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Der Wirklichkeit so nah

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24.09.2000
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Der Wirklichkeit so nah

Der Wirklichkeit so nah

Hör mir zu! Schließ die Augen und hör mir zu!
Es ist dunkel um dich herum, finster und kalt. Siehst du das Licht vor dir? Etwa nicht? Nein, du bist nicht blind. Du siehst gut, nur gibt es da kein Licht. Und die Schatten hinter dir kommen näher, immer, immer näher. Näher. Näher. Näher.

„Ich hab sie gefickt! Verdammt noch ´mal, ich hab diese Nutte gefickt, da brauch ich keinen fragen.“ Kurze Pause. „Nicht ´mal sie.“
Die Sonne verschwand langsam hinter den Hügeln von Ascherbrunn. Es war jener Moment, in dem man glaubte, die Wärme des Tages löste sich in Luft auf, um der Kälte ihren wohlverdienten Platz auf dem Schreckensthron der Welt gewähren.
„Jetzt hör aber auf! Du hast immer so einen komischen Gesichtsausdruck, da glaubt man, du hast dir deinen Pimmel im Hosenschlitz eingeklemmt und bekommst ihn nicht mehr heraus.“ Pause um zu grinsen. „Hör zu! Wenn du jetzt Depressionen bekommst, oder so was, dann schicken wir dich wieder nach Hause, hast du gehört?! Denn ein Soldaten mit Depressionen ist gefährlicher als ein Araber mit einer Bombe im Arsch. Kapiert?!“ Pause um die Unterwürfigkeit des Gegenübers mit allen Poren der Haut aufzunehmen. „Eben. Wir sind hier im Grenzdienst. Soldaten, die das Land vor illegalen Einwanderern verteidigen. Du hast eine Waffe, Rekrut. Sei stolz, dass du jetzt keiner von diesen Uni-Schwuchteln mehr bist. Jetzt bist du ein Mann. Verstanden!?“

Die Sonne scheint warm. Felder ziehen vor deinen Augen, als fuhrst du in einem Zug an ihnen vorbei. Es sind Spinatfelder und Spinat grünt überall. Vögel stürzen aus der Höhe hinab um etwas zu jagen, Insekten vielleicht. Welch Idylle... Aber was war das? War da nicht für kurze Zeit ein Rotstich im Grün der Felder? Nur ganz kurz. Die Felder ziehen nicht mehr an deinen Augen vorbei, sie bleiben stehen. Da schon wieder! Ein Rotstich inmitten des Grüns. Und war da nicht noch etwas? Etwas Grauenvolles?
Schau dir die Felder an. Ein Meer aus Spinat. Bist du nicht als Kind damit gequält worden? Natürlich bist du das! Und du bist nachdem schon alle aufgestanden waren, noch stundenlang am Tisch gesessen, weil dein Vater dir verboten hatte, aufzustehen, bevor du nicht zusammen gegessen hattest. Armes Baby! Derweil sieht der Spinat am Felde so schön ruhig aus.
Der Rotstich schon wieder! Und diesmal war er nicht allein. Blut und Verderben über dich! Das kann doch nicht sein, oder? Sieh dir das Feld an. Es stimmt etwas nicht damit. Siehst du es jetzt? Da bewegt sich noch etwas, was kein Spinat ist.
Du stehst Mitten im Feld, die Welt besteht aus Spinat. Spinat ist überall und wächst dir über den Kopf. Menschen sind auf langen Speeren aufgespießt und im Feld verteilt. Sie stöhnen und versuchen zu schreien. Eine Hand greift dir auf die Schulter. Dreh dich nicht um, renn weg! Vögel stürzen vom Himmel herab um die Augen der Aufgespießten herauszupicken. Renn! Renn! Renn! Schau nicht in die Gesichter der Leidenden. Sieh nicht hin! Nein! Sieh niemals hin.
Du siehst hin. Das hast du davon, jetzt weißt du wer sie sind. Sie sind du! Alle.

