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Der Zauberstein
In einem Tal, nicht weit von hier, lebte einmal ein armer Hirte namens Mika. Er war nicht immer arm, aber seit der Graf von Niederrück sein Reich bis in Mikas Tal ausgeweitet hatte, um irgendeinem König, von dem Mika noch nie gehört hatte, zu schmeicheln, musste Mika mit seinen Ziegen und Kühen immer höher in die Berge ausweichen. Nur gab es in den Höhen des Gebirges viel weniger Weideplätze für seine Tiere und er musste zusehen, wie die Tiere magerer wurden und weniger Milch gaben. Nach der Arbeit, wenn er müde von den langen Wanderungen über die steilen Klippen in sein Bett sank, träumte er oft von seinem saftig grünen Tal und von den guten Zeiten, die er dort verlebt hatte.
Eines Abends, Mika lag schon im Bett und wollte gerade in seine Träume flüchten, klopfte es an der Tür. Anfangs hielt der Hirte das Geräusch für einen Ast, der vom Sturm gepackt an der Tür kratzte, aber es klopfte noch einmal und jetzt war es so deutlich, dass Mika aufstand und die Tür öffnete. Es war niemand da. Nur der Wind fegte ihm um die Waden und rüttelte an der Tür. Sonderbar, dachte er bei sich, wohlmöglich macht mich der Hunger und die harte Arbeit so mürbe, dass ich Geräusche höre, wo keine sind.
Gerade wollte sich Mika wieder hinlegen, als er ein Gesicht vor seinem Fenster sah und einen Ellenbogen, der den Schmutz vom Fenster wischte. Eigentlich sah Mika nicht viel von dem Gesicht. Es war in eine große Kapuze gehüllt und von der Stirn hingen graue Haare bis zur Nase, wo schon der Bart begann, der mindestens ebenso lang war. Der Fremde presste die Nase so dicht an die Scheibe, dass sie sich nach oben bog und kurz sah Mika zwei helle Augen aufblitzen, die gleich hinter dem heißen Atem verschwanden, der das Fenster milchig bedeckte.
Da sprang Mika aus dem Bett und eilte zu Tür: „Komm Alter, schnell! Bald werden die Winde so stark, dass sie dich vom Felsen stoßen!“ Der Fremde blickte vorsichtig in Mikas bescheidene Hütte und trat ein.
„Ich werde dir ein Lager neben dem Herd machen.“, sagte Mika und nahm ein paar Decken und Felle von seinem Bett, die er vor dem Herd hinwarf. Dann holte er etwas Stroh und baute ein ganz passables Bett daraus. Der Alte legte inzwischen seinen Mantel ab und hängte ihn zum Trocknen auf.
„Sagt, habt Ihr etwas zu essen? Ich bin seit Wochen unterwegs und habe Hunger.“, fragte er und blinzelte auf den Topf, der auf dem Herd stand.
Mika senkte den Blick und schwieg einen Moment. Dann erzählte er dem Alten seine Geschichte und bot ihm etwas von dem heißen Tee im Topf an.
„Nun, vielleicht schlachtet Ihr eins eurer Tiere. Ich würde es Euch lohnen.“, sagte der Alte und schlürfte den heißen Tee.
„So arg ist dein Hunger?“, antwortete Mika, „nun, es fällt mir schwer mich von meinen Tieren zu trennen. Sie haben mir all die Jahre gute Milch gegeben. Aber nun, wo die Zeiten sich geändert haben, nützt es wohl nichts und ich werde eins schlachten müssen.“
Darauf ging er in den Stall und schlachtete eine alte Ziege. Am nächsten Tag kochte er dem Alten einen Gulasch davon und gab ihm das Fell für die Reise mit.
„Nun zu eurer Belohnung.“, sagte der Alte, als er den letzten Happen geschluckt hatte. Doch Mika winkte ab, „Was will ein alter Mann, wie du mir denn geben? Behalte dein Geld. Du wirst es auf deiner Reise noch brauchen. Hier nützt es mir nichts.“
„Ich biete Euch kein Geld. Ich biete Euch einen guten Rat. Auf der anderen Seite des Berges, die mitternachts zum Mond zeigt wohnt eine alte Hexe, die einen Stein besitzt. Wo dieser Stein auf die Erde gelegt wird, entspringt eine Quelle, die den Boden fruchtbar macht. Geht hin und fragt die Frau, ob sie Euch ihren Stein gibt. Soweit ich weiß, braucht sie ihn nicht und sucht schon lange nach einem guten Mann, dem sie ihn geben kann.“
„Das wäre wahrlich eine Rettung.“, freute sich Mika.
