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Der Zettel
Der Zettel
Das Licht des Vollmondes schien in das kleine Zimmer, das ansonsten in tiefe Dunkelheit gehüllt war.
Ruhig war es, fast totenstill. Diese Art von Stille, die dir Angst macht, dir den Atem raubt und deine Gedanken merkwürdig laut werden lässt.
Die Luft, die durch den Spalt des gekippten Fensters zog, war kühl, sie glich der Luft der lauen Sommernächte, so rein, so unschuldig, dass es sich fast falsch anfühlte sie einzuatmen, sie zu benutzen und damit zu beflecken. Nur kälter war sie. Sie lässt dich frösteln, obwohl dir nicht kalt ist.
Und in eben dieser Nacht war nichts, einfach nichts mehr, wie es war.
Nun hätte die Atmosphäre nicht besser sein können, es war, als wäre diese Nacht dazu bestimmt alles zu verändern, als könne es in dieser Nacht gar nicht anders sein. Der Mond, die Dunkelheit, die Stille, die Luft. In einer fast zu perfekten Harmonie.
Eine Harmonie, die dir den Verstand raubt, deine Emotionen zum Überkochen bringt und die jede zu melancholische Person in den Tod stürzt. Eine fast schmerzhafte Harmonie.
Und eben diese erfüllte das kleine Zimmer. Dort standen ein Sessel, ein Bett und ein Tisch mit einem Stuhl, auch ein Regal war zu finden, in dem Bücher standen. Sie hatte längst nicht alle davon gelesen, viele hatten sie gerührt, manche sie entführt, aber keines konnte sie heute Nacht vor ihren Gedanken – vor dem, was geschehen war und geschehen würde – retten.
Sie saß auf dem Sessel, gehüllt in das Licht des Vollmondes, die Knie hatte sie angezogen. Sie trug ein langes, rotes Kleid. Ein wunderschönes rot war es. Vielleicht wirkte die Farbe des Kleides auch nur so schön, weil ihre Haut so blass und ihr Haar so dunkel war, weil es sich hervorhob von der weichen farblosen Erscheinung - wie das Mondlicht in der Dunkelheit.
Sie starrte auf die Taschenuhr, die schwer in ihrer Hand lag. Als könne ihr Blick die Zeit anhalten, als könnten ihre Gedanken den Zeiger sogar dazu bewegen, rückwärts zu laufen.
Die Uhr war silbern und die Zahnräder sichtbar, sie verdeutlichte so traurig schön die Vergänglichkeit der Zeit. Ihr Deckel war verschnörkelt und verlieh ihr somit etwas Besonderes.
Es war schon sehr spät, etwa kurz vor Mitternacht. Das Korsett ihres Kleides war zu eng geschnürt, doch das merkte sie gar nicht. Auf ihren Knien lag ein Brief. Ein altes Stück Papier, auf dem mit sorgfältiger Schrift, von einer Feder gezeichnet, stand:
Lebe Wohl
Nichts weiter, nur diese beiden Worte: Lebe wohl.
So ordentlich, so sorgfältig, so schön, so schön. Wie konnten zwei Worte, die so schön, mit so großer Mühe geschrieben worden waren, so eine schwere Bedeutung haben?
Sie war nur kurz weg gewesen, vielleicht eine Stunde. Sie hatten sich nicht gestritten, heute nicht, gestern nicht. Nein sie hatten sich prima verstanden.
Die Sonne hatte noch geschienen, keine Wolke war am Himmel gewesen, als sie nach Hause kam von ihren Erledigungen. Es war so ruhig gewesen, als sie die Wohnung betrat. Sie hatte sich gefragt, wo er wohl hingegangen sei. Ob ihn wohl jemand eingeladen hatte? Vielleicht zu einem Herrenabend? Sie war durch die kleine Wohnung gestreift auf der Suche nach einer Nachricht.
Und dann hatte die Zeit aufgehört weiter zu laufen, die Töne hatten aufgehört zu existieren. Sie hatte den Zettel auf dem Bett gefunden. Unschuldig lag er da. Sie hatte sich gefreut, er hatte doch dran gedacht ihr eine Nachricht zu hinterlassen, dass sie sich nicht sorgen muss.
Sie hatte ihn aufgehoben und gelesen, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Immer und immer wieder hatte sie ihn gelesen. Immer und immer und immer wieder. Aber die Worte wurden keine anderen, sie wurden nicht hässlicher, sie sagten immer dasselbe aus: Lebe wohl.
Auf dem Sessel war sie zusammengesunken, kein Stück hatte sie sich mehr bewegt. Der Tag ging und die Nacht kam, sie konnte keine Kerze entzünden, das Licht kam ihr falsch vor. Wieso sollte man etwas erleuchten, wenn es dunkel war, wenn es dunkel sein musste? Sie wollte die Worte begreifen und konnte es nicht.
Die kalte Luft brannte in ihren Lungen und der Zettel lag einfach so da. Auf ihren Knien.
Die Uhr in ihrer Hand tickte unentwegt weiter. Die Frau hatte den Blick starr auf die Uhr gerichtet. Konnte ihn nicht abwenden. Stunde um Stunde verging. Der Mond schien in das Zimmer. Sie saß auf dem Sessel - unfähig sich zu bewegen. Es war schon sehr spät, etwa kurz vor Mitternacht. Das Korsett ihres Kleides war zu eng geschnürt, doch das merkte sie gar nicht. Auf ihren Knien lag ein Brief.
Dann verharrte der Zeiger kurz auf der Zwölf. Mitternacht. Dumpfe Glockenschläge, der in der Nähe stehenden Kirche, durchdrangen die Stille, zerrissen die Ruhe, die Melancholie des Augenblicks. Sie zerrissen ihre Unfähigkeit, sich zu bewegen.
Etwas existierte und wenn es nur der Ton der Glocken war, aber es existierte etwas.
Da stand sie auf. Der Zettel fiel zu Boden. Kein Blick folgte ihm, nahm nicht wahr, wie er nach unten glitt und sich auf den hölzernen Boden schmiegte, um dort zu verharren als hätte er jede Bedeutung verloren.
Worte standen auf ihn, die nie jemanden wieder so berühren würden, die nie jemand sonst begreifen würde. Dieser Zettel hatte nur Bedeutung für sie, für sie, die nun aufstand und ging.
Sie verließ den Raum, sie verließ die Wohnung, sie schaute sich nicht um. Sie ging durch die Straßen. Noch wusste sie, nicht wohin, aber sie wusste, dass heute die Nacht war, in der ihr neues Leben begann, in der sie zu allem imstande war und in der sie die Fesseln ablegte. Was spielt es da für eine Rolle, wohin man will?