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Der Wunsch!
In meiner Kindheit habe ich das so gemacht - heute erscheint es mir albern:
Ich sitze in der U-Bahn und schaue auf die gegenüber sitzende Frau. Ihr blondes Haar ist zum Teil ergraut und ich sehe es ihr an, sie ist an diesem Morgen noch müde. Sie arbeitet bestimmt in einer Fabrik und wünscht sich, genauso wie ich es tue, daß der Tag schnell vorbei ist.
Heute soll ich mich bei Hoffmanns-Kartonagen vorstellen, als Lagerist. Wie sehr brauche ich einen Job, doch wie immer wird es eine Ablehnung werden.
Ich weiß das schon vorher. Es ist bei mir immer so, daß ich vorher weiß, wie es ausgeht. Um so mehr ich mir etwas wünsche, um so eher trifft es nicht ein. Das ist so seit meiner Kindheit, daher hatte ich früher immer versucht, mir das Gegenteil zu wünschen. Ich weiß ja, daß das Quatsch ist, aber ich versuche es heute einfach mal.
Kottbusser Tor kommt unerbittlich näher, wie ich diesen Jobvermittler hasse. Nein, ich darf daran jetzt nicht denken. Ich muß mich auf meinen Wunsch konzentrieren. Die Frau mit ihrem ergrauten Haaren sitzt da immer noch. Sie starrt auf den Boden. Was gib’s denn da? Und die Station, wo ich raus muß, kommt immer noch näher.
„Wir freuen uns, daß wir sie in unserem Team begrüßen dürfen.“ Ich sehe das schon vor mir, wie so ein fetter Lagerverwalter, der kaum seinen Arsch vom Bürostuhl hoch bekommt, mir seine Wurstfinger entgegenstreckt und mich beglückwünscht.
Nein, ich brauche ein anderes Bild. Grrrrr..., ich schau wieder auf die Frau mit den ergrauten Haaren und stelle mir sie jung und mit einer frischen Stimme vor. Sie steht von ihrem Bürostuhl mit weichen, schon fast elfenhaften Bewegungen auf. Sie schwebt mit ihrem fast durchsichtigen Schleier, der wie eine Tunika ihre zarte Haut bedeckt, um den Bürotisch. Ein leichter Wind weht durch ihr goldenes Haar und sie sagt: „Ich freue mich, dich in meinem Team begrüßen zu dürfen.“ Jep, das ist das Bild, das ich brauche. Bitte, bitte laß es so sein.
Kottbusser Tor, ich muß aussteigen. Ich sehe es vor mir, wie sie mich anlächelt, und ich will in ihr Team. Die Tür knallt zu und die U-Bahn rauscht hinter mir davon. Ich blicke kurz hinterher, wie der Zug mit meiner Traumchefin in die Finsternis verschwindet. - Wo muß ich hin? Fraenkelufer! Ich brauche ja nur die Kottbusser Straße entlanglaufen, da kann nichts schief gehen.
Diese Ecke Berlins ist echt ekelig. Überall diese Penner, die Hartz VI – Empfänger. Ein Glück, ich bekomme ja gleich den Job von meiner hübschen Traumchefin, dann nie wieder Jobcenter und Hartz 4.
Hier ist nun auch schon Fraenkelufer. Passend der Name, direkt am Kanal. - Ist schon komisch, nur einmal um die Ecke gebogen und schon sieht Berlin ganz anders aus. Ein Kanal, eingefaßt zwischen Bäumen und auf beiden Uferseiten kleine, schnuckelige Straßen. Ich höre aber noch den Lärm von der Geschäftsstraße. Hinter dem Jüdischen Gemeindehaus muß es sein. Die Firma ist im letzten Hinterhof eines Altbaus. - Wie sah meine Traumchefin nochmal aus? Achja, mit ihr möchte ich arbeiten.
So, jetzt stehe ich in dem Hof. Direkt vor mir die Einfahrt zu Hoffmanns-Kartonagen. Augen zu und nochmal ganz doll wünschen.