„Noch eins! Auf meiner Reise habe ich im Tal einen Grafen getroffen, dem ich für seine Gastfreundschaft den gleichen Rat gegeben hab. Doch nun sehe ich, dass Ihr den Stein weit dringender braucht und so bitte ich Euch gleich abzureisen, damit Ihr als Erster bei der Hexe seid.“
Mika zog seinen besten Anzug an und setzte die schönste Mütze auf, denn er wollte einen guten Eindruck bei der Hexe machen, damit sie ihm den Stein gab. Dann packte er ein paar Sachen zusammen und machte sich gleich auf den Weg. Er lief drei Tage lang immer höher den Berg hinauf und achtete jede Nacht auf den Mond. Obwohl er das viele Laufen in den eisigen Bergwipfeln von der Suche nach Futter für seine Tiere gewohnt war, machte ihm die Kälte und der Hunger zu schaffen. Er dachte einige Male daran umzukehren, aber er war nicht sicher, wie weit es noch war, ob er nicht schon kurz vor dem Ziel wäre. Also biss er die Zähne zusammen und ging weiter.
Endlich sah er am Nachmittag des dritten Tages die Hütte der Hexe auf einem Felsvorsprung. Ein Stück weiter darunter stand die goldene Trage des Grafen und die in Rot gekleideten Träger halfen ihm in einen alten Lumpensack.
Einer hob eine Hand voll matschiger Erde auf und rieb sie dem Grafen ins Gesicht, ohne dass dieser sich wehrte.
Ein anderer zerrte am Lumpensack, als wolle er ihn auseinanderreißen, aber der Graf stand still und beschwerte sich nicht.
Der Letzte brachte ihm die Haare durcheinander und es schien ihn nicht zu kümmern.
‚Ein seltsamer Graf’, dachte der arme Mika, richtete seinen Anzug und erklomm die letzten Meter zur Hütte der Hexe.
Gerade als er an die Tür klopfen wollte, holte der verunstaltete Graf ihn ein und schubste ihn zur Seite.
„Tu es nicht!“, rief er.
„Was soll ich nicht tun?“, rief Mika erschrocken.
„Weißt du denn nicht, dass hier eine Hexe wohnt, die jeden verbrennt, der sich ihr nähert?“, antwortete der Graf.
„Verbrennen!“, rief Mika und dachte einen Moment nach. Doch so sehr er sich vor der Hexe fürchtete, fiel ihm doch keine andere Lösung für sich und seine Tiere ein, als der Stein und er sagte: „Es nützt nichts. Ich muss es trotzdem wagen.“
„Dann will ich dich begleiten.“, sagte der Graf eilig und drängelte sich vor die Tür.
„Aber dann werdet Ihr auch verbrannt!“, rief Mika, „Was treibt Euch in den Tod mit all euren Ländereien und Reichtümern?“
Der Graf wurde böse und rief: „Still! Du dummer Bauer, glaubst du denn, dass ich mit ansehen will, wie die Hexe dich verbrennt?! Ich sage dir, nur ich habe eine Chance.“
„Wenn Euch mein Wohl wirklich so am Herzen liegt, dass ihr sogar Euer Leben dafür opfern wollt, so kann ich Euch sagen, dass es eine bessere Lösung gibt, bei der wir beide unser Leben behalten.“
„Was meinst Du?“, fragte der Graf.
„Ich bin nur hierher gekommen, weil Eure Diener mich aus meinem Tal vertrieben haben und ich nun auf den Stein der Fruchtbarkeit hoffe, mit dem ich in den Bergen überleben kann. Wenn Ihr also bereit seid, ein kleines Stück des Tals für mich und meine Tiere zu geben, brauchen wir hier nicht unser Leben zu lassen.“
Der Graf raufte sich die Haare. Ein so starrsinniger Bauer war ihm noch nie untergekommen.
„Das Land gehört dem König.“, sagte er schließlich, „Ich bin nur sein Verwalter.“
„Dann muss es wohl so sein.“, antwortete Mika und klopfte an die Tür der Hexe.
Der Graf zuckte zurück und versteckte sich hinter Mikas Rücken. Die Tür ging langsam, mit einem bedrohlichen Knarren auf. Doch niemand stand dahinter.
„Geh hinein.“, fauchte der Graf hinter Mikas Rücken. Aber auch Mika war es nicht geheuer, doch dann fiel ihm der alte Mann ein, der ihn doch nicht hierher geschickt hätte, wenn es der sichere Tod wäre.
‚Das konnte nicht sein’, dachte er bei sich und ging hinein. Hinter ihm schloss sich die Tür und der Graf, der lieber draußen gewartet hatte, war jetzt ausgeschlossen.
Mikas Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und suchten den Raum nach der Hexe ab. Ein alter Kater miaute vom Regal herunter. Mika dachte schon, er wäre eine verwandelte Hexe und sprach ihn an, aber der Kater antwortete nicht, sah ihn nicht mal an und leckte sich stattdessen seine Tatze. Selbst eine Hexe würde nicht so unhöflich zu einem Gast sein, dachte Mika.
Dann endlich fand er die Hexe am Ende eines Bambusrohrs, das sich wie eine Rutsche vom Regal bis auf den Tisch ringelte. Sie war winzig klein, keinen Zentimeter groß, und saß auf dem Hintern, während sie immer wieder auf ihren Kopf zeigte und etwas piepste, das so leise war, dass Mika es nicht verstand. Nach einer Weile richtete sie sich auf, schüttelte sich und verwandelte sich wieder in Menschengröße. Jetzt war sie zwar immer noch kleiner als Mika, aber ihre Stimme war wieder laut und deutlich, wenn auch kratzig, wie es sich für eine Hexe gehört.
