Gesicht dieses Fremden ansprechend getroffen war. Vor allem sein Blick und die fast ironisch lächelnden Lippen. Ein Sunnyboy, und wären nicht die Kleider gewesen, hätte man ihn auch in eine Krimiserie aus Amerika stecken können. Miami vielleicht, oder Los Angeles. Aber der Stehkragen, der Gehrock sowie die Hose mit Gamaschen zeigte deutlich, dass er nicht in diesem Jahrhundert gelebt hatte, und auch nicht im letzten. Vielleicht der Erbauer des Hauses, denn auch der Rahmen des Gemäldes ließ auf Barock schließen.
Kurz dachte ich über den Namen des Hauses nach. Westcliff Manor. Offenbar hatte es diesen Namen erhalten, nachdem Kyra Stuart das Anwesen erwarb. Oder wurde es bereits von dieser Familie erbaut – als Domizil auf dem Festland? Vielleicht.
Der Boden des Zimmers war in Stein gehalten und zeigte ein Mosaik. Ein Wappen, wie mir schien. Rote Kacheln, zu einer springenden Katze gelegt und in weiße Steine gebettet.
Schwarze Rosen standen in den vier Ecken des Raumes, verströmten einen markanten, aber nicht unangenehmen Duft. Sie passten in ihrer Farbe zu dem dunklen Stoff an en Wänden und boten einen Kontrast zu den überwiegend hellen Fließen des Bodens.
Wirklich bizarr aber waren die Menschen in diesem Raum. Frauen saßen rund um den Tisch, trugen allesamt die gleichen, durchsichtigen Gewänder und schauten mir neugierig, aber auch aufmunternd entgegen.
Zu ihren Füßen aber knieten Männer, demutsvoll den Kopf gesenkt und so nackt wie Hans. Einzig die Lederbänder, welche zu Leinen umfunktioniert worden waren, verdeckten wenige Stellen der sonst blanken Haut.
Auf dem Tisch standen Karaffen und Bleigläser, teilweise gefüllt mit dunklem Rotwein.
Wenn es bei einer runden Tafel so etwas wie einen Kopf gibt, so hatte ihn Kyra inne. Ihr Stuhl war höher, verziert mit Intarsien und feinen Schnitzereien. Kein Zweifel, dass sie die Gastgeberin und Hausherrin war. Aber auch die restlichen Frauen drückten so etwas wie Würde und Gelassenheit aus. Als ob sie sich ihrer Sache sicher wären und exakt wüsten, wie der Name des Spiels lautete, das hier gespielt wurde.
Ein Platz war noch frei – unmittelbar neben der Gastgeberin. Sowohl der Stuhl, als auch das Gedeck. Einzig in dem Glas befand sich etwas Wein. Mein Platz? Vermutlich.
Wie zur Bestätigung meiner Vermutung erhob sich Kyra, lächelte in die Runde und nickte mir schließlich zu.
„Willkommen in unserem Kreis, Ronda. Es ist uns eine Freude, dich in dieser Runde zu begrüßen. Du musst keine Angst haben. Niemand hier wird dir etwas tun, niemand wird dich ablehnen. Weder für das, was du bist noch für deinen Körper oder deine Gedanken. Nimm Platz und trinke mit uns.“
Huldvolle Worte, die mir einerseits überzogen erschienen – andererseits aber auch Respekt einflößten. Im Vergleich zu den Anwesenden Frauen konnte ich mir in der Tat wie ein kleines, hässliches Entlein vorkommen. Obwohl schlank, trennten mich Welten von den nahezu perfekten Körpern der Umsitzenden. Sie drückten Stärke und Anmut aus, ihre Haut zeigte keine Unebenheiten und ihre Blicke brannten regelrecht auf mir. Sie waren so schön. So pur wie Schnee am Neujahrsmorgen und so surreal wie Schemen in einem Traum. Es war unmöglich, dass all das echt war. Solche Frauen gab es nicht. Nicht im wirklichen Leben. In Filmen vielleicht, oder auf Bildern, in Computerspielen. Aber nicht hier, in der Realität. Dennoch schauten sie mich an, und einmal mehr fragte ich mich, was diese Inszenierung sollte. Warum ich? Warum hatte diese Kyra eine Journalistin eingeladen? Nur, damit sie später von diesem Kreis berichten konnte? Um mich und die Welt da draußen zu beeindrucken? Vielleicht. Nicht wahrscheinlich, aber…
Mein Blick blieb bei einer braunen Schönheit hängen. Ihre Haare ummalten ihren Kopf mit vielen kleinen Naturlocken. Ihr Gesicht war fein gezeichnet, ihre Lippen etwas dicker und ihre Nase klein und gerade. Woher kam sie? Amerika? Afrika? Schwer zu sagen, denn ihre Haut war nicht wirklich braun. Nein, das wäre der falsche Ausdruck. Bronze. Ja, das passt besser. Ihr Teint schimmerte bronzen und wirkte, als habe sie ihn eingeölt.
