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Der Wintertroll
Langsam landete eine von dem Wind hin und her getriebene Schneeflocke auf der Zunge von Emil, der mit geschlossenen Augen auf dem Geländer einer alten großen Holzbrücke saß und seine Füße hinunter baumeln ließ.
„Ich spüre nichts! Und was ist mir dir?“
Emil schaute rüber zu Eva, die ebenfalls versuchte Schneeflocken mit ihrer Zunge zu fangen.
„Nichts. Aber ich spüre ja schon lange nichts mehr! Das ist das Problem!“, sagte Eva.
Traurig blickte Emil auf seine vier Jahre jüngere Schwester, die trotz der Eiseskälte keine Mütze trug.
„Damals als sie noch klein war, da fror sie doch immer sehr schnell im Winter.“, dachte Emil. Evas schwarzes Haar war so sehr von Schneeflocken bedeckt, dass es für einen Moment fast komplett weiß war. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, trug Eva auch keine Handschuhe. Ihr Kapuzenpulli war sehr kurz geraten, so dass man die Narben an ihrem Handgelenk erkennen konnte.
Seit Jahren kam Eva mehrmals täglich zu der Brücke oder ging am Seeufer spazieren. Seit damals hatte der Ort sie nicht mehr losgelassen. Emil beobachtete die Flugbahn zweier Schneeflocken. Die erste landete auf dem zugefrorenen See, in dem so viele Erinnerungen lagen. Die nächste schmolz nach der Landung langsam auf Evas Handgelenk. Als diese bemerkte, dass Emil auf ihre Narben schaute, zog sie den verrutschten Ärmel ihres Pullis ganz schnell so weit hinunter, bis keine Narben mehr zu sehen waren. In diesem Moment sah Emil, wie ein älterer kleiner braunbärtiger Mann mit zerlumpter Kleidung die Brücke betrat und sich durch den hohen Schnee kämpfte. Er kannte den Mann. In der Stadt nannte man ihn nur Mücke. Emil mochte Mücke nicht.
Die Kinder der Stadt hatten damals sehr viel Zeit bei den Obdachlosen verbracht. Das gefiel den Erwachsenen nicht.
„Aber die haben wenigstens Zeit für uns. Sie spielen mit uns und erzählen uns spannende Geschichten!“, hatte sich Eva immer gegenüber ihrer Mutter gerechtfertigt.
„Die müssen nicht so viel arbeiten wie Papa und du!“
„Wo Sie Recht hat, hat sie Recht!“, hatte sich Emil, bis zu dem einen Tag, der das Leben des nun 22 Jährigen und seiner Familie vor zehn Jahren veränderte, immer gedacht.
Früher war Mücke oft mit seinem Freund Womme unterwegs. Womme war viel größer und kräftiger als Mücke. Doch er war vor fünf Jahren während eines Winters unter dieser Brücke erfroren.
Mücke grüßte die beiden mit einem freundlichen „Hallo“ als er an ihnen vorbeiging.
Doch nur Eva grüßte zurück. Emil schaute Mücke noch eine Weile verächtlich hinter her, wie er durch den Schnee tapste
„Wo wohnt der eigentlich im Winter? Immer noch unter der Brücke wie damals? Säuft der immer noch?“, fragte er Eva.
„Ne. Schon lange nicht mehr. Im Winter wohnt der in einem Gästezimmer des Pfarrheims. Nach all dem was passiert ist, ist das wohl auch besser so! Ist doch viel zu kalt draußen!“, sagte sie.
Emil guckte verwundert auf seine jüngere Schwester.
„Irgendwie ironisch, dass ausgerechnet du das sagst. Du läufst hier rum, als wäre es noch Frühherbst!“
Eva senkte ihren Kopf und schaute auf den zugefrorenen mit Schnee bedeckten See.
„Wir müssen jetzt essen! Mama wartet bestimmt schon auf uns!“
Eva sprang auf.
„Kommst du?!“
Während Eva voranschritt zögerte Emil.
„Ne gleich. Geh schon mal vor. Ich komm gleich nach!“
„Ok, bis später!“, sagte Eva und machte sich auf den Weg. Sie ging sehr schnell, als ob sie von etwas davonrannte.
