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- 14.01.2017
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Der Wunderdoc
"Wenn Sie gleich etwas schläfrig werden, dann geben Sie der Müdigkeit einfach nach", sagte Dr. Brentheim routiniert. "Denken Sie einfach daran, dass Sie bald wieder zehn gesunde Finger haben werden."
Sven atmete tief durch. "Das ist wunderbar", presste er heraus. Worauf hatte er sich hier nur eingelassen? Die mysteriöse Brentheimmethode, die Medizin-Revolution schlechthin. Vier Stunden in der Praxis und der Patient ist geheilt. Seit sechs Monaten entfernte der Arzt jetzt schon Tumore, heilte Knochenbrüche und machte Schönheits-OPs. Und das alles ganz ohne Schmerzen, ohne Wunden, ohne auch nur den kleinsten Hinweis darauf, wie er es anstellte, aber dafür zu einem fast unerschwinglichen Preis.
"Ich hoffe, Sie haben schon einen schönen Flügel gekauft und für morgen Klavierstunden gebucht", sagte der Arzt und tätschelte ihm den Arm. Sven lächelte gequält. Er lag auf der Liege eines Kernspintomographen und wurde langsam in die Röhre hineingefahren. Ja, der kleine Finger seiner rechten Hand war nicht mehr funktionstüchtig, seit er ihn mit sechs Jahren in einer Autotür eingeklemmt hatte, aber gestört hatte es ihn eigentlich nie. Auch wäre er im Leben nicht auf die Idee gekommen, noch Klavierspielen lernen zu wollen. Es gab viel handfestere Gründe, warum er auf dieser Liege lag.
"Werde ich von der Behandlung etwas mitbekommen?", fragte er möglichst beiläufig.
"Das ist leider nicht möglich", sagte Dr. Brentheim abwesend und kontrollierte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion, die mit seinem Arm verbunden war.
"Aber das hier ist erst einmal nur eine Untersuchung", hakte Sven nach, "und ich werde vor der eigentlichen Behandlung noch einmal aufwachen, oder?"
"Lassen Sie sich überraschen", sagte der Arzt. "Wenn etwas nicht in Ordnung ist, drücken Sie einfach hier." Er betätigte den Knopf des Patientenrufs. "Schwester Julia wird gleich bei Ihnen sein und sich um Sie kümmern, bis Sie eingeschlafen sind.“
"Und wie ist ...“ setze Sven an, doch der Arzt hatte sich schon umgedreht und ohne Gruß den Raum verlassen.
Das klappt ja super, dachte er genervt, doch sofort hellte sich seine Stimmung wieder auf, als er erkannte, wer diese Schwester Julia war, die sich um ihn kümmern sollte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie lange hatte er sie jetzt schon nicht mehr gesehen? Zwei Jahre? Mehr?
"Sven?", fragte Julia überrascht. "Du bist es wirklich?" Schnell kam sie auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. "Ich dachte zuerst, es wäre eine Namensgleichheit, als ich Sven Meier auf dem Anmeldebogen gelesen habe. Ich meine …", stirnrunzelnd schaute sie ihn an, "… das mit deinem Finger hat dich doch nie gestört und außerdem: Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du inzwischen die Kohle hast, dir so einen Promi-Doc zu leisten!"
"Nicht wirklich", sagte Sven. Ihm war klar, dass sie ihn, was das Berufliche anging, für einen Versager hielt, bei den ganzen Jobs, die er schon angefangen und wieder hingeschmissen hatte, aber dass sie es so abwegig fand, dass er inzwischen reich geworden war, kränkte ihn doch etwas.
"Dieser Eingriff wird finanziert", sagte er reserviert.
"Okay", sagte sie langsam und runzelte die Stirn. "Aber eigentlich ist es auch egal, wer die Behandlung bezahlt, jedenfalls steht eines fest: Du wirst sie nicht machen!" Sie schaute ihn eindringlich an. "Ich schalte die Maschine jetzt aus und sag dem Doc, du hättest es dir anders überlegt, Okay?"