„Wenn du einen Kanaken gefangen hast, ist es wichtig, sofort die Waffe zu ziehen und anzusetzen, verstanden? Lass dir von den Arschlöchern keinen blasen. Wir sind hier der Herr in unserem Land. Es ist sehr wichtig, dass du das weißt!“
Es war schon etwas dunkel geworden in Ascherbrunn. Die ewigen Felder waren nur noch in Silhouetten zu erkennen. Die Vögel zwitscherten. Vor den beiden Soldaten war in der Ferne ein Wald zu sehen. Dort sollten sie sich auf die Lauer legen.
„Aber so wie du aussiehst, hat nicht einmal eine kleine Jungfrau Angst, sei mir nicht böse. Hängende Schultern, hängender Kopf, leere Augen, fetter Arsch. Nicht, dass das mir was ausmacht, aber hey! hast du denn keinen Stolz? Warum lässt du dich von den anderen immer so verarschen. Schlag doch einmal zurück! Du bist doch keine Schwuchtel, oder etwa doch? Bist du etwa ein Schwanzlutscher?“ Pause, um mit gekünstelten besorgten Gesicht den anderen zu fixieren. „Hm, na ja. Dann nimm zumindest deine Waffe hoch, so, dass man sie sehen kann. Vielleicht haben sie dann etwas Respekt vor dir. Und wenn nicht, dann bin ja ich noch da, Schwuli“

Ein Stuhl fällt um. Jemand hat ihn umgeschmissen. Der Stuhl kracht zu Boden. Der Knall hallt, als wären wir in einer Halle. Aber das kann nicht sein. Es ist ein kleines, weißes Zimmer mit einem Fenster. Sieh hinaus.
Der Stuhl knallt zu Boden. Draußen spielen Mädchen in altmodischen Gewändern und Schleifen. Sie drehen sich und drehen sich. Der Knall hallt durch die Halle. Sie sehen glücklich aus, nicht wahr? Das hübsche Mädchen lächelt dir zu. Geh doch und spiel mit ihnen. Geh doch endlich! Warum bleibst du denn immer hier, immer zu Hause. Der Stuhl fällt um. Oje, du bist ja angekettet. Und du hast Angst? Vor was denn? Der Knall hallt durch die Halle.
Maden fressen sich durch Stacy. Das ist aber schade. Sie wuseln in den Nasenlöchern, Augenhöhlen und im Gaumen, versuchen das Fleisch von den stinkenden Knochen zu fressen. Millionen von Maden. Armes Kaninchen. Warum ist es denn tot? Der Stuhl fällt um. Die Schleifen drehen sich in der Sonne. Es ist kalt und finster. Der Knall hallt durch die Halle.
Die Tür geht auf. Wo kommt denn jetzt eine Tür her? Sie geht auf und der Herr tritt ein. Ein großer, finsterer Gott mit einem Gürtel in der Hand. Oje... Bitte nicht jetzt. Aber es ist genau jetzt. Der Stuhl fällt um.
Der Herr dreht seine Köpfe mit den Tausend Ohren zu dem Stuhl. Der Knall hallt durch die Halle. Jetzt gibt es wohl kein entrinnen mehr. Der Herr spricht und sofort sterben alle Maden. Auch du würdest gerne sterben. Aber wie? Das Mädchen das dir zugelächelt hat, lacht nun. Der Herr nimmt dich von deinen Fesseln und zerrt dich hinaus. In einen großen Saal. Eine Halle.
Kaninchen fressen die toten Maden. Ein Stuhl fällt um. Das Mädchen lacht aus vollem Halse. Etwas pfeift in der Luft. Der Knall hallt in der Halle.