„Für sie war das damals auch ein Schock. Sie hat alles mit angesehen. Dabei war sie noch so jung!“, dachte sich Emil als er seiner Schwester nachschaute.
Doch auch Emil hatte seine Sorgen. Er hatte Angst seine Eltern nach all dem was geschehen war, wiederzusehen. Er war extra aus Teneriffa wiedergekommen, da er sich Sorgen um Eva machte. Ihr Verhalten machte allen in ihrem Umfeld große Angst.
Überall im Haus wurden die Rasierklingen versteckt, so dass ihr Vater sich nur noch auf der Arbeit rasierte. Doch auch Emil kam nicht richtig an Eva heran. Er schämte sich. Er schämte sich dafür was er gemacht hatte, und für das was er geworden war. Früher als alles noch in Ordnung war, hatte er sich besser mit Eva verstanden.
Mit seinen Händen befreite er das Geländer von dem restlichen Schnee. Danach griff er ein kleines Päckchen Kokain aus seiner Jackentasche und streute es auf das Geländer.
„So schmeckt der Schnee besser und ich spüre endlich was!“, dachte sich Emil und holte einen 100 Euro Schein aus seinem Portemonnaie.
Reumütig blickte er auf den Geldschein, den er in den Händen hielt.
„Dieses Geld ist genauso schmutzig wie ich!“, dachte er.
Das Wasser war eisig kalt und Emil war bestimmt schon über eine Minute unter Wasser. Dennoch schien ihm die Luft nicht zu fehlen.
„Hat sich Maria damals auch so gefühlt? Wenn ja, war es gar nicht so schlimm! Alles ist so schön ruhig!“, dachte sich Emil.
Er schien die Kälte zu genießen.
„Die Begrüßung war diesmal gar nicht so unangenehm! Wenigstens gab es diesmal keine Fragen danach, was ich gerade so treibe und wie ich mein Geld verdiene!“, dachte sich Emil.
Es klopfte mehrmals heftig an der Tür. Emil wurde aus seinen Gedanken gerissen und tauchte blitzartig aus der Badewanne auf.
„Alles in Ordnung bei dir?“, rief eine Frauenstimme leicht ängstlich.
„Ja, alles gut Mama! Ich steige gleich aus der Wanne“, entgegnete Emil, der sich vor Kälte nun mehrmals schüttelte.
„Essen ist fertig!“
„Ja Mama mach ich gleich! Ich brauch noch zehn Minuten!“
„Ok“, sagte die Mutter und verschwand von der Tür.
Emil schaute über den Badewannenrand und griff nach seiner Hose. Er zückte sein Handy und blickte auf das Display.
13 SMS in Abwesenheit.
Emil las nur die letzte Nachricht.
Komm zurück nach Teneriffa und schwing deinen süßen Arsch für mich endlich wieder auf die Straße. Die männlichen Kunden vermissen dich! Sonst zieh ich andere Seiten auf!! Slatan
Emil hätte am liebsten geweint als er die SMS las. Doch er hatte es verlernt, zu weinen. Das letzte Mal, als er weinte war vor über zehn Jahren und seit zwei Jahren waren die Pulverrückstände des Kokains zu seinen Tränen geworden.
„Auf Teneriffa ist es für mich genauso kalt wie hier!“, dachte sich Emil.
Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er erst einmal bei seiner Familie, zumindest bei dem was davon übrig geblieben war, bleiben oder zurück zu Slatan gehen sollte.
Seit Wommes Tod vor fünf Jahren hatte er es zu Hause nicht mehr ausgehalten und war zu seinem Onkel nach Teneriffa gezogen. Als dieser vor drei Jahren starb, trieb Emil sich nur noch auf der Straße herum. Denn zurück wollte er auf keinen Fall. Auf der Straße hatte er vor zwei Jahren Slatan kennengelernt. Nur weil es Eva immer schlechter ging, war er zurückgekommen. Schließlich sollte er auf sie auspassen. Das hatte er seinen Eltern versprochen. Doch ein zu Hause, wo er sich wohl fühlte, gab es für Emil schon lange nicht mehr.
