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Der Wind hat gedreht
Der Wind hat gedreht. Er kommt wieder von Osten, trägt die fernen Winde des Urals an meine Ohren, möchte mir seine einsamen Geschichten erzählen, doch ich verstehe sie nicht. Der Wind wird rauer, die Nacht eine knirschend kalte, soviel ist sicher.
Ob sie jeder überleben wird hingegen nicht. Ob ich sie erleben werde hingegen nicht.
Durch die eingeschlagenen Fenster fallen die letzten schwachen Strahlen der Dezembersonne und ich folge dem blassen Lichtkegel, folge ihm den ganzen Tag, ziehe mit ihm von Stunde zu Stunde, bin meine Eigene Sonnenuhr. Nur noch wenige Minuten habe ich Zeit, um alles festzuhalten, auf meine vergilbten Blätter, mit meinem abgenagten Bleistift, notdürftig mit einer Scherbe angespitzt. Wie viele Blätter ich gefüllt habe, habe ich vergessen. Vielleicht habe ich sie nie gezählt, nie gewusst, wie viele es jemals waren, nie gewusst, wie viele ich schon verloren habe an den fernen Wind des Urals. Wollte er mir meine Geschichte stehlen, weil ich seine nicht annehmen wollte?
Doch, ich habe die Blätter gezählt, früher, als du...
Früher, als die Blätter noch schneeweiß waren, als die Fenster noch verglast waren, als der ferne Wind sich andere Ohren suchten musste für seine Geschichten aus den Tiefen der Tundra, da habe ich sie wohl gezählt. Dann muss ich es vergessen haben. Wie so vieles.
Doch was ich nicht vergessen habe, das liegt verstreut auf vergilbtem Papier zwischen den eingeschlagenen Fenstern und den tapetenlosen Wänden, von denen sich der Putz schon lange geschält hat.
Es sind viele Blätter, denen ich mit meinem abgekauten Bleistift meine Zeichen aufgedrückt habe, Strich um Strich, die Zeichen meines Lebens. Ich versuche mich zu erinnern, an alles zu erinnern, was jemals war, mich daran zu erinnern, wie ich einst war. Ich versuche, zu verstehen, warum, und habe doch so vieles vergessen, so vieles verloren.
Der letzte macht die Lichter aus, sagen sie. Und du hast dir das zu Herzen genommen und die Kerzen alle gelöscht, die Vorhänge zugezogen, die Lichter ausgemacht, die Tür verschlossen, ohne dich umzusehen. Du hast die Bewegungen tausendfach in deinem Kopf durchgespielt, bist jeden Tag in deinen Träumen durch die Zimmer gegangen, hast die Vorhänge zugezogen und dabei nur das dumpfe Klacken deiner Absätze zurückgelassen. Damals, vor so langer Zeit.
Nur noch wenige Blätter sind leer geblieben, weniger, als ich blaue Finger habe. Doch das macht nichts. Es werden immer noch zu viele sein, meine Zeichen sind bald versiegt, ich werde die letzten Blätter wohl nicht alle brauchen. Sie werden glücklich bleiben, jungfräulich, verschont von meinen schwarzen Zeichen, die sie für immer zu einem Teil von mir machen würden, So sind sie frei, zu gehen, wohin sie wollen. Frei für andere Geschichten. Frei für bessere Geschichten.
Die Sonne ist untergegangen.
Ich gönne meinem Bleistift seine verdiente Pause, kauere mich in eine einsame Ecke, versuche, mit den Wänden eins zu werden, versuche, mich zwischen ihren Fuge vor dem fernen Wind zu verstecken. Doch er findet mich, streicht mit seiner unbändigen Wut über meine nackte Haut, bereit, meinen letzten Willen in sich aufzunehmen und weiterzutragen, weiter bis zurück in seine Heimat, um mein Menschsein dort zu verstreuen, um Menschen, die ihn dort erhören mögen, seine Geschichte zu erzählen. Seine Geschichte, wie er mir Nacht für Nacht ein kleines bisschen Menschsein aus der nackten Haut entrissen hat, nur um mich am Ende ganz und gar zu besitzen. Mich und meine vergilbten Blätter.
Er wird mich besiegen, das ist uns beiden klar.
Doch nicht heute, nicht in dieser Nacht. Ich bin noch nicht fertig, noch habe ich mehr Blätter, als ich brauche, noch habe ich meinen abgekauten Bleistift, den ich ganz fest an mich presse, um ihn nicht auch an den fernen Wind zu verlieren. Um nicht auch noch meinen letzten Schatz zu verlieren, auch wenn er soviel kleiner ist als du...
Morgen werde ich nicht aufwachen, weil ich nicht geschlafen habe. Ich werde warten, dass die Sonne ihren blassen Schimmer durch das eingeschlagene Fenster wirft, und ich werde dem Schimmer den ganzen Tag folgen, werde den ganzen Tag meine schwarzen Zeichen auf die letzten Blätter aufdrücken, mit blauen Fingern den abgekauten Bleistift mit dem vergilbten Papier vereinen.
Wahrscheinlich werde ich morgen fertig sein, morgen Abend, wenn die Sonne ihren Schimmer wieder zu sich holt.
Dann werde ich nicht mehr die Kraft haben, um in die Ecke zu kriechen. Ich werde mich dem fernen Wind schutzlos ausliefern, wir wissen beide, das er schon lange gewonnen hat. Er wird mir meinen letzten Willen aus den Gliedern ziehen, mein letztes Stück Menschsein, meine vergilbten Blätter, alles wird er nehmen und in seiner Heimat verstreuen, irgendwo im fernen Ural, irgendwo in der ewigen Tundra.
Du wirst aufwachen und dir denken: Der Wind hat gedreht.
Er zieht zurück in den Osten, dahin, wo er einst herkam.
Du wirst dich auf den Balkon stellen, den milden Westwind auf deinem Gesicht genießen.
Du wirst die vergilbten Blätter im Wind tanzen sehen.
Und dann wirst du verstehen.