"Auf keinen Fall!", erwiderte Sven so aufgebracht, wie es ihm noch möglich war, denn er merkte, dass die Narkose langsam wirkte.
"Sven, hör mir zu!" Sie nahm seine Hand und er sah, dass sie sich wirklich Sorgen machte. "Du weißt so gut wie ich, dass die Brentheim-Methode sehr umstritten ist. Es gibt keine wissenschaftlichen Studien, keine Erkenntnisse über Langzeitschäden - niemand weiß schließlich, wie er es überhaupt anstellt. Sven, ich finde es unverantwortlich, sich von ihm behandeln zu lassen!"
"Das sagst du, die du hier arbeitest?"
"Mein Gott, wenn diese nach Geld stinkenden Botox-Junkies so ein Risiko eingehen, um irgendein kleines Zipperlein wegzubekommen, ist mir das inzwischen egal - ich brauche schließlich diesen Job - aber ich kann nicht zulassen, dass du dein Leben aufs Spiel setzt, damit du deinen kleinen Finger wieder bewegen kannst. Sven, du hast Familie!"
"Das hat dich früher auch nicht gestört", sagte er und bereute es sofort wieder.
"Das ist unfair", erwiderte sie gekränkt. "Du weißt, dass genau das der Grund war, warum ich unsere Affäre beendet habe. Ich wollte nicht mehr zwischen dir und ihnen stehen. Ich hätte es mir nie verziehen, eine Familie zu zerstören; deinen Kindern ihren Vater zu nehmen." "Julia ...", setzte er an, aber sie fuhr unbeirrt fort: "Ich habe akzeptiert, dass ich dich nicht haben kann, aber trotzdem liebe ich dich noch, du Hornochse.“ Sie streichelte ihm sanft über die Wange. "Und deswegen kann ich einfach nicht zulassen, dass du wegen deines kleinen Fingers dein Leben riskierst!"
"Aber", sagte Sven nachdrücklich. "Du verstehst nicht, worum es geht. Wenn du mich wirklich noch liebst, dann lass mich diese Behandlung machen. Das ist die Chance meines Lebens!"
"Die Chance deines Lebens? Dass ich nicht lache! Willst du in deinem Alter noch Pianist werden, oder was?"
"Bitte", Sven kämpfte gegen den Schlaf, "bitte hilf mir. Der Finger ist mir doch egal, aber ich brauche die Kohle!"
"Welche Kohle?"
"Ich mache das für die Wild-Zeitung. Die haben mich für diese Story engagiert. Ich bin alle meine Schulden los, wenn ich rausfinde, was hinter der geheimnisvollen Heilungsmethode steht."
"Du hast sie doch nicht mehr alle!", fuhr Julia ihn an. "Hast du dich mal gefragt, warum das keiner der anderen Reporter macht? Die Wild hat doch selbst in riesigen Lettern gefragt, warum jetzt schon der zweite seiner Patienten gestorben ist. In beiden Fällen unerklärliche innere Blutungen. Beides mal ungefähr sechs Monate nach der Behandlung."
"Dann liefere du mir die Story", sagte Sven und kämpfte damit, die Augen aufzubehalten. "Sag du mir, was der Doc macht. Dann breche ich die Sache sofort ab."
"Ich weiß es aber doch selbst nicht!", sagte Julia verzweifelt. "Er macht das alles allein. Es ist immer nur eine Schwester in der Praxis und die darf nicht dabei sein. Ich schwöre dir: Ich habe keine Ahnung, wie er es anstellt. Ich gebe den Patienten eine Spritze vor der Behandlung und hole sie danach nochmal ab."
"Wenn du mir nicht hilfst, dann muss ich es eben selbst herausfinden“, sagte Sven schläfrig. „Bitte mach mir das nicht kaputt“, und schon fielen ihm die Augen zu. "Schwester Julia, bitte ins Arztzimmer", hörte er noch Dr. Brentheims lautsprecherverzerrte Stimme. Dann verließ jemand festen Schrittes den Raum.