Nervös zückte Emil ein weiteres Päckchen Kokain aus seiner Hosentasche. Dabei fiel eine Packung Kondome auf den Boden. Emil hob die Packung auf, und steckte sie schnell zurück in seine Hosentasche. Danach baute er sich auf dem Badewannenrand eine Linie. Als er das Bad verließ schlich er in sein altes Kinderzimmer. Auf dem Weg dorthin ging er auch an Evas Zimmer vorbei.
Die Tür war geschlossen.
„Immer wenn sie schläft, ist es komplett dunkel! Sie braucht kein Licht. Anscheinend hat sie keine Angst vor Wintertrollen, wie ich!“, dachte sich Emil.
Emil schämte sich dafür, dass er mit 22 Jahren noch Angst vor Wintertrollen hatte, und noch mehr, dass er an deren Existenz glaubte.
„Wintertrolle haben Angst vor Licht. Mit Licht kann man sie und das Böse in ihnen besiegen und sie greifen einen nicht an!", sagte Eva immer.
***
Emil dachte an das Ereignis zurück, das sein Leben und das Leben seiner ganzen Familie verändert hatte. Er dachte an die Legenden über diese Wesen, die Eva ihm erzählt hatte. Vor jenen zehn Jahren waren es laut ihrer Aussage zwei Wintertrolle, die ihrer kleinen sechs Jahre alten Schwester Maria an einem Winterabend Angst machten und sie bis auf den zugefrorenen See verfolgten. Dort sprangen sie schreiend auf und ab und lockerten durch die Erschütterung das Eis.
Maria stürzte dabei in den See. Eva und ihr Spielkamerad David, die beide nur zwei Jahre älter waren als das junge Mädchen, waren dabei, aber sie konnten Maria nicht retten. Auch David fiel in den See und ertrank wie Maria. Es war schon dunkel als Emil Eva fand. Er hatte sich zuvor mit seiner ersten Freundin Claudia in einer anderen Ecke des Parks getroffen, um zu knutschen. Emil hatte die drei Kinder schon eine ganze Weile gesucht. Dann wurde er durch die Schreie von Eva alarmiert. Er war so schnell wie er nur konnte zum See gerannt. Doch er fand nur Eva am Rande des Sees. Sie weinte und saß kauernd auf dem Boden.
„Du musst Maria und David retten! Sie sind in dem See!“, schrie sie ihn verzweifelt an.
Auch Mücke und Womme waren zur Unfallstelle geeilt. Der glatzköpfige Womme hatte mit einem alten Handy den Notruf alarmiert. Doch es war zu spät.
In dem Loch in der Mitte des Sees waren keine Körper mehr zu sehen. Taucher fanden am nächsten Tag nur die beiden Leichen der Kinder.
Als Emil am Unfallort fragte, was passiert sei, blickte Eva ängstlich auf die beiden Obdachlosen. „Zwei Wintertrolle haben sie verfolgt, bis aufs Eis. Sie haben ihr Angst gemacht. Dann sprangen sie so lange auf und ab, bis das Eis langsam brüchig wurde. Danach ist Maria in den See gefallen.“
Emil blickte auf Womme und Mücke. Diese guckten geschockt zu Boden. Sie wussten genau, was Eva meinte und fühlten sich ertappt. Eva wiederholte im Schock diese Aussage mehrmals. Auch vor der Polizei erzählte sie später immer nur diese eine Version. Mehr sagte sie kaum. Für Emil war klar, wer die beiden Trolle waren. Doch laut der Polizei hatten sie ein Alibi. Mücke und Womme waren die ganze Zeit in ihrer Stammkneipe gewesen und wurden dort zum Zeitpunkt des Unfalls von mehreren Zeugen gesehen. Doch es gab eine Person, auf die Emil noch viel wütender war als auf die beiden Obdachlosen.
„Es ist meine Schuld. Ich sollte auf die beiden aufpassen! Stattdessen habe ich mich mit Claudia getroffen, während die drei draußen gespielt haben! Ich musste einfach danach mit ihr Schluss machen. Ich habe so eine tolle Freundin nicht verdient gehabt!“.
Emil konnte sich dies bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht verzeihen.
Seit jenem Tag sprach er mit Eva nur noch sehr wenig über diesen Vorfall. Sie weigerte sich oft darüber zu reden. Am Tag von Marias Beerdigung, sprach sie jedoch mit ihm, als beide alleine in der Kapelle zurückblieben. Emil fragte Eva nach den Wintertrollen und wie sie aussehen.
