Der Wolf
Plötzlich stand er da. Kurz hinter dem Hochsitz, als der Wanderweg einen Schwenk nach links machte.
Der Wolf.
Schaute uns an, ohne die geringste Bewegung zu zeigen. Nur der Bachlauf und läppische achtzig Meter trennten uns von ihm. Noch!
Dabei war die Drei-Täler-Wanderung bislang so heiter und angenehm verlaufen. Wir hatten, wie immer am Anfang, viel Zeit mit Fotografieren vertrödelt. Danach kommt normalerweise eine etwas ruhigere Phase. Aber Norbert war heute sehr gesprächig und machte immer wieder ein neues Thema auf. Wir merkten kaum, dass wir nur noch drei, vier Kilometer bis zum Zielpunkt vor uns hatten. Und dann hier, an der wildesten und einsamsten Stelle der ganzen Wanderung, der Wolf.
Norbert flüsterte nur: „Ruhig bleiben, Jungs!“. Nicht, dass das wirklich notwendig gewesen wäre. Uwe und ich hielten schon von selbst den Atem an.
Der Wolf machte zwei, drei zögernde Schritte in unsere Richtung. Dann blieb er wieder so bewegungslos wie zuvor stehen. Starrte uns an. Wir rückten unwillkürlich enger zusammen. Vor einer halben Stunde hatten wir genau das Thema. Uwe behauptete, dass der Wolf jetzt auch die Eifel erreicht hätte. Irgendeiner hätte einen gesehen. Außerdem seien zwei, drei Schafe gerissen worden.
Der Wolf bewegte sich wieder. Diesmal die zwei, drei Schritte von eben wieder zurück. Wir machten es ihm nach, in Zeitlupe. Ich spürte zwar den starken Impuls, nach hinten wegzurennen. Aber Norbert flüsterte erneut: „Ruhig bleiben, Jungs!“ Dabei ging mir die Muffe hoch drei. Und ausgerechnet ich hatte unterwegs noch behauptet, wir sollten uns alle freuen, dass der Wolf wieder heimisch wird. Es gäbe schon genug Verdrängung von Wildtieren. Man beachte nur das Bienensterben. Uwe meinte dazu: „Klar, nur dass Bienen keine Kleinkinder fressen!“. Ich konterte: „Wieviel Kleinkinder laufen denn heutzutage alleine durch den Wald? Genau, keine!“
Der Wolf blieb bewegungslos und starrte uns an.
„Ausgerechnet heute haben wir unsere Wanderstöcke nicht dabei. Typisch!“, meinte Uwe. Dabei hatte er eben noch erzählt, dass man gegen einen angreifenden Wolf keine Chance hätte. Auch nicht mit Wanderstöcken. Wölfe hätten fünfmal mehr Kräfte als ein ausgewachsener Mann.
Der Wolf wartete. Worauf wartete er? Vermutlich auf eine falsche Bewegung von uns. „Ruhig bleiben, Jungs!“, flüsterte Norbert.
Wir gingen jetzt rückwärts, in ganz kleinen vorsichtigen Schritten. Der Abstand stieg auf vielleicht 85 Meter.
Dann, wie aus heiterem Himmel, ein knarrendes Geräusch, kurz hinter uns. Aber noch ehe wir uns umschauen konnten, erstarrten wir erstmal zu Salzsäulen. Denn durch den Wolf ging plötzlich ein Ruck. Er kam in rasendem Tempo auf uns zugestürzt. Unsere Formation löste sich ins Nichts auf. Norbert zog nach links in die Böschung weg, Uwe verschwand in Richtung Bach, und nur ich blieb weiterhin auf dem Weg, Bewegungsunfähig ergab ich mich meinem Schicksal. Wahrscheinlich habe ich um Hilfe geschrieen, vielleicht waren es aber auch die heiseren und ängstlichen Töne der beiden anderen .
Natürlich hielt der Wolf auf mich zu. Mein Herz raste, und endlich versuchte ich, wegzulaufen. Aber der Wolf war schneller - und fegte an mir vorbei. Wahrscheinlich würde es doch zuerst Uwe oder Norbert treffen.
Der alte Jäger kletterte in aller Ruhe vom Hochsitz hinter uns herab: „Brutus, komm zum Herrchen.“
Und zu uns: „Keine Sorge, der sieht nur gefährlich aus. Tut aber keinem was!“
Norbert, aus dem Gebüsch kletternd, fing sich als erster. Er fragte den Jäger: „Weiß der Brutus das auch?“
Uwe stand da mit seinen nassen Füßen und kraulte sogar das Vieh, das jetzt an der Leine war. „Na Brutus, bist ein Guter. Bist ein Lieber. Ei, ei, ei.“
Ich war immer noch fix und fertig. Ich fragte keuchend den Alten: „Und? Haben sie auch schon den Wolf in ihrem Revier?“