Svens Augenlider drückten schwer. Es war kalt. Er schlug die Augen auf und erkannte, dass er auf einer Liege in einem weiß getünchten Behandlungszimmer lag. Wo war er? Das Portrait eines grauhaarigen Mannes mit durchdringendem Blick hing an der Wand: Dr. Brentheim. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Er musste an Julias Warnung denken und es fröstelte ihn noch etwas mehr. Sofort schaute er sich seinen kleine Finger an, aber nein, er war noch nicht operiert. Er war noch genauso unbeweglich und unförmig wie zuvor. Dann hatte er ja zumindest noch nicht die Behandlung verschlafen - ein Glück.
Die Tür ging auf und Julia kam mit besorgtem Blick herein. In der Hand trug sie ein kleines Tablett mit einer Spritze. "Sven“, sagte sie schließlich, nachdem sie ihm wortlos den Blutdruck gemessen hatte, „bisher bist du erst untersucht worden. Ich soll dir jetzt diese Injektion geben, damit du wieder einschläfst und dann den Raum verlassen. Dr. Bentheim wird dann die Behandlung vornehmen und wir werden uns erst in einer Stunde im Aufwachraum wiedersehen. Sie blickte ihn flehend an. "Sven, ich will dir das nicht geben. Ich habe keine Ahnung, was es mit der Behandlung auf sich hat. Ich weiß noch nicht einmal, was hier drin ist." Sie zeigte ihm die trübe Flüssigkeit. "Sven, ich flehe dich an: sag ihm, dass du es dir anders überlegt hast. Sag ihm es tut dir leid, du bezahlst, aber er soll dich nicht behandeln. Bitte!"
"Julia“, sagte Sven eindringlich. „Wenn ich das hier auch noch versaue, dann werde ich meine Schulden nie mehr los. Ich mach dir einen Vorschlag: Du sagst dem Doc, mir ginge es noch nicht so gut, deswegen wolltest du noch etwas warten, bevor du mir die Spritze gibst. In der Zeit schaue ich mir seine Unterlagen an. Wenn ich was finde, bin ich weg."
"Wie stellst du dir das vor?“, fragte sie. „Die Tür zu seinem Büro ist mit Zutrittskarte gesichert."
"Dann gib mir doch mal deine."
"Damit kommst du da nicht rein", sagte Julia genervt.
"Sicher?", fragte Sven und grinste. „Einen Versuch ist es ja wohl wert, oder?“ Julia schaute ihn skeptisch an aber schließlich gab sie ihm ihre Karte. Er schlich sich über den Flur und Julia folgte ihm, unsichere Blicke nach rechts und links werfend. Mit einer geschickten Bewegung schob Sven das Plastik zwischen Tür und Rahmen und schon hörte man ein leise Knacken und die Tür schwang auf.
"Was nützt schon die beste Elektronik, wenn das Schloss scheiße ist", flüsterte er und grinste. "Es hat schon gewisse Vorteile, wenn man Erfahrung in einem relativ breiten Berufsspektrum gesammelt hat."
"Hör auf, Sprüche zu klopfen und beeil dich gefälligst", flüsterte Julia zurück.
Das musste man ihm nicht zweimal sagen. Mit einem präparierten USB-Stick verschaffte er sich Zutritt zu dem Laptop, der auf dem Schreibtisch stand und durchsuchte die Festplatte.
"Ich dachte, du schaust dir die Behandlungsunterlagen auf dem Praxis-PC an", sagte Julia.
"Hast du Zugriff darauf?", fragte Sven.
"Ja, sicher.“
"Dann wird er wohl kaum etwas Verfängliches darin abspeichern. Meine einzige Chance sind seine privaten Daten. Wenn ich hier nichts finde, dann schaue ich mir die anderen Praxisräume an. Wo ist er eigentlich gerade?"