„Wintertrolle können groß oder auch klein sein. Es gibt verschiedene. Sie tauchen immer da auf wo es kalt ist. Man sieht sie fast nur im Winter. Sie springen gerne herum und sind gemein und machen den Menschen Angst!“, erzählte Eva.
Danach schwieg sie kurz, ehe sie monologartig fortfuhr ohne ihrem Bruder dabei in die Augen zu schauen.
„Es gibt noch eine Sache, die alle Wintertrolle gemeinsam haben. Sie haben große Angst vor Licht! Wenn man sie mit Licht bestrahlt, dann entflieht das Böse aus ihnen! Das haben Mücke und Womme mir gesagt!“, flüsterte Eva leise.
Mehr wollte sie dazu nicht sagen. In diesem Moment stieg Emils Verdacht und er empfand großen Hass auf die beiden Obdachlosen, die ihm zuvor immer relativ gleichgültig waren.
Es gab also einen triftigen Grund, warum Emil seitdem immer bei eingeschaltetem Licht schlief.
„Eva hat keine Angst. Sie ist mutiger. Sie ist hier geblieben und schläft immer im Dunklen. Ich bin abgehauen und mache furchtbare Dinge. Dabei war ich vorher doch nicht so? Oder steckte die Fähigkeit immer das Falsche zu tun schon immer in mir drin?“, fragte sich Emil.
„Fehler vermehren sich wie die Heuschrecken. Erst macht man einen und dann folgt langsam ein ganzer Schwarm! Dennoch ist es meine Schuld, dass Eva den Anblick nicht vergessen kann und sich die schlimmen Dinge antut. Aber ich habe es nicht anders verdient!“
***
Nach dem Abendessen begab sich Emil früh in Bett. Alle schwiegen am reichlich gedeckten Tisch. Trotz der Reibekuchen, die Emil schon als Kind liebte, war es eine befremdliche Atmosphäre. Die Trauer von damals schien wieder Einkehr zu nehmen und alle vier zu lähmen. Seine Eltern sprachen kaum und vermieden unangenehme Themen wie Emils Leben auf Teneriffa. Auch Eva, die so gut wie gar nichts gegessen hat, begab sich schnell früh in ihr Zimmer.
Emil konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Er dachte, als er sich mehrmals im Bett wälzte, viel nach. Seine Gedanken kreisten um Womme, Eva und an Maria. Er öffnete die Schublade seiner Nachtischkommode und nahm eine kleine Taschenlampe heraus.
„Ich brauche Licht. So können mich die Wintertrolle nicht angreifen!“, dachte er sich. Nachdem er sich eine weitere Linie auf der Nachtischkommode gezogen hatte, zog er sich seine Winterklamotten an und schlich aus dem Haus.
Draußen schneite es stark. Einsam stapfte Emil durch den hohen Schnee. Er lauschte dem Geräusch, das erklang als er mit seinen Schuhen den frischen Schnee platt drückte. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er auf die Spuren im Schnee. So wie seine Schritte Spuren im Schnee hinterließen, so hinterließ auch jener verhängnisvolle Winter, Spuren in seinem Leben.
„Nur das hier der Schnee die Spuren schnell wieder bedeckt und alles vergessen macht. Das ist der große Unterschied!“, dachte sich Emil. Nach einer halben Stunde, hatte er die hölzerne Brücke am See erreicht. Der Schneefall ließ langsam nach, doch Emil wurde nervöser.
***
Zu viele Erinnerungen kamen hoch. Erinnerungen von früher. Hektisch leuchtete er um sich. Dann fand er endlich die kleine Hecke. Wie paralysiert blieb er stehen und leuchtete auf sie. Dies war die Stelle wo er damals genau fünf Jahre nach Marias Tod Womme gefunden hatte. Womme war stark betrunken und vor der Hecke eingeschlafen. Neben ihm lag eine leere Flasche Whiskey. Sein Gesicht war damals schon ganz blau, aber er atmete noch. Doch obwohl Emil ein Handy dabei hatte, alarmierte er nicht die Polizei und überließ Womme seinem Schicksal.
„Er hat es nicht anders verdient!“, hatte sich Emil gedacht.
