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Der Wind und der Nebel
Der Wind blies gewaltig. So stark erlebte man ihn normalerweise nur über dem offenen Ozean. Nun auch in der Stadt. Er fegte mit einer unheimlichen Kraft um die Häuser und sorgte dafür, dass sich die Bäume in Schräglage bogen. Auch die paar Menschen, die sich noch auf den Strassen von Wien aufhielten, wurden durch den Wind auf einen Winkel von 45 Grad zwischen Fußgelenk und Straßenebene gebogen, vorausgesetzt, sie flogen nicht schon vorher davon. Es geschah aber auch, dass der Wind einen Bruch in ihrem Fußgelenk verursachte und ihren Körper vom Fuß abtrennte. So kam es, dass in der Stadt später viele Füße herumlagen und, schlimmer noch, viele Leute nicht mehr gehen konnten. Oder sie versuchten es, scheiterten dann aber, wenn sie durch die Tür gehen wollten, da ihr Körper ja nicht mehr aufrecht war, sondern zur Seite geneigt. Die meisten konnten ihre Wohnung nicht mehr verlassen und weigerten sich von Anfang an, aus dem Bett zu steigen. Der Wind hatte sozusagen ihr Leben zerstört.
Davon bekam ich zunächst überhaupt nichts mit. Gemächlich zog ich in dem riesigen, beheizten Schwimmbecken meine Runden. Ich war alleine. Der Saal war sehr hoch. Während ich auf dem Rücken schwamm, betrachtete ich die surrealen Fresken an der Decke. Römische Inquisitoren waren dort zum Beispiel zu sehen. Regierende mit einer Waage in der Hand. Ein Monster, das Kindern die Köpfe abbeißt. Aber das bildete ich mir nur ein. Die rechte Wand war durch ein großes, futurisches Glas von der Außenwelt getrennt. Es war blau, deshalb konnte man auch nicht nach draußen sehen. Aber das gefiel mir. Ich freute mich außerdem schon riesig auf das Mittagessen, das daheim auf mich wartete. Speckknödel mit grünem Kälberserum. Mir rann das Wasser im Mund zusammen, das beim Raustropfen aus den Winkeln sich mit dem Poolwasser zu einer schleimigen, widerwärtigen Brühe vermischte. Mir war kalt, ich ging aus dem Wasser. Mit allen Kräften bahnte ich meinen Weg durch einen Dschungel aus langweiligen Wandmosaiken und hungrigen, Fleisch fressenden Pflanzen, die gierig nach mir schnappten. Ich schaffe es schließlich und gelangte in die Dusche.
Während ich dann so dastand, die Kacheln anstarrte und mich vom heißen Wasser berieseln ließ, vernahm ich aus den Augenwinkeln eine Gestalt, die sich jenseits des Torbogens von links nach rechts bewegte. Ich drehte den Kopf, aber da war sie schon wieder weg. Mein Kurzzeitgedächtnis funktionierte hervorragend, so konnte ich mich noch genauestens an die Anatomie der Person erinnern. Meines Erachtens nach war es mit aller Wahrscheinlichkeit eine Frau. Das war gut. Doch mein messerscharfer Verstand, mit dem ich alle Aspekte meiner Gedanken durchleuchten konnte, sagte mir, dass es sich auch um einen Transvestiten handeln könnte. Ich verstand. Das war nicht so gut. Und wenn es sich sogar um einen Außerirdischen handelte? Ich beschloss, die Reaktion der Person zu testen und mich nackt vor ihr zu präsentieren. Ich pirschte mich also quer durch den Duschraum und presste mich an die Wand. Vorsichtig lugte ich mit dem Kopf um die Ecke und erahnte immer mehr Teile der Gestalt. Sie stand mit dem Rücken zu mir, durch den dichten Dampf konnte ich aber weder erkennen womit sie sich beschäftigte, noch wie detailliert ihre Dorsalanatomie beschaffen war. Trotzdem war für mich eindeutig klar, dass es sich hier nur um einen Außerirdischen handeln konnte. Ich war verwirrt. Ich dachte, ich wäre alleine hier. Was hatte er hier zu suchen? Da ich den Film „Alien“ mehrmals gesehen und somit eine Ahnung vom möglichen Verhalten Außerirdischer hatte, wusste ich, dass es, trotz meines Ärgers besser war, ihn nicht darauf anzusprechen. Ich verließ also das Schwimmbad und landete auf der Kinderspitalgasse.
Genau jetzt werden Sie sich empört einbringen, dass es gar kein Schwimmbad in der Kinderspitalgasse gäbe. Das ist richtig. Glauben Sie aber, ich würde schreiben, ich wäre auf der Natorpgasse, wo jeder sofort wüsste, dass ich im Schwimmbad Donaustadt war, oder ich wäre auf der Franklinstrasse, wo die ganze Welt doch weiß, dass es sich hierbei nur um das Hallenbad Floridsdorf handeln kann? Sicher nicht. Ich mache hier schließlich keine Reklame für Schwimmbäder. Also Kinderspitalgasse.