„Ich habe immer viele Freunde gehabt. Und auch viele Freundinnen, weißt du. Ich weiß nicht, ob du so was nachvollziehen kannst, aber die Welt ist wirklich geil. Sie besteht nicht nur aus lernen, vor dem Computer sitzen und wichsen, wie du das vielleicht denkst. Die Welt ist schön und der Tod noch meilenweit entfernt.“
Sie waren im Wald angekommen und saßen unter einer Reihe von Bäumen. Mücken kreisten um ihre Gesichter und erzeugten ein ständiges Surren nahe an ihren Ohren. Weiter entfernt konnte man einen Fluss hören. Der Himmel war beinahe ganz schwarz.
„Du musst etwas tun, weißt du! Das ist jetzt ein guter Tipp von mir, sogar gratis: Lass dich von den anderen nicht ficken, sondern mach etwas. Steh auf und kämpfe. Denk nicht, dass du ein Schwanzlutscher bist, du musst keiner sein. Vielleicht hat dir das deine Mutter eingeredet. Sie hat gesehen, dass dein Vater einer der größten Schwanzlutscher der Welt ist und dachte sich, ihr Sohn müsse auch einer werden, um die Welt voll Schwanzlutscher zu vervollständigen“ Kurze Pause um über das eben Gesagte noch einmal nachzudenken. „Ich weiß es eben nicht. Ich bin nur dein Wachtmeister und du ein beschissener Rekrut, aber du solltest dich aufraffen. Es ist nicht schön anzusehen, wie du dich gehen lässt, wie du den anderen die zweite Wange hinhältst, nachdem sie die erste vollständig demoliert haben. Das ist verrückt, verstehst du, was ich sage? Du bist verrückt.“ Pause um kurz einmal in Selbstmitleid zu versinken, aufraffen, Schutzwall aufbauen. „Mein Gott, wärst du ein Weib, dann würde ich dich verdammt noch mal ficken und dich dann in die Büsche zurückwerfen, wo du hingehörst. Aber du bist ein Mann, darum benimm dich auch wie einer.“

Du bist unter Wasser und bekommst keine Luft. Du wirbelst herum und kannst nicht mehr sagen, wo oben und unten ist. Es ist kalt und alles ist nass und es gibt kein Entkommen mehr im süßen Tot-Stellen und Nichtstun. Du musst es suchen. Du musst die Lösung suchen, auch wenn es unangenehm ist, irgendetwas zu tun. Ein Schuss. Du bekommst keine Luft und wirst bald sterben.
Tote Fische umgeben dich. Nicht einmal sie können dort überleben wo du jetzt bist. Nicht einmal sie. Du musst schneller suchen, bald ist kein Sauerstoff mehr in deinem Gehirn. Ein toter Fisch sieht dich mit großen Augen an. Ein Schuss. War da etwa irgendwo Licht?
Strampeln. Strampeln. Strampeln. Es ist ein ganz neues Gefühl zu ertrinken. Es ist besser als zu hängen, aber nicht so angenehm wie zu verbluten. Die Fische verschwinden langsam vor deinen Augen. Du musst aber wach bleiben. Gib nicht auf. Ein Schuss. Was macht dieser Schuss die ganze Zeit hier? Wie kann uns ein Schuss vor dem Ertrinken helfen?
Gib jetzt nicht auf. Es ist finster und kalt und es wird immer dunkler und kälter, aber gib dich nicht hin. Nicht jetzt. Einmal in deinem Leben mach etwas aus dir! Jetzt ist es schon viel zu spät, aber es wird auch nicht früher. Ein Schuss. Bald erstickst du. Tote Fische tanzen um dich herum. Sie sind sehr fröhlich, denn bald bekommen sie Gesellschaft. Ein Schuss. Tu endlich etwas! Du kannst uns nicht ertrinken lassen. Befrei dich von hier! Du musst es tun. Ein Schuss...