„Jetzt gibt es nur noch einen Wintertroll! So hat Eva das immer gesagt! Sie kann nur Mücke damit meinen!“, dachte sich Emil.
Eva hatte ihm vor fünf Jahren verraten, dass einer der beiden Wintertrolle, die Maria verfolgt hatten, bereits gestorben war. Seitdem hat sie nie wieder ein Wort über die Wintertrolle verloren.
***
Emils Hand zitterte nun. Er war nicht mehr in der Lage seine Taschenlampe gerade zu halten. Sein Herz raste.
„Das war heute viel zu viel Koks. Mir ist so schlecht!“, dachte sich Emil. Plötzlich hörte er einen Schrei.
„Das ist bestimmt das Koks! Ich bilde mir das nur ein!“, dachte sich Emil.
Doch der Schrei wiederholte sich. Es war der Schrei einer Mädchenstimme.
„Das ist Maria! Ich kenne diese Stimme. Das muss Maria sein! Vielleicht kann ich sie diesmal retten!“, flüsterte Emil hektisch vor sich her.
Nervös rannte Emil am Ufer des Sees vorbei.
Mit seiner Taschenlampe strahlte er panisch umher. Er fand Fußabdrücke im Schnee. Hektisch strahlte er danach mit seiner Taschenlampe auf den Boden und folgte der Fährte. Er hörte einen weiteren Schrei. Emil leuchtete mehrmals auf den See. Dann entdeckte er was. Es sah aus wie ein Wesen, das sich mitten auf der Eisfläche befand und stark auf und ab sprang.
„Ein Wintertroll!“, schrie Emil.
Ohne nachzudenken, rannte er auf den See. Fast in der Mitte angekommen, wurde ihm sehr schwindelig vor Augen. Er stand nun unmittelbar vor dem Wesen.
„Maria?“, brüllte er.
Sein Herz schlug wie verrückt. Emil krümmte sich vor Schmerzen. Er sah nur noch verschwommen.
„Ich habe sie umgebracht! Es ist meine Schuld. Meine und die von David. Aber David hat seine Strafe erhalten! Ich wollte das doch nicht! Wir wollten ihr doch nur etwas Angst machen und dann sind wir ihr hinterher gerannt. Wir haben so getan als wären wir Wintertrolle.
Wieso bin ich nicht reingefallen? Ich ertrag das nicht mehr! Es ist Zeit, dass ich zu ihnen komme!“, sagte das Wesen zu Emil, ehe Emil ein Krachen hörte und die Gestalt im Eis versank.
„Maria! Nein!“, schrie Emil.
Er kroch langsam zu dem Loch im Eis, um hinunterzuschauen. In diesem Moment packte ihn etwas von hinten. Emil erschrak und drehte sich um.
Es war Mücke.
Panisch strahlte Emil mit seiner Lampe auf das Gesicht von Mücke. Doch dieser verschwand nicht. „Geh weg! Lass mich in Ruhe! Hilfe! Bei Licht müsstest du verschwinden.“, schrie Emil.
„Wieso wirkt das Licht nicht?!“, dachte sich Emil.
Mücke versuchte Emil zu beruhigen.
„Bleib ruhig! Das Licht wirkt nicht, weil ich kein Wintertroll bin! Wir müssen hier weg. Der Krankenwagen und die Feuerwehr sind schon unterwegs! Dieses Mal wird alles gut! Aber das Eis kracht bald ein. Junge, sei doch vernünftig!“
Mücke hielt Wommes altes Handy in seiner Hand. In der anderen Hand trug auch er eine Taschenlampe. Emil konnte sich nicht beruhigen. In Panik macht er einen Schritt nach hinten und trat in das Loch. Schnell fiel er in das eiskalte Wasser.
Es war so kalt, dass er sich nicht bewegen konnte. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er nach unten gezogen wurde.
„Es ist noch viel kälter als in der Badewanne vorhin, aber so angenehm ruhig!“, dachte sich Emil. Langsam schloss er die Augen und genoss die Kälte. Er ergab sich seinem Schicksal. Allmählich sank er nach unten.
***
Während er sank, träumte er von jenem Tag, der das Leben von so vielen Personen veränderte: Es war Winter. Er sah wie ein Junge und ein Mädchen, hinter einem weiteren Kind in der Nähe der großen alten Holzbrücke am Uferrand des Sees hinterherliefen. Das Kind hatte Angst.