"Gute Frage. Normalerweise wäre er jetzt schon bei dir, nachdem ich dir die Spritze gegeben habe. Oh Mist“, sagte sie plötzlich. „Ich hab ihm ja noch gar nicht gesagt, dass er dich erst später behandeln soll. Ich gehe schnell zu ihm. Hoffentlich hat er noch nichts gemerkt."
"Ja", sagte Sven abwesend. "Moment, warte", rief er plötzlich. "Professor Boris Rubisch, sagt dir das was?"
"Nein, wieso?"
"Hier ist ein aktiver Email-Account. Dein Chef scheint unter diesem Namen aufzutreten."
"Moment", sagte Julia und sprach den Namen in ihr iPhone. Zwei Sekunden später dozierte Siri: "Professor Dr. Boris Rubisch ist Arzt und Physiker. Bekannt wurde er, durch das erste erfolgreiche Ferntransferieren von Lebewesen; umgangssprachlich auch Beamen genannt." Sven und Julia schauten sich fragend an und Siri fuhr fort: "Der Physiker transportierte Mäuse zwischen zwei Gebäuden der Moskauer Universität. Anfängliche Zweifel an der Echtheit der Ergebnisse konnten von unabhängiger Seite ausgeräumt werden. Die empfangenen Exemplare hatten nachweislich den identischen Gencode und konnten auch kurz zuvor Gelerntes, wieder reproduzieren. Das Projekt wurde jedoch eingestellt, da alle Tiere nach wenigen Wochen an inneren Blutungen verstarben. Der Wissenschaftler hat die von ihm angewandte Methode nie veröffentlicht und ist seit dem Einstellen des Programms nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten."
"Beamen?", fragte Sven verständnislos und Julia zuckte mit den Schultern, als plötzlich ein Gerät in ihrer Kitteltasche vibrierte. "Das ist eigentlich der Patientenruf", sagte sie verwundert, „aber das kann ja jetzt nur der Doc sein. Du bist schließlich hier."
"Okay", sagte Sven schnell, "ich habe eh genug, für meine Story. Sag ihm, ich hätte es mir anders überlegt und ich hau ab.“
"Alles klar“, sagte Julia erleichtert und wollte schon gehen, als Sven sie am Arm festhielt. "Und danke noch mal. Du hast mir wirklich sehr geholfen. "Gern geschehen“, sagte sie schnell, aber Sven ließ sie noch nicht los. "Und, nimm das besser mit." Er hielt ihr das Tablett mit der Narkosespritze hin. "Falls er doch misstrauisch geworden ist. Damit kannst du ihn notfalls eine Zeit lang außer Gefecht setzen." Julia dachte kurz nach, nahm dann die Spritze und schlüpfte durch die Tür.
Svens Augenlider drückten schwer. Es war kalt. Er schlug die Augen auf und erkannte, dass er allein auf einer Liege in einem hellgrau getünchten Behandlungszimmer lag. Wo war er? Er dachte nach und dann fiel ihm plötzlich alles wieder ein: Dr. Brentheim. Er musste an Julias Warnung denken und es fröstelte ihn noch etwas mehr. Sofort schaute er sich seinen kleine Finger an und ja, er war schon operiert! Er war genauso beweglich und vollkommen normal geformt wie der kleiner Finger an seiner linken Hand. So ein Mist! Er hatte die Behandlung tatsächlich verschlafen. Jetzt musste er versuchen, irgendwie anders an Informationen heranzukommen. Schnell betätigte er den Patientenruf, stand auf und und machte sich daran, dass Schloss zum Nebenraum näher zu untersuchen.
"Wie bist du denn so schnell hierhin gekommen?", fragte Julia, als sie plötzlich hinter ihm stand.
"Was?", fragte Sven zurück, ohne sich zu ihr umzudrehen. "Ich hab jetzt keine Zeit für Konversation. Gib mir lieber deine Zutrittskarte."
"Die hast du mir eben nicht zurückgegeben. Außerdem dachte ich, du hättest schon genug Informationen gesammelt."
