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Der Winter kommt in die Hausmanstraße
Es nieselte, als das Taxi in die Hausmanstraße einbog. Ab der Kreuzung waren es knapp fünf Kilometer und man musste einen Bahnübergang und einen Fluss überqueren, um die ersten Häuser des Villenviertels zu erreichen. Der dunkle Asphalt schlängelte sich über einige Anhöhen hinweg und an schroffen Felsvorsprüngen vorbei. Trotz des kurvigen Straßenverlaufs blieb die Geschwindigkeit des Taxis nahezu konstant. Es ächzte das Fahrwerk unter den schnellen Lenkbewegungen. Alte abgestorbene Kiefernnadeln wurden vom Boden aufgewühlt und an den Straßenrand gewirbelt. Während das Taxi durch den Bodennebel stach, schien es so als wenn das Taxi das Gewesene vor sich her schob und ersetzte. Wie als wenn der Herbst weichen würde, um dem Winter Platz zu machen. Aus feuchtem Dunst wurde trockene Kälte.
Das Haus, an dem das Taxi hielt, war ungewöhnlich. Eigentlich waren es zwei Doppelhaushälften, die, ansonsten getrennt, in der Mitte durch eine große Glasfront auf Höhe der Paterre verbunden waren. Zwischen den pompösen Villen mit ihren Klinkern und den protzigen Gauben, wirkte das Haus puristisch. Fassade aus offenporigem Beton und rechteckige Fenster, die rahmenlos wirkten. Bis zum schnörkellosen Flachdach erstreckten sich jeweils zwei Obergeschosse. Von außen wirkten beide Haushälften wie ein riesiges U aus Glas und Beton, welches in der Mitte zusammengeflickt worden war. Trotzdem gehörten sie zusammen.
Die Türen des Taxis gingen auf und es wurden zwei alte Lederkoffer aus dem Kofferraum auf den Bürgersteig getragen. Durch den schwindenden Nebel erkannte man immer deutlicher eine weibliche Silhouette. Sie stand neben ihren ramponierten Koffern und schien zunächst das Betonhaus zu betrachten. Statt des Nebels, umgab sie nun ihr kondensierter Atem. Ihre hellblauen Augen wanderten von den Vorgärten zu den beiden stählernen Eingangstüren, während sich ihre Zunge nervös im Mund von der einen Backe zur anderen bewegte. Sie war mittelgroß, doch durch ihre ausladenden Hüften wirkte sie klein und unförmig. Die blondgefärbten Haare waren an den Seiten kurzgeschoren, wodurch ihre braune Naturhaarfarbe erkennbar wurde und die restlichen mittelkurzen Haare waren nach hinten gegelt. Trotz des eher trostlosen Anblicks vor ihr, zog sich ein Mundwinkel zu einem Lächeln. Der Regen wurde stärker und sie schaute in den weißen Himmel, genau den Tropfen entgegen, bevor sie sich für die linke Eingangstür entschied. Die Koffer ließ sie am Straßenrand stehen. Auf dem Gehweg streifte sie einige verwilderte Büsche und Sträucher, die hier bereits den Gehweg zu überwucherten. Nachdem das Glockenspiel ertönt war, dauerte es eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde. Ein hagerer Mann stand ihr nun gegenüber. Er sah zerwühlt und schlaftrunken aus und war nur mit einer Boxershorts und einem T-Shirt bekleidet.
Für einen Augenblick schien der Mann im Türrahmen verwirrt. Der Mimik zu urteilen, schien er eine Fata Morgana zu sehen.
„Na? Wie gehts dir Anton?“ die Frau hatte ihr Grinsen verbreitert.
Anton stand wie angewurzelt und erinnerte an ein Reh vor Autoscheinwerfern.
„Willst du nicht meine Koffer holen?“
„Je….Jenny, was machst du hier?“ Anton schien sich langsam zu lösen und wiegte sich nervös von links nach rechts.
„Im Regen stehen, du Schaf!“, Jennys Blick wirkte streng, obwohl sie grinste.
„Willst du nicht zu meinem Bruder und Emma?“ Anton blickte für eine Sekunde zu anderen Eingangstür.
