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Der Zeugungsfick
„...this is what the world is for, making electricity...“
MGMT
Ich war schon wieder auf dem Weg zum Klo, leicht schwankend, mit meiner dritten Maß in der Hand, als sie von hinten angelaufen kam und sich bei mir einhakte.
“Hey du”, meinte sie mit einem strahlenden Lächeln. “Ich will ein Kind von dir!”
Ich schaute etwas verdutzt drein und suchte nach der Ironie, die ich zwar nicht in ihrer Stimme erkannt hatte, die aber doch sicherlich irgendwo in ihrem Gesicht vorhanden war.
Fehlanzeige?
Sie lächelte mich weiter so unbefangen und offen an, als wäre ich Elvis Presley in einem kitschigen Schwarz-Weiß-Film und sie meine Ballkönigin.
Ich weiß nicht, ob es am Alkohol lag, oder an der bloßen Tatsache, dass ich in meinem Leben bislang noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert worden war, aber mir fehlten nicht nur die Worte, mir mangelte es auch an Haltung, Mimik, Gestik, Orientierung und Sauerstoff. Ich war, wie man so schön zu sagen pflegt, wie gelähmt, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
„Das ist mein Ernst“, sagte sie beinahe sanft.
Kurze Zeit spielte ich mit dem Gedanken, sie stehen zu lassen und wegzulaufen. Schließlich war das ja eine Frechheit, was die Dame hier brachte, die totale Frechheit, und außerdem hatte ich eine Freundin, und ich mochte meine Freundin, und diese Frau hier kannte ich nicht einmal, also bitte schön, lassen Sie mich gefälligst in Ruhe. Aber das konnte ich den Fischen erzählen, denn das war kompletter Unsinn, ich wollte nicht weglaufen, ich wollte hier sein, ich wollte sogar genau hier sein, mit genau dieser Frau, die langes braunes Haar hatte, ein gelbes Dirndl trug, und ein Lächeln besaß, das bestimmt Blumen aus Fußballfeldern sprießen ließ, Wasser in Wein verwandelte und dem Krieg im Nahen Osten ein Ende setzen konnte.
„Ja ... und? Was meinst du?“, fragte sie mit einem leicht verlegenen Kichern, das so wunderbar unterwürfig und zugleich völlig ausgeflippt daher kam, dass mein komplettes Wertesystem augenblicklich zerbrach.
Wo kam diese Frau bloß her?
Einerseits räumte dieses Kichern offen und ehrlich ein, wie absurd ihre Forderung war. Ein Kind von mir zu verlangen war verrückt, das wussten wir beide.
Andererseits steckte in diesem Kichern, das ihre Augen wässrig werden ließ und kleine Grübchen in ihre Wangen legte, auch der ganze perverse Reiz der Situation.
Man kann’s im Flugzeug treiben, man kann Partner tauschen, man kann einen Dritten zu Rate ziehen, man kann sich gegenseitig auspeitschen, man kann es mal von hinten ausprobieren, und was weiß ich sonst noch alles... und das ist alles mehr oder minder interessant, alles mehr oder minder aufregend, verboten, abstoßend, anturnend, dirty.
Aber ein Zeugungsfick mit einer wildfremden Person? Ein echter, bewusster Zeugungsfick? Wer macht schon so was? Gibt es etwas Verpönteres? Ist das nicht der ultimative Tabubruch?
Und wenn ja, was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn die perverseste aller perversen Fantasien gleichzeitig auf höchst paradoxe Weise auch die natürlichste Fantasie von allen ist, die Urfantasie sozusagen?
Warum muss man Jahre lang für einen Partner sorgen, so lange bis man sich total sicher ist, ehe man den Zeugungsfick ausprobieren darf? Ich meine, wo bleibt da der Spaß? Klingen Verantwortung und Verpflichtung und Arbeit und Sonntage am See mit Schwiegereltern, die man überhaupt nicht ausstehen kann, nach dem ultimativen Kick? Nein, ganz bestimmt nicht. Und der Mensch ist nicht doof. Er weiß worauf er sich einlässt, wenn er zum Zeugungsfick ansetzt.