"Gib mir einfach irgendwas", beharrte Sven genervt. Julia legte das Tablett mit der Spritze ab und gab ihm ihre Kreditkarte. Zwei Sekunden später war die Tür offen.
"Es hat schon gewisse Vorteile, wenn man Erfahrung in einem relativ breiten Berufsspektrum gesammelt hat", sagte Julia und grinste, aber Sven schaute sie nur verwirrt an, bevor er in den dahinterliegenden Raum schlüpfte und das Licht anschaltete. "Ist dein Chef auch Pathologe?", fragte er von innen.
"Was?", fragte Julia verwundert und folgte ihm. "Das kann nicht sein!", entfuhr es ihr, als sie sah, was sich in dem Raum befand. Sven war gerade dabei die Gesichter der Leichen aufzudecken und Julia starrte geschockt von einer zu anderen. "Wer ist das?", fragte er.
"Ist das dein Ernst?", erwiderte sie. "Ich dachte, du wärest jetzt so eine Art Klatschreporter. Das sind die Patienten der letzten vier Tage. Alles stinkreiche Promis."
"Echt?", fragte Sven. "Dann sind ihm in den letzten Tagen alle Patienten weggestorben?"
"Nein", sagte Julia. "Ich habe sie alle geheilt entlassen. Außerdem sind die hier ...“, sie zögerte, „… noch unbehandelt.“
"Wie meinst du das?“
"Hier zum Beispiel. Siehst du die Warze am Hals von Fr. Neuschlang, der Opensängerin? Ich schwöre, dass sie ohne diesen Makel die Praxis verlassen hat. Und wenn ich es so recht bedenke, habe ich sie gestern Abend auch noch so in einer Livesendung gesehen. Sie hat damit geprahlt, dass sie sich trotz der Gerüchte vom Wunderdoc hat behandeln lassen. Sven", sie nahm ihn bei beiden Händen, „erst das mit dem Beamen und jetzt das hier. Ich hab Angst. Lass uns abhauen. Sofort!" Doch bevor er etwas erwidern konnte, stockte sie und schaute sich seine rechte Hand genauer an, die sie immer noch festhielt. „Dein kleiner Finger ist ja wieder ganz normal“, sagte sie verwundert.
„Ja“, sagte Sven. „Dein Chef hat ihn offensichtlich schon geheilt. Komm, lass uns jetzt gehen“, drängte er, aber sie blieb stehen.
„Aber wann denn?“, fragte sie. „Als du nach der Untersuchung aufgewacht bist, war er doch noch wie vorher, und seitdem warst du die ganze Zeit bei mir.“
„Julia“, sagte Sven nachdrücklich. „Ich hab keine Ahnung, was du meinst, aber hier liegen Menschen, die dein Chef offensichtlich auf dem Gewissen hat. Wir müssen jetzt weg!“
"Schön langsam", sagte da eine vertraute Stimme. "Lassen Sie mich das alles erst in Ruhe erklären." Dr. Brentheim stand in der Tür und er machte nicht den Eindruck, als wolle er die beiden vorbeilassen. „Sie verstehen da was falsch“, sagte er und man merkte, dass er sich zwang, einen gelassenen Eindruck zu machen. „Das sind nur lebensechte Wachsfiguren meiner Patienten.“
„Ich kann eine Wachsfigur von einer Leiche unterscheiden“, sagte Julia scharf. Sven ging langsam auf den Arzt zu, bereit die Kampftechniken aus seiner Zeit als Türsteher anzuwenden.
„Haben Sie die gebeamt?“, rief sie jetzt. „Herr Professor Rubisch?“ Der Arzt erstarrte. Sofort nutzte Sven seine Chance und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Der Arzt holte zum Gegenschlag aus, Julia schrie auf, aber Sven war schneller. Er wich aus und hatte ihm im Handumdrehen den Arm auf den Rücken gedreht. „Sie machen einen großen Fehler“, stöhnte der Professor, mit dem Gesicht an die Wand gedrückt.
