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Der Zauber der Musik II
„Hi, Jenny, wie geht’s dir?“, rief Lisa durchs Telefon.
„Hi Lisa. Ja, es gefällt mir hier. Du musst unbedingt mal kommen, es ist gigantisch hier.“
„Deshalb heißt das Ding auch Villa“, antwortete Lisa etwas gereizt. Anscheinend war sie doch wohl etwas eifersüchtig. Grinsend lies sich Jenny auf ihr Bett fallen. Gut, dass Lisa sie jetzt nicht sah…
„Ach, so was aber auch! Ich dachte es wäre ein altes Bauernhaus“, gab Jenny ironisch zurück.
„Ha ha. Hör mal, habe ich dir das schon mit Jette erzählt?“
„Du rufst gerade zum ersten Mal hier an.“
„Ich habe die blöde Kuh doch angeschrien, wegen der Sache mit dem Umzug.“
„Ja, und?“
„Alle wissen es mittlerweile, dass du umgezogen bist, also auch sie. Sie sagt, sie habe dafür kein Verständnis, für die Sache mit dem Anschreien meine ich. Schließlich sei sie daran nicht Schuld gewesen. Ach ja, und nach dir hat sie auch nicht gefragt. Das alles scheint ihr so ziemlich schnuppe zu sein.“
Jenny überlegte kurz.
„Naja…“, meinte sie schließlich, „…ganz unrecht hat sie ja nicht, aber sie kann doch nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.“
„Tja, so ist sie eben. Ich soll dich übrigens von Alex und Marc grüßen. Sie können leider in den nächsten zwei Wochen nicht kommen. Die machen zusammen Urlaub in Italien.“
„Bestell ’n Gruß zurück, auch an Jette. Glaub mir, lange kann es ihr nicht mehr gleichgültig sein.“
„Wenn du meinst. Tschau!“
„Tschau, Lisa!“
Jenny legte auf. Seufzend streckte sie sich auf ihrem Bett aus. Sie hätte es wissen müssen, dass es Stress gab, jedenfalls, wenn Jette dabei war.
„War das deine Freundin?“
Tante Marie stand im Türrahmen und sah sie liebevoll an. Jenny lächelte.
„Das war Lisa.“
Sie setzte sich auf. „Ich gehe zu Ruby.“
Vor drei Tagen, als sie hier noch nicht gewohnt hatte, musste sie immer zu ihrem Pferd mit dem Auto gebracht werden. Jetzt konnte sie es sehen wann sie wollte.
„Tu das. Ich bin eben kurz in der Stadt. Du kommst doch hier alleine klar?“, fragte ihre Tante. Jenny nickte. Tante Marie verließ das Zimmer.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugeschlagen, flüsterte es: „Ist sie weg?“
„Warte!“
Jenny lief zu Fenster und sah zur großen schwarzen Limousine, die gerade aus der Einfahrt fuhr. Jenny wartete noch eine Minute, nur um sicher zu gehen, dass Tante Marie nicht zurückkam. Dann sagte sie: „ Sie ist weg Myrrdin.“
„Endlich!“ Der Elf kam unter ihrem Bett hervor und klopfte sich den Staub ab.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte Jenny.
„Na was wohl, nach dem Schatz suchen natürlich. Im Zimmer deiner Tante, auf dem Dachboden und im Kerker habe ich noch nicht nachgesehen.“
„Hier gibt es einen Kerker?“, fragte Jenny verdutzt.
„Wusstest du das nicht? Hier stand früher mal ein Schloss. Es wurde im ersten Weltkrieg vollkommen zerstört, also haben sie diese Villa direkt über dem Kerker gebaut.“
„Zeig mir den Kerker!“
Jenny liebte schon immer dunkle, feuchte und gruselige Orte.
Myrrdin verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. „Ich dachte, du wolltest zu deinem Pferd?“
„Das kann warten“, erwiderte Jenny.
„Das ist nichts für Mädchen, da unten spukt es und das meine ich ernst!“
Jenny musterte ihn. Er machte nicht den Eindruck, als würde er sie nur abschütteln wollen. Seine Miene war todernst und nach all dem, was gestern passiert war, dass ein Elf jetzt vor ihr stand, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass es da unten spukt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass hier in diesem Haus alles möglich wäre.