Auch hier hatte mich der Wind sofort im Griff. Ich hatte äußerste Mühe, standhaft zu bleiben. Mein Hut flog augenblicklich davon. Mein Stock wurde wie ein Streichholz geknickt. Ich krallte mich an einem Maschendrahtzaun fest und beobachtete die Szene. Da flogen viele Bäume durch die Luft. Ein Auto überschlug sich aus dem Stand und begrub einen Passanten unter sich. Der Wohnblock links von mir hatte sich entzündet. Im Nu hatte der Wind ein Großfeuer daraus gemacht. Die Feuerwehr hatte keine Chance. Sie alle verbrannten elendigst bei lebendigem Leibe. Es war mir egal. Schließlich konnte auch ich mich nicht mehr wehren. Der Draht gab nach, riss ab, und während ich mich immer noch daran festkrallte, wurde ich schon durch die Luft geschleudert. Ich versuchte, trotzdem die Kontrolle zu behalten. Meine Hände hielten das Stück Zaun fest und streckten es über den Kopf. Ich streckte überhaupt den ganzen Körper und presste die Füße eng zusammen. Man muss sich das so vorstellen, wie Superman das immer macht. Aber so schaffte ich es, dass ich manövrieren konnte. Es wurde auch höchste Zeit, denn ich befand mich schon über dem Prater. Ich wendete also alle meine Kräfte auf, bewegte meinen Körper in die Sinkflugstellung und steuerte auf eine Betonfläche zu. Die Landung gelang mir einigermaßen. Ich landete zwar auf dem Bauch, es hätte aber auch schlimmer ausgehen können. Zum Beispiel auf dem Kopf. Nicht auszudenken, was da passiert wäre. Noch vorgestern war ich erst beim Frisör gewesen.
Ich sah mich um. Wo war ich hier eigentlich gelandet? Es scheint eine Hinterhof-Sackgasse zu sein, so wie in diesen Gangsterfilmen, wo sie die Leute dann immer erschießen. Da war eine Mauer um mich herum, die Gasse führte um ein Eck, ich konnte keinen Ausgang oder gar eine Strasse sehen. Auf der Mauer standen widerwärtige, sowohl links - wie rechtsradikale Sprüche geschrieben. In Graffiti, wohlgemerkt. „Smash Sexism- Have Sex“ stand da zum Beispiel. Oder „Make Love- Not Peace“. Oder “Gewalt gegen Drogen”. Oder “HC Strache raucht Crack in der Passage”.
Mir wurde schlecht. Ich aß meine Jacke. Dann bemerkte ich, wie die Wandmalereien immer undeutlicher vor meinen Augen verschwammen. Ich wusste auch gleich warum. Ein dichter, monströser grauer Nebel senkte sich über die gesamte Stadt. Der Wind hatte übrigens aufgehört. Innerhalb von Sekunden war alles verschwunden, ich sah meine Hände nicht mehr. Was tun ich einer solchen Situation? Wenn ich mich nicht mehr auf meine Augen verlassen konnte, könnte mir vielleicht mein Geruchssinn weiterhelfen. Ich dachte an die Speckknödel mir grünem Kälberserum, die zuhause auf mich warteten, denn ich hatte gewaltigen Hunger. So versuchte ich einige Zeit, meinen Geruchssinn ausschließlich auf diese Speise zu konzentrieren. Fehlanzeige. Mal überlegen, was könnte ich sonst tun? Mir fiel ein, dass Tiere in solchen Situationen immer einen ausgeprägten Instinkt beweisen und meistens eine Lösung für das Problem finden. Hervorragend! Ich beschloss, es also so zu machen wie die Tiere. Ich ließ mich auf allen Vieren nieder, und kräulte wie eine räudige Echse über den Boden. Auch das führte nach geraumer Zeit nicht zum gewünschten Erfolg. Ich war verzweifelt. Ich heulte. Zum ersten Mal in meinem Leben betete ich zu Gott.
Da erschien von oben ein Geräusch. Dann ein Licht. Dann drei. Es war eine fliegende Untertasse, die zur Landung ansetzte. Gebannt beobachtete ich, was geschah. Der Pilot stieg aus dem Raumschiff und erschien vor mir. Im gleichen Moment verschwand übrigens auch der Nebel. So konnte ich die Gestalt gut erkennen. Es war derselbe Außerirdische, dem ich zuvor im Schwimmbad begegnet war. Er schien freundlich zu sein, denn er lächelte mich an. Er deutete mir, ihm in sein Raumschiff zu folgen. Ich bemerkte, wie ich ohne zu sprechen wusste, was er dachte. Auch wenn ich seine Gedanken nicht wirklich festhalten konnte, so konnte ich dadurch doch mit einem Schlag viel über seine Persönlichkeitsstruktur erfahren. Was für eine großartige Möglichkeit zu kommunizieren. Er scheint diese Fähigkeit zu besitzen, und indem er sie bei mir anwendet, scheine ich sie auch bekommen zu haben. Er lässt mich an sich teilhaben. Aber auch er erkennt meine Gedanken und weiß, dass ich Hunger habe. Er drückt auf einen Knopf in seinem Raumschiff und vor mir erscheint ein großer Teller mit Speckknödel und grünem Kälberserum. Er schwebt in der Luft und irgendwie brauche ich auch gar kein Besteck, das Essen fliegt mir von selbst in den Mund, und wartet bis ich fertig gekaut und geschluckt habe, bevor eine neue Portion dahergeflogen kommt. Ein Pils schwebt herbei und ich brauche es nicht zu trinken, die Flasche verschmilzt mit meinem Körper und ein wunderbares Gefühl breitet sich aus. Ich spüre das Bedürfnis, nie wieder ein Bier trinken zu müssen. Überglücklich schwebe ich durch den Raum und verliere zugleich jegliches Gefühl von Raum und Zeit. Ein galaktischer Friede überkommt mich, so wild und sanft und endgültig.