„Entschuldigung!“, begann sie, „Ich habe nicht mit Besuch gerechnet.“ Dann stutzte sie und zog Mika etwas näher an sich ran. „Ab und zu verfalle ich wieder in meine alten Jugendspiele“, sagte sie und zeigte auf das Bambusrohr, „und ich würde dich bitten, niemandem etwas davon zu verraten.“
Sie schwankte ein wenig und Mika half ihr in den Sessel an der Feuerstelle.
„Ich vertrage diese Rutschpartien nicht mehr. Dauernd schwirrt mir der Kopf davon, aber es ist nun mal ein Laster, dem ich alle paar Jahre nachgeben muss.“ Die Hexe rieb sich die Schläfen und betrachtete erst Mika und dann die Tür.
„Komm doch rein!“, rief sie und die Tür öffnete sich wie von selbst. Der fröstelnde Graf trat in die Stube und setzte sich neben Mika.
„Guten Tag, edle Frau! Ich bin den weiten...“, begann er feierlich.
„Ach! Wisch-Wasch!“ rief die Hexe, „Glaubst du denn, ich wüsste nicht, wie weit die Wege hierher sind? Und warum ihr hier seid? Ich selbst habe doch nach euch geschickt, um einen würdigen Besitzer für den Fruchtbarkeits-Stein zu finden.“
Mika und der Graf schwiegen und sahen sich an.
„Nun, ihr seid also zwei und ich habe nur einen Stein.“, sagte die Hexe und ihr Blick wanderte forschend vom Mika zum Grafen und wieder zurück.
„Ich bin ein armer Mann.“, sagte der Graf und bückte sein Kreuz. „Gebt mir den Stein, damit ich meine Familie ernähren kann.“
Mika erschrak, als er den Grafen so überzeugend lügen hörte, aber er wagte nichts zu sagen, denn er wusste, dass der Graf ihn ganz vertreiben konnte, wenn er nur einen Grund dafür hätte.
Die Hexe überlegte einen Augenblick und sagte: „Was willst du mir dafür geben?“
Der Graf zog eifrig einen klitzekleinen Beutel aus seinem zerfetzten Umhang und schüttete ihn vor ihr aus.
„Das ist zu wenig!“, sagte sie barsch und fegte die beiden Taler vom Tisch.
Wieder suchte der Graf in seinem Umhang und zog ein etwas größeres Beutelchen hervor, aus dem nun fünf Silberstücke kullerten. Auch die fegte die Hexe fort. Schließlich kramte der Graf mürrisch einen großen Beutel mit fünfzig Goldstücken hervor.
„Fünfzig Goldstücke!“, rief die Hexe anerkennend und sah Mika an: „Und du? Was gibst du mir?“
Mika wurde rot und verbarg seine schwitzenden Hände in den leeren Taschen seines Anzugs.
„Ich habe nichts. Meine Taschen sind leer.“
Als der Graf das hörte, lehnte er sich siegessicher zurück und dachte bei sich selbst, wie dumm er doch gewesen war, dass er glaubte, dieser arme Bauer könnte ihm den Stein streitig machen.
Die Hexe beugte sich über den Tisch, nahm eines der Goldstücke und biss darauf.
„Das ist echtes Gold!“, sagte sie und ließ es im Licht funkeln.
„Natürlich!“, rief der Graf, „Nie würde ich eine edle Dame wie Euch betrügen.“
„Nun,“ sagte die Hexe, „ihr habt beide meinem Freund ein Lager und zu essen gegeben, also steht euch beiden der Stein zu. Du kannst mir nichts dafür geben. Du aber, willst mir fünfzig Goldstücke geben. Das ist gut, denn mit diesen Goldstücken kannst du deine arme Familie ernähren und brauchst also meinen Stein nicht.“ Sie wandte sich wieder zu Mika: „Du aber sollst ihn haben, denn deine Taschen sind zwar von feinerem Garn, aber so leer, dass sie dich nicht satt machen werden.“
Mika war außer sich vor Freude, hatte er sich doch schon verloren geglaubt, als er die List des Grafen durchschaute. Der Graf aber wurde erst blass und dann rot, bis er schließlich wütend die Hütte der Hexe verließ.
„Vielen Dank!“, rief Mika und nahm den Stein entgegen, „Nie wird ein Wort über Euren Sport über meine Lippen kommen.“
Die Hexe winkte Mika nach, der fröhlich tanzend links und rechts vom Wegesrand den Zauberstein auf die Felsen legte, worauf das klarste Wasser aus der Erde sprudelte und die alten, vertrockneten Samen, die der Wind hinaufgeweht hatte, wieder zum Leben erweckte. Und kurz darauf passierte auch die Trage des Grafen den Hang. Die dürren Beine der Träger versanken bis zu den Waden in der fruchtbaren, weichen Erde. Der Graf trug wieder seine schönen Kleider und seine Diener hatten allesamt rotgeschwollene Wangen, von den Ohrfeigen, die der Graf mit seinen weißen Lederhandschuhen austeilte und man hörte sein Fluchen bis ins Tal hinunter.