„Ich fürchte mich nicht vor Geistern!“, sagte sie schließlich.
Myrrdin musste sich geschlagen geben.
„Na gut, komm mit. Aber ich sage dir, wenn du erst einmal da unten warst, wirst du ganz anders darüber denken.“
Jenny grinste. „Wir werden ja sehen…“
Jenny hatte erwartet, dass der Kerker stockdunkel wäre, doch ein seltsam blaues, fließendes Licht erhellte das alte, dunkle Gemäuer. Jenny konnte sich nicht erklären, woher das ganze Licht kam, sie konnte keine Laterne oder Fackel sehen. Sie schauderte.
Der Kerker war ein einziges Labyrinth aus Gängen und Gefängniszellen aus verrosteten Gitterstäben. Anstatt Gefangene huschten Ratten in den Gefängnissen umher oder dicke schwarze Spinnen krabbelten die kalten grauen Wände hoch.
„Na, schon Angst bekommen?“, fragte Myrrdin spöttisch.
Jenny schüttelte den Kopf. Immerhin sind sie noch keinem Geist begegnet, nur Ratten, verrosteten Gitterstäben und Spinnen.
Myrrdin holte ein Stück Kreide hervor.
„Damit wir wieder hier raus finden“, erklärte er.
„Glaubst du, der Schatz ist hier unten?“, fragte Jenny
Myrrdin zuckte mit den Schultern. „Gut möglich.“
Sie gingen die Gänge entlang und Myrrdin markierte regelmäßig ihren Weg. Vor Aufregung schlug Jenny das Herz bis zum Hals, doch nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde lang erfolglos gesucht hatten, ohne einem Geist zu begegnen, entspannte sie sich ein wenig.
„Hier entlang!“ Myrrdin nahm sie am Handgelenk und zerrte sie in einen schmalen Gang.
„Warum denn ausgerechnet hier?“, fragte Jenny als der Gang immer enger wurde.
„Weil der hier ziemlich auffällig ist. Hier könnte der Schatz sein!“
„Aber Myrrdin“, sagte Jenny, „Denk doch mal nach. Die hätten doch nie und nimmer hier eine Schatztruhe durchquetschen können!“
„Wer sagt, dass es eine Truhe ist? Es könnte auch gut ein Lederbeutel mit Gold und Edelsteinen sein!“
„Wenn du meinst“, grummelte Jenny und hastete ihm nach.
Plötzlich blieb Myrrdin stehen. Jenny sah an ihn vorbei und entdeckte eine morsche Tür mit rostigen Griff. Jenny hatte hier noch keine einzige Tür gesehen, das fand sie sonderbar. Warum ist ausgerechnet eine in diesen schmalen Gang? Liegt dahinter etwas versteckt? Myrrdin schien das selbe zu denken.
Nach einer Ewigkeit, so kam es ihr vor, griff Myrrdin nach der Klinke und drückte sie herunter. Obwohl die Tür schon sehr alt war, lies sie sich leicht öffnen. Die Scharniere quietschten fürchterlich, als Myrrdin die Tür öffnete.
„Uuugh!“, machte Jenny und hielt sich die Nase zu. Ein starker Verwesungsgestank schlug ihnen entgegen.
„Bä! Warum stinkt es hier so?“
Die Antwort lag hinter dieser Tür. Als sie den Raum hinter der Tür betraten sahen sie Gefängniszellen mit…
„Skelette“, schrie Jenny.
Langsam übermannte sie ihre Angst. In jeder einzelnen Zelle lagen die Überreste der Gefangenen und schienen sie anzugrinsen. Ach was, dachte Jenny, Totenschädel sehen doch immer so aus, als ob sie grinsen würden…
Jenny wollte wegrennen, doch ihre Beine machten keine Anstalten sich zu bewegen.
„Warum sind hier Skelette?“, wisperte sie, „Wir haben doch woanders keine gesehen!“
„Ich weiß nicht…Ich sehe mich mal hier um. Komm!“
„Ich gehe keinen Schritt weiter!“, schrie Jenny.