„Mach Fotos von den Leichen“, sagte Sven ohne Julia anzuschauen. Er war voll und ganz damit beschäftigt, den deutlich kräftigeren Arzt mit dem Polizeigriff in Schach zu halten. „Und dann ruf die Polizei!“ Als er keine Antwort bekam, blickte er sie an und erkannte, dass sie wie gebannt auf die Tür starrte. Jetzt wandte auch Sven den Kopf und es muss in diesem Moment gewesen sein, in dem Moment, als er schließlich verstand, was er da sah, als er seinen Griff unbewusst etwas lockerte und er Professor Rubisch so die Gelegenheit gab, ihm auf den Fuß zu stampfen, sich loszumachen, die Spritze zu greifen und sie ihm wie ein Messer an den Hals zu halten. „Eine falsche Bewegung, und du bist tot!“, zischte der Mediziner.
„Julia, was geht hier vor?“, fragte die Person an der Tür verwirrt und kam langsam näher.
„Das solltest du mir lieber erklären“, sagte Julia zögerlich und blickte zwischen Sven, der von dem Arzt in Schach gehalten wurde und der Person in der Tür hin und her. Sie waren äußerlich identisch. „Du hast mir nie von einem Zwillingsbruder erzählt“, sagte sie. „Zieht ihr hier so eine Doppeltes-Lottchen-Nummer ab?“ Da fiel ihr auf, dass der Mann in der Tür noch den verkrüppelten Finger hatte. Der Sven, der vom Arzt in Schach gehalten wurde, sagte eindringlich: „Ich weiß zwar nicht, was der Unsinn soll, Julia, aber sag mir jetzt bitte, was ist in der Spritze drin ist, die dein Chef mir gerade an den Hals hält!“
„Ich habe dir doch eben schon gesagt, dass ich es selbst nicht weiß“, sagte Julia. „Irgendein Narkosemittel. „Das glauben Sie!“, rief der Arzt. Julia stutzte und plötzlich ging sie ein paar Schritte zurück. „Oh, mein Gott, jetzt wird mir alles klar“, sagte sie kreidebleich. „Sie haben die Mäuse damals gar nicht gebeamt. Man kann keine Lebewesen in einem Energiestrahl transportieren und dann an einem anderen Ort wieder zusammensetzen. Wie soll das auch gehen?“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte der Mediziner bestimmt. „Ich weiß auch nicht, wer dieser Professor Rubisch sein soll, den Sie eben erwähnt haben. Ich will einfach nur, dass Sie sich jetzt alle beruhigen und mir zuhören. Dann nehme ich auch die Spritze weg.“
„Ich glaube Ihnen kein Wort mehr.“ Julia schüttelte heftig den Kopf und ging noch ein paar Schritte rückwärts. Sie haben mal etwas von Drucken gesagt im Bezug auf einen Patienten und dann haben Sie sich schnell wieder berichtigt. Sie haben die Mäuse damals dreidimensional eingescannt und dann in einem anderen Raum mit so einem 3D-Drucker genauso wieder ausgedruckt, inklusive ihres Gedächtnisses. Sie ...“, Julia schrie jetzt fast, „Sie haben sie lebendig kopiert und dann die Originale getötet, damit es keinem auffällt. Aber die Kopien waren so schlecht, dass sie auch bald wieder gestorben sind.“
Der Arzt schaute sie nur ausdruckslos an. „Herr Meier“, sagte er dann zu dem Mann in der Tür. „Bitte lassen Sie mich alles erklären. Schwester Julia kann nicht wissen, dass sich Ihr Zwillingsbruder bereits heute Morgen zu mir in Behandlung begeben hat. Dieses Missverständnis hat jetzt einen psychotischen Schub bei ihr ausgelöst. Sie muss dringend in kompetente Behandlung begeben! Bitte helfen Sie mir, sie zu beruhigen!“
„Sie lügen!“, schrie Julia. „Sie wollen uns doch nur töten und dann wieder neu ausdrucken; ohne diese Erinnerungen hier!“
„Ich weiß nicht, was hier gespielt wird“, sagte Sven und versuchte dabei möglichst ruhig zu atmen, um kein Risiko mit der Spritze an seinem Hals einzugehen, „und was dieser Unsinn mit Beamen und Mäusen soll, aber eines steht jedenfalls fest: Ich bin nicht der Zwillingsbruder von Sven Meier. Ich bin selbst Sven Meier und ich bin heute morgen in diese Praxis gekommen, um mich behandeln zu lassen und das offensichtlich erfolgreich.“ Er hob vorsichtig die rechte Hand, ohne den Kopf zu bewegen und streckte einen gesunden kleinen Finger in die Luft. Der Mann in der Tür schaute ihn nur misstrauisch an. Seine reche Hand hielt er hinter dem Rücken verborgen.