Ich und meine neue Bekanntschaft jedoch, wir hatten keine Ahnung. Wir spielten russisches Roulette mit der Natur, wir folgten unserem Fortpflanzungstrieb in seiner reinsten, mit Bio-Siegel versehenen Form. Und glaubt mir, das war geil.
Als mir das alles durch den Kopf ging, sah ich diese seltsame Frau in ihren großen blauen Augen, und ich verspürte plötzlich mehr Lust für sie, als ich das je für meine Freundin getan hatte, oder sonst irgendeine Frau.
„Ich bin dabei“, sagte ich, als handle sich das hier um ein Aufnahmeverfahren für einen Banküberfall. „Aber wie du schon sagtest, ohne Verhütung und alles.“
„So und nicht anders“, meinte sie. Sie reichte mir ihre Hand und lächelte. „Ich bin Lisa.“
„Ich bin Jochen.“
Ich ließ meine Freundin am Tisch mit meinen Kumpels stehen, schrieb ihr schnell per SMS, dass ich geschäftlich schnell weg müsse (totaler Blödsinn, und das wusste sie, aber mir fiel nichts Besseres ein) und dann verließ ich mit Lisa das Zelt. Als ich draußen stand, war ich mir kurz unsicher, aber dann stand sie wieder vor mir in ihrer gelben Oktoberfesttracht mit diesem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht, und ich ergriff ihre Hand. Auf dem Weg zum Taxi redeten wir ein wenig, versicherten uns gegenseitig, dass das keine Verarschung war, und dann fuhren wir zu ihr, weil sie näher wohnte.
Aus meiner Single-Zeit kannte ich diese angespannte Zwischenphase nur zu gut.
Die Kneipenatmosphäre ist fort, die sanften Gitarrenklänge sind verschwunden, und auf einmal sieht man einer wildfremden Person in die Augen und die Gedanken kreisen sich um Geschlechtskrankheiten, die eigene sexuelle Leistung, die Blondine, mit der man vielleicht lieber heimgegangen wäre, und morgen früh.
Bei Lisa war das aber nicht so. Als wir die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufstiegen und ich ihren Körper von hinten betrachtete, stieg meine Lust fast ins Unermeßliche. Und das obwohl sie, wie ich jetzt sah, nun wirklich keine Traummaße besaß. Sie hatte kräftige Schenkel, robuste Frauenhüften und einen vollen Hintern. Meine Freundin hätte bestimmt nie geglaubt, dass ich ihretwegen fremd ging. Von einem schlanken Topmodel konnte hier wirklich nicht die Rede sein, aber ich kann euch gar nicht sagen, wie egal das mir war. Egal ist nicht mal das richtige Wort dafür. Hier ging es ja nicht um irgendwelche Schlankheitsideale, – was brachten die mir schon? –, das war ja der völlig falsche Maßstab, der komplett falsche Ansatz, hier ging’s einzig und allein um den Zeugungsfick, hier ging’s um Fruchtbarkeit, und in dieser Hinsicht war Lisa wirklich unschlagbar. Der ansehnliche Hintern, der beim Laufen hin und her schwang wie eine saftige überreife Frucht, die glatte weiße Haut auf ihrem Hals, die zwischen ihr volles Haar hervorlugte, die roten Bäckchen ... und dann dieser schmale Bereich, der da zwischen Rippen und Becken loderte! Was war das überhaupt? Hatte ich so etwas je gesehen? So klein und süß und zart und unschuldig. Diese Taille war ja so unglaublich sexy, dass es schon wieder nicht okay war, so perfekt, dass es mich schon wieder störte. Eine Herausforderung war das doch, diese schmale Zone, ein Angriff auf meine Männlichkeit, eine Unebenheit, die es glattzufegen bzw. auszufüllen galt. Das musste ich ändern. Da wollte ich hin...