Sie erwiderte meinen Blick, und mir war, als würde ihr Lächeln einen leicht spöttischen Unterton erhalten. Hatte ich gestarrt? Vielleicht. Auf ihre feingliedrigen Finger, oder auf ihre Brüste, welche sich unter dem dünnen Kleid wie zwei Hügel aus Schokoladenpudding erhoben. Verziert mit kleinen Mokkabohnen und verführerisch für jeden, der sie sah.
„Komm näher, kleine Ronda. Komm näher, und lass uns diesen Abend gemeinsam begehen. Fürchte dich nicht.“
Nickend folgte ich der Einladung, hatte den eindringlichen Klang nicht überhört. Kyra Stuart ließ mir zeit, aber nicht zu viel Zeit, um ihrem Wunsch nachzukommen. Doch noch während ich zu dem freien Platz ging, spürt eich die Aufregung und Nervosität in mir. Mein Wund war trocken, als habe man ihn mit Watte ausgewischt und jeder Schritt erschien mir als ein Schritt auf einer weichen Wolke.
Schließlich saß ich, schaute mich noch einmal um und wartete auf das, was nun geschah. Die Männer regten sich nicht, als Kyra das Glas hob und mich anschaute. Einzig die Frauen reagierten, taten es ihr gleich und hoben ihre Gläser. Rasch folgte ich ihrem Beispiel, wartete wieder.
„Der Abend beginnt, und mit ihm das Fest. Lasst uns trinken und die Feierlichkeiten damit einläuten.“
Sie leerte ihr Glas in einem Zug, lächelte anschließend und stellte es geräuschvoll auf den Tisch. Eine kleine Spielerei, die jedoch zur Nachahmung animierte.
Der Wein schmeckte köstlich. Er hatte die richtige Temperatur und ein volles Bouquet. Nicht zu herb, sondern fast schon süß – auch wenn dieses Wort eine Sünde im Ohr eines jeden Weinkenners ist. Aber es war so. Nicht nur lieblich, sondern süßlich. Und auch einen Tick klebrig. So, als habe man dem Wein etwas zugesetzt.
Für einen Moment fragte ich mich, was dies sein mochte. Sirup? Möglich, und es hätte…
Die Wirkung kam plötzlich und ließ meine Gedanken wirbeln. Meine Arme wurden schlaff, und selbst mein Kopf schien fiel zu schwer, um ihn noch zu halten. Er kippte zur Seite, Speichel floss aus meinem Mund und die Welt begann, sich um mich zu drehen. Eine leichte Übelkeit kam auf, spielte jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Schlimmer war das Gefühl, einem langen Tunnel entgegen zutreiben. Stimmen erklangen, hallten wider und waren in der einen Sekunde fern, in anderen so nah, als würden sie in meinem Kopf entstehen.
Gift. In meinem Wein hatte sich Gift befunden, und dies wirkte nun. Eine Erkenntnis, die mich durch all die falschen und verschobenen Sinneseindrücke hindurch erreichte.
Warum?
Fragte ich es, wollte ich es fragen oder dachte ich es nur? Ich wusste es nicht, war nicht mehr Herrin meines Körpers. Dennoch blieb mein Bewusstsein wach, nahm ich wahr, was um mich herum geschah.