„Sven, es tut mir so leid“, sagte Julia ängstlich und blickte zwischen den beiden, identisch aussehenden Männern hin und her. „Aber es gibt nur eine Erklärung: Er ist das Original und ich hätte ihn“, sie deutete auf den Sven in der Tür, der sie prüfend anblickte, „vorhin mit der Spritze töten sollen. Die Kopie mit dem geheilten Finger hätte ich dann nach Hause entlassen.“ Den Blick, den sie dem identisch aussehenden Mann jetzt zuwarf, war unsicher und verstört.
„Sie haben mich eingescannt“, sagte da Sven von der Tür her langsam zu dem Arzt, „dann am Computer im 3D Modell geheilt und anschließend neu ausgedruckt.“
„Stehen bleiben!“, sagte Dr. Rubisch.
Julia starrte ihn nur hasserfüllt an. „Sie haben Frau Neuschlang getötet, weil sie eine Warze am Hals hatte. Sie hat Ihnen vertraut!“
„Nein!“, rief der Arzt. „Nicht ich habe sie getötet. Sie waren es. Sie haben ihr nach dem Einscannen die Todesspritze gegeben. Ich habe ihr dann ein neues Leben geschenkt. In einem neuen Körper, ohne diesen Makel!“
„Sie haben eine schlechte Kopie von ihr gemacht“, erwiderte sie. „Eine löchrige Blaupause, die in einem halben Jahr auch sterben wird. Wegen einer Warze!“
Sven atmete schwer. Er spürte die Spitze der Nadel am Hals. Was hatte das alles zu bedeuten? Er sollte eine schlechte Kopie sein? Er hatte sich doch vorhin auf die Liege gelegt - vor der Untersuchung. Er konnte sich an sein ganzes Leben erinnern. Hoffentlich hatten sie ihm vorhin nur irgendwelche schlechten Drogen in den Tropf gemacht und das hier war alles nur eine Halluzination. Jedenfalls fühlte sich im Augenblick alles gerade verdammt echt an.
„Professor Rubisch, Ihnen wird nichts geschehen“, sagte da Sven und ging langsam weiter auf den Arzt zu. „Es sind viele schlimme Dinge passiert, aber Sie können nichts dafür. Sie haben sich das alles nicht ausgedacht, also haben Sie auch nichts zu befürchten.“ Julia schaute ihn verwirrt an, aber er fuhr fort. „Sie müssen nicht ins Gefängnis. Setzen Sie sich einfach zur Ruhe und lassen Sie den für diese Taten büßen, der daran Schuld ist.“ Atemlose Stille. Der Arzt fixierte ihn. „Ihr Original!“, schloss Sven.
„Ich bin keine Kopie!“, schrie der Arzt sofort, ohne die Position der Spritze zu verändern, doch der Sven, der vor ihm stand ließ nicht locker und kam immer näher. „Ich habe Ihr Bild an der Wand des Patientenzimmers gesehen. Sie haben dort mehrere Muttermale auf der linken Wange. Oder soll ich besser sagen, Ihr Original hat sie? Er hat es sich leicht gemacht; hat sich einfach selbst kopiert und dann seine Kopie die Drecksarbeit machen lassen. Und anscheinend ist er auch noch eitel genug, nebenbei noch ein paar Schönheitsfehler an sich selbst auszubügeln.“
„Seien Sie still!“, rief der Professor.