„Komm schon, es sind doch nur Skelette!“
„Es sind Tote!“
„Von mir aus auch Tote. Nun komm, die tun dir nichts!“
„Geh du doch, ich hau hier ab!“
Jenny war mit ihren Nerven am Ende.
„Dann geh doch, ich hab ja gesagt, dass ist nichts für Mädchen!“
„Mit Geistern hätte ich auch kein Problem gehabt!“, rief sie noch bevor sie aus dem Kerker rannte.
Jenny war auf der Koppel von Ruby und streichelte das weiche Fell des Pferdes. Zuerst war sie in ihr Zimmer gerannt um sich andere Sachen anzuziehen, denn sie hatte das Gefühl, ihre Kleider würden nach dem Raum mit den Toten stinken…
In Rubys Nähe fühlte sie sich sicher und sie beruhigte sich langsam, als sie die Mähne des Ponys kraulte. Sie lachte, als Ruby ihr mit der Lippe durchs Haar wuselte.
„Jenny?“
Sie erschrak als Myrrdin neben ihr stand, denn sie hatte ihn nicht kommen hören.
„Alles klar?“, fragte er behutsam.
„Ja.“
Myrrdin kraulte Ruby, die in neugierig beschnüffelte, am Mähnenansatz. Das Pony schnaubte leise.
„Ich habe mir die Skelette mal genauer angesehen. Sie sind alle über hundert Jahre alt.“
„Aha“, machte Jenny.
„Und, jetzt halt’ dich fest, es sind Skelette von Elfen. Neben ihnen lag noch der Staub ihrer Flügel!“
„WAS?“
Durch ihren plötzlichen überraschten Aufschrei erschrak Ruby, warf den Kopf hoch und wieherte schrill. Beruhigend klopfte Jenny das Tier am Hals.
„Bist du sicher dass es der Staub der Flügel ist? Es könnte auch gewöhnlicher sein…“
Myrrdin schüttelte den Kopf. „Hast du schon einmal blau schimmernden Staub gesehen?“
Jenny verneinte. „Aber das heißt ja, dass dieses Grundstück einmal den Elfen gehört hat“, sagte sie.
„Oder noch immer gehört“, ergänzte Myrrdin, „Jenny, ich habe das Gefühl, dass deine Tante uns irgendetwas verheimlicht…“
„Myyrdin, Tante Marie kommt jeden Augenblick!“
Myrrdin hatte sie überredet, das Zimmer ihrer Tante nach Hinweisen zu durchsuchen. Doch bis jetzt hatten sie nichts außer Kleinkram und Bücher gefunden.
„Hier muss es etwas geben!“, sagte Myrrdin und wühlte in einer Schublade der Kommode.
„Vielleicht haben wir uns geirrt.“
„Nein. Bestimmt nicht.“
„Was ist damit?“, fragte Jenny und hielt ein Buch mit der Aufschrift „Familien-Chronik“ hoch, welches sie in einer Schreibtischschublade gefunden hatte.
„Zeig mal.“
Myrrdin schlug die erste Seite auf. Sie war vergilbt und sah sehr alt aus.
„Das ist ein Familienstammbaum, reicht bis 1654 zurück.“
Er überflog ihn kurz.
„Komisch, ich finde deine Tante hier nicht…“
Auch Jenny beugte sich jetzt über das Buch.
„Da, bei 1865“, rief sie verdutzt, „Josephine Marie.“
Auch Myrrdin starrte jetzt die Stelle an, die Jenny ihm gezeigt hatte.
„Tatsächlich“, flüsterte er.
„Myrrdin!“, rief Jenny, ihr war so eben etwas klar geworden, „Ist das zufällig der Stammbaum einer Elfenfamilie?“
„Das steht hier nirgendwo…warte mal…Milon, Latha, Spike…Alles Elfennamen!“
„Was, wenn Tante Marie eine Elfe war?“
„Wieso war?“
„Ach, mensch Myrrdin!“, seufzte Jenny „Sie wurde 1865 geboren, sie müsste schon längst tot sein! Das Todesdatum steht dort leider nicht, genau wie bei ungefähr zwanzig anderen. Was, wenn niemand von ihrem Tod erfahren hat? Was, wenn sie dort alle in diesen Kerker gestorben sind? Versteckt?“
„Dann wäre deine Tante ja ein Geist“, sagte Myrrdin ungläubig.