„Wir sind Wintertrolle. Buuuh. Wir kriegen dich!“, schrien die beiden Kinder.
Das dritte Kind, es war ein Mädchen, hatte große Angst und rannte verzweifelt weg. Sie rannte bis auf den mit Schnee zugedeckten See. Die anderen beiden Kinder verfolgten sie lachend und merkten nicht, dass sie sich schon längst auf dem zugeschneiten See befanden.
Der Junge und das Mädchen sprangen wie wild schreiend im Kreis herum.
„Wir sind Wintertrolle. Buuuuh! Buhu!“, riefen sie.
Nun erkannte Emil das Gesicht des ängstlichen Mädchens.
Es war Maria.
Das Eis brach ein. Maria und kurz darauf auch David fielen in den See. Das Mädchen, das als einzige nicht in den See fiel, war Eva.
***
Plötzlich bemerkte Emil ein Licht, das ihm direkt ins Gesicht schien. Er öffnete seine Augen. Das Licht wanderte ein bisschen versetzt von ihm nach links. Er drehte sich um und sah einen Körper im Eis. Nun realisierte er, dass es sich nicht Maria handelte.
„Eva!“,dachte er.
In diesem Moment sank auch sie allmählich nach unten. Das Licht der Taschenlampe schien in ihr Gesicht. Nach einigen Sekunden riss sie reflexartig ihre Augen auf. Für Emil schien es so, als ob eine unbeschreibliche Energie ihren Körper verließ.
„Der Wintertroll ihr hat sie verlassen!“,dachte Emil.
Eva fing an zu atmen. Luftblasen bildeten sich. Eva schlug wie wild um sich.
Mit letzter Kraft tauchte Emil zu ihr und packte Evas Arm. Danach verlor er das Bewusstsein.
Als Emil aufwachte, befand er sich im Krankenhaus. Seine Eltern standen an seinem Krankenbett. Seine Mutter küsste seine Stirn und weinte vor Glück als sie sah, dass er aufgewacht war.
„Junge, tu uns nie wieder so etwas an!“, sagte sein Vater mit weinerlicher Stimme.
Emil drehte sich um und sah wie neben ihm Eva in ihrem Bett lag. Sie schlief.
Mücke saß auf Evas Bett und strich ihr fürsorglich durchs Haar.
„Ich bin froh, dass du bald wieder gesund wirst, du kleiner Wintertroll!“, sagte er zu ihr.
Nun verstand Emil und blickte traurig auf Mücke.
„Womme ist zu Unrecht gestorben! Ich habe ihn umgebracht!“, dachte er sich.
Emil schämte sich. Mücke ging nun zu Emils Bett.
„Ich bin froh, dass es euch gut geht! Womme wäre auch froh. Glaub mir! Hätten wir uns die Troll-Geschichte nicht ausgedacht, dann wäre das alles nicht passiert. Es tut mir leid.“, sagte Mücke zu Emil.
Emil konnte Mücke nicht mehr in die Augen schauen. Während seine Eltern zu Evas Bett gingen, flüsterte Mücke ihm etwas ins Ohr.
„Ich weiß was passiert ist. Ich hab deine Fußabdrücke damals im Schnee gesehen. Aber wir müssen nun nach vorne blicken. Mach dir nicht zu große Vorwürfe. Früher oder später wäre es eh passiert! Dieser scheiß Alkohol! Du musst auf Eva aufpassen, so wie gestern. Der kleine Wintertroll von damals ist nun eine junge Frau. Sie braucht dich!“
Mückes Atem roch frisch und nicht nach Alkohol.
„Wenn er sich geändert hat, dann kann ich das vielleicht auch?!“, dachte sich Emil.
Mücke griff Emils Hand und streichelte sie. Emil begann zu weinen. Ihm schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Dennoch war er nun auch erleichtert. Er blickte zu Eva. Sie war aufgewacht und lächelte. In diesem Moment entschloss sich Emil nicht mehr davonzurennen.
„Mama, Papa?! Kann ich erstmal wieder bei euch wohnen?!“, fragte er und fing an laut zu weinen.
ENDE