Was? Wer schreit da? Ja wie, was ist das nun? Ich schwebe, ich kann ja fliegen. Da steht ein Gabelstapler mit einer Palette gefalteter Kartons vor der Einfahrt zu Hoffmanns-Kartonagen. Wie ist mir? Ich fliege immer höher. Und da kommen Leute, die wuseln um den Stapler herum und werden immer kleiner. Jetzt werden schon die roten Dächer kleiner, oh Gott! Ich fühle nichts, nichteinmal meinen immer schmerzenden Rücken. Und nun wird’s hell, alles wird Weiß. Ich glaube, der Kerl auf dem Stapler hat mich eben überfahren.
„Hallo, Karsten, wach auf“, - „Hmm, ja“, und Karsten drehte sich auf der alten Couch, die wahrscheinlich schon seit Omas Zeiten an der Stelle in dem kleinen Zimmer stand. Er öffnete vorsichtig seine, vom Schlaf verklebten, Augen und sah die verstaubte Hängelampe vom Wohnzimmer und blickte hinüber zu Claudia, die noch in dem kurzen Nachthemd den Fernseher ausknipste.
„Du solltest nicht solange Fernsehen schauen, daß ist echt nicht gut für unsere Beziehung.“- „Bin da wohl bei eingeschlafen“, antwortete er, während er sich von der Couch aufrichtete. „Hab ich ein Mist geträumt“, stammelte er kaum hörbar, bevor er, an Claudia vorbei, in den schmalen Flur ging, um ins Badezimmer zu verschwinden.
„Ist heute der fünfzehnte?“, hörte Claudia ihn aus dem Bad rufen. Dann flog auch schon die Badezimmertür auf und er schritt wie gehetzt zurück ins Wohnzimmer, indem Claudia immer noch am Fernseher stand und ihn erstaunt anschaute. „Heute ist der fünfzehnte, ich muß mich beeilen, ich habe ein Bewerbungsgespräch.“ – „Und wo heute?“ – „Kreuzberg“, erwiderte er und zog dabei seine Hose hoch. „Als Lagerist, drücke mir mal die Daumen.“
Nicht einmal für einen Abschiedskuß hatte er mehr Zeit. So hätzte er durch das alte Treppenhaus bis auf die Straße. Ohne einen unnötigen Blick zu verlieren, eilte er so schnell, wie es ohne Schweiß ging, die Straße hinunter bis zur U-Bahnstation. Auf der Rolltreppe drängelte er sich ohne Rücksicht an Leute vorbei und erreichte gerade noch rechtzeitig seinen Zug.
Wie immer, wenn es möglich war, setzte er sich auf die linke Sitzreihe. Erleichtert atmete er auf. Im Sitzen versuchte er sein Hemd in die Hose zu stopfen, was ihm auch eher schlecht gelang. Als er wieder hoch schaute, blieb ihm vor Schreck fast sein Herz stehen. Er war fassungslos und schockiert. Wie gebannt schaute er auf die Frau gegenüber. Die Frau mit ergrautem blonden Haar, die ihren Blick nicht vom Boden vor ihr ließ.
„Der Wunsch!“, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte aber doch den Job haben. Niemals hätte er versucht mit seinem Kindheitsritual das zu beeinflussen. „Das wäre eh Quatsch“, dachte er sich. Außerdem war das ja nur ein Traum gewesen. Ein zugegebenermaßen merkwürdiger Traum, aber nur ein Traum. Und die Frau mit den ergrauten Haaren? Zufall! Träume verwischen sich nunmal mit der Realität. Wie oft hatte er gemeint, etwas schon einmal im Traum gesehen oder erlebt zu haben. So beruhigte er sich wieder und mußte schmunzeln.
Am Kottbusser Tor stieg er aus und ging die Kottbusser Straße entlang. „Die Hartzler, ja, die sind hier immer“, sagte er leise zu sich, als er in die Straße einbog, in der die Firma Hoffmanns-Kartonagen ihr Umschlaglager hatte. Auch diese Straße war ihm nicht fremd, er war hier bestimmt schon einmal gewesen.
Dann stand er im Hinterhof des Altbaus. Vor ihm die Einfahrt zu Hoffmanns-Kartonagen. Aber er traute sich nicht näher an die Einfahrt heran. Das war ihm nun doch suspekt. „Die gleiche Einfahrt wie im Traum!“, kam es ihm über die Lippen. Fluchtartig drehte er sich um, und er hörte nurnoch „Vorsicht!“