„Du hast recht“, sagte Julia plötzlich. „Er hatte in letzter Zeit häufig Nasenbluten und die kopierten Mäuse und die verstorbenen Patienten hatten auch alle mit inneren Blutungen zu tun!“
„Gestehen Sie es sich ein“, sagte Sven beschwörend zu dem Mediziner. „Das ist keine Schande. Es ist sogar ein Vorteil.“
„Wie meinen Sie das“, fragte der Arzt misstrauisch.
„Nun, Sie spazieren einfach hier raus. Haben das Gesicht, haben die Fingerabdrücke, können die Unterschrift ihres Originals. Sie plündern einfach sein Bankkonto und setzen sich ab in die Karibik. Machen Sie es sich schön, in der Zeit die Ihnen noch bleibt. Sobald Sie weg sind, gehen wir zur Polizei und Ihr Original geht schön in den Knast, für das, was er sich ausgedacht hat. Für das, was er Ihnen angetan hat. Was halten Sie davon?“
Der Arzt zögerte. Schließlich sagte er: „Okay, aber ich will vierundzwanzig Stunden und keine Tricks!“
„Wie Sie möchten“, sagte Sven.
„Und Sie kommen mit als Geisel!“, ergänzte der Arzt.
„Nein!“, rief Julia entsetzt, doch der Orginal-Sven sagte nur: „Einverstanden“ und nahm Julias Hand. „Er wird mir schon nichts tun. Das Wichtigste ist, dass dir nichts passiert und ...“, er zögerte und blickte seine Kopie, die immer noch die Spritze am Hals hatte, an und lächelte ihm zu, „meinem Bruder. Er kann nichts dafür. Schließlich habe ich ihm das hier eingebrockt.“
Sobald er in seiner Reichweite war, griff der Arzt den Orginal-Sven, drückte ihm die Spritze gegen die Halsschlagader und führte ihn langsam hinaus.
„Julia, ich bin es“, sagte Sven vorsichtig, als die beiden verschwunden waren. Julia hielt immer noch Abstand von ihm, so als hätte er eine ansteckende Krankheit.
„Tut mir leid“, sagte sie, „ich bin ein bisschen durcheinander. Ich meine, du bist ...“
„Ich weiß nicht, was ich bin. Angeblich eine Kopie. Frisch ausgedruckt, aber ich merke nichts davon. Angeblich habe ich jetzt einen Bruder.“ Er nahm ihre Hand. „Und angeblich sterbe ich in ein paar Monaten. Aber jetzt bin ich hier und ich empfinde immer noch genauso viel für dich, wie vor der Behandlung.“
Er kam ihr näher, und sie ließ sich zögerlich darauf ein. Dann küsste er sie leidenschaftlich. Erst gab sie nach, dann machte sie sich erschrocken los. „Sven! Du weißt doch. Deine Frau und deine Kinder.“
„Julia, ich bin sehr durcheinander und es tut mir in der Seele weh, aber ich glaube ich habe keine Frau und keine Kinder mehr. Wenn das alles stimmt, was hier angeblich passiert ist, dann ist es seine Familie und dann will ich nicht zwischen ihnen stehen.“ Er lächelte gequält. Sie sah ihn fragend an. Dann verstand sie und jetzt war es sie, die ihn küsste.
„Hey“, sagte sie plötzlich. „Du hast sein Gesicht, seine Fingerabdrücke und du kannst seine Unterschrift. Schnell, lass uns das Konto deines Originals plündern und dann ab in die Karibik!“
Sven lachte. „Gute Idee“, sagte er, „nur leider kenne ich meinen Kontostand, ähm, ich meine den meines Originals und da ist nix drin mit Karibik.“
„Schade“, sagte sie und nahm ihn ganz fest in den Arm. „Aber wir haben ja uns.“