Jenny trat an ihn heran und berührte mit einer Hand seinen Oberschenkel.
„Keine Ahnung, will ich?“ Sie schaute ihm genau in die Augen. Ihr Blick war klar und zielstrebig.
Anton wich zurück und stieß mit dem Hinterkopf an den Türrahmen. Er atmete schwer. Jennys Hand bewegt sich nach oben.
„Weißt du noch früher?“ Jennys Blick lies nicht nach.
Anton löste sich beschämt, guckte Jenny mit leeren Augen an und ging unsicher ein Schritt rückwärts, bis er plötzlich stehen blieb. Sein Gesichtszug veränderte sich langsam, als wenn was in seinem Inneren den Kampf gewann. Er fing an zu lächeln.
„Also, holst du nun meine Koffer?“
Er überlegte eine Weile. Schließlich joggte er barfuß zum Bürgersteig und nahm die Koffer. Verstohlen blickte er in Richtung der rechten Eingangstür, bevor er die Koffer an Jenny vorbei in den Flur schleppte. Die Haustür ging zu. Es war 6 Uhr 30.
Die Hausmanstraße lag für kurze Zeit im stillen nebeligen Herbstmorgen. Den blauen Transporter, der die Stille zerbrach und endgültig den Lärm des Tages einläutete, hörte man schon von Weiten die Waldstraße herunterbrettern. Er kam vor der rechten Eingangstür quietschend zum Stehen. Es schien sich plötzlich alles zu verlangsamen, als sich die Fahrertür behäbig öffnete. Eine Frau wuchtete sich aus der Fahrertür. Sie hatte lange strähnige schwarze Haare und wog knapp eineinhalb Zentner. Trotz allem sah man ihr an, dass sie keine 30 Jahre alt war. Um ihren ballonförmigen Körper hängte sich eine blaue Latzhose, die an den Knien geflickt war. Auf Brusthöhe war ein Name eingestickt: Anne Kolhreiter.
Nachdem sie sich aus dem Transporter gestemmt hatte, schleppte sie sich zum kniehohen Gartentor und wartete einige Minuten. Schließlich seufzte sie, beim Blick auf die Uhr und drückte die Klingel. Es tat sich nichts, also schritt sie gemächlich zur Eingangstür. Auf halben Wege hörte sie von drinnen, wie einer die Treppe runter sprintete. Die Tür sprang auf und vor ihr stand ein gesetzter Mann mittleren Alters.
„Morgen Chef!“
„Morgen Anne! Ich brauche noch zwei Minuten.“, der Mann schloss die Tür wieder. Er wirkte gestresst. Anne schaute dumpf die Eisentür an und steckte ihre Hände zurück in die großen Hosentaschen. Einige Minuten später kam der Mann mit einem Ärmel in der Jacke und einem Brötchen im Mund. In der einen Hand einen ledernen Werkzeugkoffer, in der anderen eine pinke Schultasche. Hinter ihm trottete ein kleines braunhaariges Mädchen.
„Emma! Tür Zu!“ Emma drehte sich um und zog mit Mühe die schwere Tür zu.
Anne saß schon am Steuer des Transporters, als der Mann Emma die Tasche gab und mit ihr ein paar Worte wechselte. Schließlich drehte sich Emma um und ging in Richtung der Bushaltestelle. Der Mann schaute ihr eine Weile hinterher. Sein Blick senkte sich und er atmete durch.
„Sie ist wieder da“ Annes Chef war eingestiegen und betrachtete, wie der Regen auf die Windschutzscheibe prasselte.
„Wer? Jenny?!“ Anne legte den Gang ein, nachdem der Motor angefangen hatte zu klopfen.
Es quietschte auf dem feuchten Asphalt, bis die Reifen griffen und der Wagen ruckartig anfuhr. Der Mann starrte nur ins Leere und nickte resigniert. Von weitem hörte man ein Signalhorn vom Bahnübergang. Der Nebel war endgültig verschwunden und der Tag versprach eisige Kälte.
Der Winter war in der Hausmanstraße.