Die Frauen erhoben sich, verließen ihre Plätze und kamen näher. Auch Kyra beugte sich über mich, und ihr Lächeln hatte etwas Dämonisches. Keine Freundlichkeit mehr, keine Wärme sondern – Gier. Ja, das war es. Gier.
Angst erfasste mich, umklammerte mein Herz mit eiserner Faust. Sie wollten meinen Tod – dessen war ich mir sicher. Ohne Grund, einfach aus Mordlust und Freude an dem, was sie mit mir taten.
Hände griffen nach mir, und fast spielerisch hoben sie mich in die Höhe, legten mich auf den Tisch. Wussten sie, dass ich noch immer bei Bewusstsein war? Erwarteten sie meine Ohnmacht, oder gar meinen Tod?
Nein. Nicht Kyra war es, die mir in die Augen schaute, sondern eben jene bronzene Schönheit. Ihr Blick wirkte noch immer spöttisch, doch bei ihr fand ich, was Kyra hatte missen lassen – so etwas wie Wärme und auch Verständnis für meine Situation. Als wolle sie mir beteuern, dass ich keine Angst zu haben bräuchte. Aber auch wenn dies ihre Intention war – es blieb ein fruchtloser Versuch. Ich hatte Angst. Um mein Leben, meine Gesundheit und vor all den Schmerzen, die sie mir zufügen konnten.
„Sei unbesorgt, kleine Ronda. Nichts was wir tun, wird dich quälen. Am Ende dieser Nacht bist du ein Mitglied dieses Zirkels und wirst wissen, welch großartiges Geschenk wir dir gemacht haben.“
Kyra. Sie stand hinter mir, so dass ich sie nicht sehen konnte. Ihre Stimme verschwamm, kam näher und driftete davon, wie Wellen am Strand. Dennoch klangen sie tröstlich. Offenbar hatten sie nicht vor, mich zu töten. Was aber sollte das? Wollten sie mich missbrauchen? Sich nehmen, was sie anders zu bekommen nicht glaubten? Wären es Männer gewesen, wäre dies mein erster Gedanke gewesen. So aber erschien es mir als zu unwahrscheinlich. Was hatten sie von einem Opfer, das sich nicht bewegen konnte?
Noch bevor ich meine Gedanken zu Ende bringen konnte, begann ihr Spiel. Hände glitten über meinen Körper, streiften das Kleid nach oben und über meinen Kopf. Starke Hände, die mich sowohl liebkosen als auch drehen konnten, wie sie es gerade brauchten.
Ihre Berührungen wirkten durch das Gift – oder war es eine Droge – in meinem Körper so fremd. Intensiver, erregender. Es fiel mir schwer, einzelne Liebkosungen wahrzunehmen. Sie vermischten sich, wirkten dadurch noch – geiler.
Es war, als würde mein Körper brennen. Die Haut, das Fleisch und selbst mein Blut wurde von einer merkwürdigen Hitze erfasst, sehnte sich nach den kühlen Berührungen der Frauen. Wo immer mich Fingerspitzen streichelten, hinterließen sie eine Flammenspur und waren gleichzeitig Linderung des süßen Schmerzes.
Schatten tanzten vor meinen Augen, und mein Blick trübte sich. So, als würde ein Nebel aufziehen, die Personen um mich herum verschleiern. Meine Augen schlossen sich fast automatisch. Was blieb, war meine stetig wachsende Erregung und das Gefühl, auf seichten Wellen davongetragen zu werden. Aber wohin? Doch noch in eine Ohnmacht hinein? Oder tiefer als jeder Schlaf – hinein in die Schwärze des Todes?
Wieder berührte jemand meine Brüste, strich über sie hinweg und folgte der gedachten Linie, über meinen bauch hinaus zwischen meine geöffneten Schenkel. Etwas zuckte, mein Innerstes erbebte und unbändige Lust brandete durch meinen Körper. Verlangen, wieder und wieder auf diese Art berührt zu werden.
Lippen strichen über meine Wangen, und krampfhaft versuchte ich, meine Augen wieder zu öffnen. Wer küsste mich, liebkoste mich mit seinem Mund?