Als wir endlich ihre Wohnung betraten, konnte ich mich kaum halten. Sie machte die Tür auf, und dann legte ich meinen Arm um diesen süßen Bauch und zog sie her.
Sie sah zu mir auf. Der Ausdruck, der jetzt in ihren Augen lag, werde ich nie vergessen. Für mich hatte in diesem Augenblick die Evolution ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Das Wunder der Schöpfung, die Kraft der Zeugung, der Sinn des Lebens, das waren keine abstrakten Begriffe mehr, das lag jetzt alles genau vor mir und sah mich fragend an.
„Nimm mich“, sagte sie, aber nicht wie in einem Pornostreifen, es lag ein Flehen in ihrer Stimme, als müsse sie bald vor Verlangen sterben, als würde der Gedanke, ich könnte nein sagen, bei ihr Angst auslösen.
Da waren die Chancen entsprechend gering.
Und wenn man mir alle Reichtümer und Fähigkeiten und Frauen dieser Welt angeboten hätte, oder meine Freundin mit einer Pistole aus dem Schrank gehüpft wäre, da hätte ich trotzdem mit dieser Frau geschlafen.
Ich druckte sie nach hinten Richtung Bett, und schon schlüpfte sie aus ihren Schuhen, schob ihre Träger über die Schultern, und druckte ihren Dirndl samt BH nach unten. Der Anblick ihre weißen Busen raubte mir den Atem, Bilder von Milch und Babies flackerten in meinem Bewußtsein auf, und dann ließ Lisa sich einfach mit ausgestreckten Armen und einem süßen Lächeln nach hinten aufs Bett fallen. Und wie ich das liebte! Dieses hingebungsvolle Sichfallenlassen, diese Zügellosigkeit, die alles auf der Welt, nur nicht spießig und verkrampft war.
Ich griff nach unten, riß meine Gürtelschnalle auf, sprengte beim Öffnen meines Hemdes alle Knöpfe, und stürzte mich auf sie.
Ich wollte jetzt eigentlich nicht mit doofen Sprüchen daherkommen, so von wegen: „Es war die geilste Nacht meines Lebens!“ So was hört man nur allzu oft, und so gut wie immer trifft es nicht zu. Trotzdem will ich es sagen. Es war die bisher absolut geilste Nacht meines Lebens. Ich habe keine Ahnung, woher wir die Energie schöpften, ich weiß nicht, wie es physiologisch möglich ist, in einer Nacht so häufig Sex zu haben, ich hätte auch nie gedacht, dass ich eine solche Ausdauer besitzen könnte, oder dass Menschen in echt solche Töne von sich gaben, aber wir ließen einfach nicht voneinander ab. Es war fast so, als würden wir mit jedem neuen Orgasmus unser Schicksal erneut herausfordern, als setzten wir jedes Mal unser komplettes Leben aufs Spiel.
Wie Nelson Mandela am Tag seiner Freilassung, wie Fidel Castro bei seinem Amtsantritt, wie Ali nach dem Rumble in the Jungle, so fühlte ich mich. Ich stellte mich gegen alles, und schaut her, ich lebte. Schaut her, es fühlte sich sogar gut an.
Wir fickten der Welt zum Trotz. Wir fickten unserer eigenen Zukunft zum Trotz. Wir fickten aus Prinzip. Und wir fickten für unser Kind.
Ja, ich wollte sie schwängern. Daran arbeitete ich. Mit allem was ich hatte. Nur deswegen funktionierte es. Nur deswegen lebten wir. Dass wir womöglich schon bald anders darüber denken wurden, war mir natürlich für den Augenblick egal. Das war ja der Sinn der Sache. Die Pille danach, Abtreibung, verschissene Windeln, Geburtstage, schlechte Lehrer, Fußballtraining, Jungs, Enkelkinder, Glück... das ließ sich alles auf Morgen verschieben.
Irgendwann schloss ich die Augen und schlief ein.