„Nicht einschlafen, gell? Wenn ich dich beim einschlafen im Dienst erwische, fährst du morgen nicht nach Hause, sondern kannst im Lager die Toiletten putzen. Schön wach bleiben, dann kannst du morgen zu deiner Mami gehen!“
Es war nun stockdunkel im Wald, nur noch Schatten waren zu erkennen. Und die Welt war voll von Schatten. Es hatte mit jener feuchten Kälte abgekühlt, die man nur von den Wäldern von Ascherbrunn kannte. Es roch nach Fisch.
„Herr Gott, was ist denn los? Du röchelst ja, als würdest du gerade ertrinken? Halt nun ja die Fresse! Mir fehlt noch ein illegaler Grenzgänger, dann habe ich den Kompanierekord gebrochen. Wenn du mir das versaust, dann gnade dir Gott!“ Pause um den Kopf zu schütteln und mit dem Zeigefinger zu drohen. „Oder willst du es mir etwa versauen, du Schwuchtel? Hör auf zu röcheln! Ich denke du bist wirklich so ein Versager, wie es die anderen sagen.“ Pause um zu...
„Nein, bin ich nicht!“
„Hey, du kannst ja sprechen.“ Pause um sich von der unerwarteten Abwehr des anderen zu erholen und zum Gegenangriff anzusetzen. „Unsere fette Schwuchtel kann ja sprechen. Warum hat sie das denn sonst nicht getan. War sie etwa zu schwuchtelig? Wehr dich doch, wenn du dich traust! Wehr dich. Einmal im Leben mach etwas aus dir! Komm doch! Tu endlich was.“ Pause um vor dem anderen spöttisch auf und ab zu tanzen. „Befrei dich doch von hier. Du schwanzlutschende Schwuchtel. Komm doch. Du musst es tun!“ Pause um den sich bewegenden Schatten als Gewehr zu identifizieren. „Was...!“ Ein Schuss.

Ende

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da verweben sich ja Albtraumbilder und Albtraum zu einer der Wirklichkeit nahen Symbiose, lieber Peter Hrubi.
Der Text ist sperrig, und er bedient sich natürlich auch einiger typischer Militärklischees.
Das Bild des hirnlosen aber um so schwanzreicheren Machogrenzers, der jeden für eine Schwuchtel hält, der nicht in seiner Weltsicht denkt ist sicher nicht neu, aber du hast es gut beschrieben, und gut umgesetzt in die surealen Albträume dessen, der sich mit seiner Nachdenklichkeit falsch in dieser Welt fühlt.
Das schlimme daran ist, dass beide recht haben, der kraftfixierte fleichgewordende Albtraum, der zum Kämpfen auffordert, wie auch der grüblerische schon durch dies Aufforderung Überforderte.
Mir gefällt diese Geschichte gut, auch wenn ich nicht sicher bin, sie in allen deinen Gedankensprüngen erfasst zu haben. Aber ich konnte eigene Assoziationen dazu entwickeln, konnte mich in die Atmosphäre einfühlen, die du kraftvoll beschreibst.
Das finde ich in einer Geschichte schon viel.

Lieben Gruß, sim

 

Hey Sim!

Danke fürs Lesen und für die Kritik. Ich bediene mich dem "Klischee" des Wachtmeisters mit Testosteronvergiftung (den gibt es aber wirklich!), aber ich hielt es nicht für wichtig, darüber zu philosophieren ob der der Typ auch andere Seiten hat. er gibt sich so, und aus.

Wichtig war mir, die Surrealen Teile mit der Wirklichkeit zu "verweben", dabei genug Möglichkeit zur Assoziation während des Lesend zu lassen. Laut deiner Beschreibung ist mir das gelungen. Das freut mich.

Was ich abe rnicht verstanden habe ist, was du mit "sperrig" meinst? Vielleicht kannst du den gedanken etwas ausführen, damit ich noch an der Geschichte feilen kann.

Ansonsten, vielen Dankf für die Reflexion, liebe Grüße aus Wien, Peter Hrubi

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo, ich noch mal.

Mit sperrig habe ich lediglich gemeint, dass der Text nicht gleich eingängig ist. Das ist aber auf keinen Fall ein Grund, es zu ändern, denn Geschichten müssen sich nicht immer gleich erschließen. Sie können ruhig ein bisschen Arbeit von mir fordern ;)

Ein philosophieren darüber ob der testosteronkranke Wachmann andere Seiten hat, halte ich auch nicht für nötig. Es ist ein erlaubter Kunstgriff, sich auch Klischees zu bedienen.

Lieben Gruß sim

 

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