Für ein paar Sekunden gelang es mir, einen Blick auf die Frau zu werfen, die sich über mich beugte. Nur schemenhaft, in Ausschnitten.
Rote Augen. Rot, als würden glühende Kohlen in den Höhlen sitzen und keine Pupillen. Sie stachen aus dem Nebel heraus und schienen jeder Logik zuwider zu laufen.
Es war die Bronzene. Ihre Haut schimmerte aus der Nähe betrachtet noch samtener, weicher. Ihre Lippen knabberten an meinem Ohr, suchten die empfindliche Stelle meines Halses und leckten verspielt darüber. Sie wusste exakt, was sie tat. Meine Lust wurde auf nie gekannte Höhen getrieben, schrie nach Erfüllung.
War noch jemand anderes da? Die Berührungen, zuvor so intensiv, waren verschwunden. Die Küsse der Unbekannten hatten sie in den Hintergrund treten lassen, aber nun, da sie meinen Mund suchte und mit ihrer Zunge über meine Lippen leckte, fiel es mir auf. Wie gerne hätte ich den Kuss erwidert, aber noch immer gelang es mir nicht, mehr als meine Lider zu bewegen. Eine unendlich schwere Last ruhte auf mir, erstickte jeden Versuch einer Bewegung im Keim.
„Sie sind weg. Niemand ist mehr da in diesem Moment. Nur du und ich.“
Zum ersten Mal hörte ich ihre Stimme. Sanft, wissend und so voll unausgesprochener Versprechen. Aber noch etwas anderes fiel mir auf. Ihr Akzent. Englisch, mit einem Hauch französisch. Kanada? Nein, das war es nicht. Vielleicht St. Louise. Ja, das traf es schon eher. Die alteingesessenen Familien dort sprachen ähnlich. Bei einem Urlaub in den Staaten hatte ich es gehört und auch in einem kleinen Bericht erwähnt.
Erstaunlich, wie klar meine Gedanken funktionierten. Meine Sinne waren noch immer durch das Gift beeinflusst, aber mein Verstand arbeitete wieder völlig logisch. So klar, das sich ihren Akzent zuordnen konnte.
Sie küsste mich, und ihre Zunge in meinem Mund sorgte für neuerliches Brennen in mir. Mein Verlangen brandete erneut auf, und nur zu gerne hätte ich sie umarmt, berührt und geküsst. Aber noch immer war ich zur Untätigkeit verdammt.
„Es wird eine unvergleichliche Nacht. Du und ich und die Unsterblichkeit. Niemals wieder Schmerzen. Niemals wieder Angst oder Schwäche. Nur pure Stärke. Und eine unstillbare Gier. “
Abermals küsste sie mich, sozusagen als Bekräftigung ihrer Worte. Aber gerade der letzte Satz hallte in meinem Kopf wider. Eine unstillbare Gier. Worum ging es hier? Warum die Drogen, um mich doch nur zu verführen? Wo waren die anderen Frauen? Und was hatte es mit den Männern…
Ihre Hand berührte mein Intimstes, strich darüber hinweg und ließ mich leise Seufzen. Es warne die ersten Laute, welche über meine Lippen kamen. Dieses Seufzen. Doch dabei blieb es nicht, denn die Unbekannte wurde fordernder, wollte mich auf den Gipfel der Lust treiben. Ihre Finger, so wissend um die empfindlichen Punkte meiner Scham. Ihre Küsse so leidenschaftlich und ihr leises Knurren so wollüstig. Schon liefen kleine Wellen durch meinen Körper, spürte ich jenes verräterische Kribbeln, welches die Wirbelsäule entlang kroch. Der Höhepunkt kündigte sich an, mächtig und unaufhaltsam.
Er kam. Explosiv und stärker als die Droge in meinem Blut. Ein Schrei entfloh meinen Lippen, mein Unterleib zitterte und hinein in die erste Welle mischte sich der kurze, süße Schmerz eines Bisses. Am Hals und exakt dort, wo meine Schlagader verlief. In meinem Kopf entstanden Zusammenhänge, die sich zu einem Wissen verdichtete. Aber dieses Wissen kam nicht gegen die Erfüllung an, die noch immer in mir tobte. Ihre Hände ruhten auf meinem Intimsten, ihre Lippen saugten an meinem Hals und mich durchfloss die Welle eines nicht enden wollenden Orgasmus.