„Genau!“
„Aber dann ist sie ja nicht deine Tante! Ihr seid noch nicht einmal miteinander verwandt. Du stehst hier nirgendwo.“
Jenny schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter mal über ihre Schwester erzählt hatte.
„Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass ihre Schwester schon mit sechzehn ausgezogen ist und nie wieder gesehen wurde…“
„Stopp, stopp. Jetzt hab ich’s! Deine Tante wollte dich hier haben! Sie hat deiner Mutter vorgegaukelt, sie sei ihre Schwester und deine Mutter hat ihr geglaubt“, erklärte Myrrdin aufgeregt.
„Aber hätte meine Mutter das nicht gemerkt?“, fragte Jenny fassungslos, „Sie hätte doch sehen können, dass das nicht ihre Schwester ist.“
„Sie ist mit sechzehn ausgezogen. Deine Mutter hat sicher gedacht, dass sie sich verändert hat.“
„Aber warum wollte sie mich hier haben?“
Myrrdin dachte kurz nach und schüttelte schließlich den Kopf.
„Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.“
Irgendetwas piepste in Jennys linker Hosentasche.
„was ist das?“, fragte Myrrdin.
„Mein Handy. Jemand hat mir eine SMS geschickt.“
Hi Jenny.
Jemand muss uns reingelegt haben. Wir haben keinen Job in Frankreich bekommen. Kommen zurück und ziehen wieder in unser altes Haus.
Mama und Papa
Verwirrt steckte Jenny das Handy wieder weg. Kein Job in Frankreich, der mysteriöse Stammbaum, der Kerker, der Schatz… irgendwie musste alles zusammen passen, aber wie?
Der Geist von Tante Marie spukt hier herum. Sie ist höchst wahrscheinlich in diesem Kerker gestorben. Hier gibt es Zugänge zu zwei Welten. Sie wurde von Zuhause weggelockt. Aber warum? Was bleibt übrig? Der Stammbaum? Nein.
Der…
„Myrrdin, der Schatz!“
„Bitte?“
„Ich weiß, wo der Schatz ist! Bei uns Zuhause. Tante Marie ist weggefahren um sich den Schatz zu holen! Uns haben se dafür weggelockt.“
Myrrdin seufze. „Natürlich!“
„Was?“
„Also: Vo vielen Jahren, so hat man sich erzählt, gab es ein Krieg zwischen den Welten. Durch die schwarze Welt ist der Schatz verloren gegangen. Und die schwarzen haben die weißen entführt und den Schatz der weißen versteckt.“
„Und die Entführten wurden in diesen Kerker versteckt. Und der Kerker ist so ein komisches Labyrinth, damit man sie nicht so schnell findet!“
„Genau!“
„Und warum will meine Tante den Schatz?“
Diese eine Frage stand noch offen und sie war sich sicher, dass Myrrdin eine Antwort darauf hatte…
„Sie will sich das holen, wofür sie eingesperrt wurde und schließlich gestorben ist!“, erklärte Myrrdin.
An der Tür klopfte es und Jenny hatte eine gruselige Ahnung, wer es war. Myrrdin schien das selbe zu vermuten, denn niemand sagte auch nur ein Wort.
Tante Marie schwebte durch die Tür. Erst jetzt fiel Jenny auf, dass Tante Maries Füße Millimeter über den Boden schwebten.
„Ihr scheint ja alles herausgefunden zu haben“, meinte sie befriedigt.
Jenny öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn dann wieder zu. Sie hatte plötzlich Angst vor ihrer Tante.
„Es tut mir Leid, Jenny, dass du so etwas im Kerker sehen musstest“, flüsterte sie. Jenny schüttelte den Kopf. Es tat ihr leid, dass ihre Tante im Kerker sein musste.
„Deine Eltern sind sicher morgen hier. Es war mir eine Freude, dich kennen gelernt zu haben Jenny.“
Jenny nickte stumm.
„Hier Myrrdin“, sie hielt Myrrdin einen Lederbeutel hin, „Der Schatz, pass gut darauf auf!“