Sie saugt dein Blut. Sie ist ein Vampir.
Die Warnungen kamen durch, als es zu spät war. Viel zu spät. Die Lust ebbte ab, meine Sinne reagierten wieder normal und auch die Lethargie schien sich zu legen. Und doch war es mir nicht mehr möglich, mich gegen sie zur Wehr zu setzen. Sie lag halb auf mir, hielt meine Hände und trank mein Blut.
Darum die roten Augen. Darum ihre Kunst, mich zu verführen. Und darum der Biss, als es mir kam.
Es war zu spät, um auf die Erkenntnis zu reagieren – aber es war auch zu spät, um Panik oder Todesangst zu empfinden. Die schwärze kam schneller, als erwartet und hüllte mich ein. Es war ein Sturz in die unendliche, bodenlose Tiefe des Bewusstseins. Noch einmal sah ich meine glücklichen und weniger schönen Momente an mir vorbeiziehen. Gesichter, Ereignisse und Orte in einem immer schneller werdenden Wechsel. So lange, bis all das verschwamm und zu einem Punkt zusammenschrumpfte, der schließlich erlosch. Was blieb war – Dunkelheit.
Ein Licht tauchte auf. Einem Glühwürmchen nicht unähnlich zuckte es vor meinem geistigen Auge auf, huschte umher und lockte mich. Mein Geist wollte nach ihm greifen, war aber zu langsam. Das Licht entfloh, wann immer ich es zu umfassen glaubte.
Wieder wurde es dunkel, aber nur für Sekunden. Dann kehrte das Licht zurück, wurde größer und verharrte kurz. Danach greifen. Es umschließen und niemals wieder loslassen.
Dieser Lichtfleck war für mich eine Verheißung, nach dem sich alle Sinne streckten. Er erschien so süß, so wunderschön und so begehrenswert.
Noch einmal bewegte es sich, schwoll dann an und ließ sich von mir fangen. Mehr noch, es erfüllte mein Innerstes.
Ich schlug die Augen auf, blickte in die warmen, dunklen Augen jener Frau, die mir Himmel und Hölle geschenkt hatte. Noch immer auf dem Tisch liegend wurden wir von den restlichen Partygästen umrahmt. Sie nickten mir zu, lächelnd und wissend.
Sie alle waren Vampire. Nun, zumindest die Frauen. Es war ein Wissen, welches keinen Zweifel zuließ. Ihre Aura, ihre Selbstsphären waren regelrecht greifbar.
Die Droge in meinem Körper hatte ihre Wirkung verloren. Noch fühlte ich mich schwach, aber ich wusste auch exakt, was mir neue und ungeahnte Stärke verleihen konnte. Blut. Ich brauchte es, wollte es. Jetzt, sofort.
„Erhebe dich, und nimm deinen Platz ein. In unserer Mitte und als neues Mitglied unseres Zirkels der Nacht. Es gibt viele Geheimnisse zu erkunden und noch mehr Dinge, welche du den Menschen dort draußen erzählen musst. Über uns. Über die Vampire. Über das, was wir sind und das, was wir anstreben.“
Kyra Stuart lachte böse, doch auf mich wirkte es nicht im Mindesten bedrohlich. Eher spöttisch und – mächtig.
„Ja, du wirst es ihnen erzählen. Darum wurdest du ausgewählt, und dies wird deine Aufgabe sein. Schreibe unsere Geschichte nieder. Und sage der Welt dort draußen, dass wir noch immer existieren, niemals zu existieren aufgehört haben. Bald schon werden wir aus dem Dunkel auftauchen, um uns zu holen, was uns schon lange gehören sollte.“
Es war eine Drohung an die Menschen außerhalb der Mauern. Es war ein Versprechen an den Zirkel. Und damit auch an mich.
Ende (?)