Was ist neu

Der Wind hat gedreht

Mitglied
Beitritt
05.11.2012
Beiträge
12

Der Wind hat gedreht

Der Wind hat gedreht. Er kommt wieder von Osten, trägt die fernen Winde des Urals an meine Ohren, möchte mir seine einsamen Geschichten erzählen, doch ich verstehe sie nicht. Der Wind wird rauer, die Nacht eine knirschend kalte, soviel ist sicher.
Ob sie jeder überleben wird hingegen nicht. Ob ich sie erleben werde hingegen nicht.

Durch die eingeschlagenen Fenster fallen die letzten schwachen Strahlen der Dezembersonne und ich folge dem blassen Lichtkegel, folge ihm den ganzen Tag, ziehe mit ihm von Stunde zu Stunde, bin meine Eigene Sonnenuhr. Nur noch wenige Minuten habe ich Zeit, um alles festzuhalten, auf meine vergilbten Blätter, mit meinem abgenagten Bleistift, notdürftig mit einer Scherbe angespitzt. Wie viele Blätter ich gefüllt habe, habe ich vergessen. Vielleicht habe ich sie nie gezählt, nie gewusst, wie viele es jemals waren, nie gewusst, wie viele ich schon verloren habe an den fernen Wind des Urals. Wollte er mir meine Geschichte stehlen, weil ich seine nicht annehmen wollte?
Doch, ich habe die Blätter gezählt, früher, als du...
Früher, als die Blätter noch schneeweiß waren, als die Fenster noch verglast waren, als der ferne Wind sich andere Ohren suchten musste für seine Geschichten aus den Tiefen der Tundra, da habe ich sie wohl gezählt. Dann muss ich es vergessen haben. Wie so vieles.
Doch was ich nicht vergessen habe, das liegt verstreut auf vergilbtem Papier zwischen den eingeschlagenen Fenstern und den tapetenlosen Wänden, von denen sich der Putz schon lange geschält hat.

Es sind viele Blätter, denen ich mit meinem abgekauten Bleistift meine Zeichen aufgedrückt habe, Strich um Strich, die Zeichen meines Lebens. Ich versuche mich zu erinnern, an alles zu erinnern, was jemals war, mich daran zu erinnern, wie ich einst war. Ich versuche, zu verstehen, warum, und habe doch so vieles vergessen, so vieles verloren.
Der letzte macht die Lichter aus, sagen sie. Und du hast dir das zu Herzen genommen und die Kerzen alle gelöscht, die Vorhänge zugezogen, die Lichter ausgemacht, die Tür verschlossen, ohne dich umzusehen. Du hast die Bewegungen tausendfach in deinem Kopf durchgespielt, bist jeden Tag in deinen Träumen durch die Zimmer gegangen, hast die Vorhänge zugezogen und dabei nur das dumpfe Klacken deiner Absätze zurückgelassen. Damals, vor so langer Zeit.
Nur noch wenige Blätter sind leer geblieben, weniger, als ich blaue Finger habe. Doch das macht nichts. Es werden immer noch zu viele sein, meine Zeichen sind bald versiegt, ich werde die letzten Blätter wohl nicht alle brauchen. Sie werden glücklich bleiben, jungfräulich, verschont von meinen schwarzen Zeichen, die sie für immer zu einem Teil von mir machen würden, So sind sie frei, zu gehen, wohin sie wollen. Frei für andere Geschichten. Frei für bessere Geschichten.

Die Sonne ist untergegangen.
Ich gönne meinem Bleistift seine verdiente Pause, kauere mich in eine einsame Ecke, versuche, mit den Wänden eins zu werden, versuche, mich zwischen ihren Fuge vor dem fernen Wind zu verstecken. Doch er findet mich, streicht mit seiner unbändigen Wut über meine nackte Haut, bereit, meinen letzten Willen in sich aufzunehmen und weiterzutragen, weiter bis zurück in seine Heimat, um mein Menschsein dort zu verstreuen, um Menschen, die ihn dort erhören mögen, seine Geschichte zu erzählen. Seine Geschichte, wie er mir Nacht für Nacht ein kleines bisschen Menschsein aus der nackten Haut entrissen hat, nur um mich am Ende ganz und gar zu besitzen. Mich und meine vergilbten Blätter.
Er wird mich besiegen, das ist uns beiden klar.
Doch nicht heute, nicht in dieser Nacht. Ich bin noch nicht fertig, noch habe ich mehr Blätter, als ich brauche, noch habe ich meinen abgekauten Bleistift, den ich ganz fest an mich presse, um ihn nicht auch an den fernen Wind zu verlieren. Um nicht auch noch meinen letzten Schatz zu verlieren, auch wenn er soviel kleiner ist als du...

Morgen werde ich nicht aufwachen, weil ich nicht geschlafen habe. Ich werde warten, dass die Sonne ihren blassen Schimmer durch das eingeschlagene Fenster wirft, und ich werde dem Schimmer den ganzen Tag folgen, werde den ganzen Tag meine schwarzen Zeichen auf die letzten Blätter aufdrücken, mit blauen Fingern den abgekauten Bleistift mit dem vergilbten Papier vereinen.
Wahrscheinlich werde ich morgen fertig sein, morgen Abend, wenn die Sonne ihren Schimmer wieder zu sich holt.
Dann werde ich nicht mehr die Kraft haben, um in die Ecke zu kriechen. Ich werde mich dem fernen Wind schutzlos ausliefern, wir wissen beide, das er schon lange gewonnen hat. Er wird mir meinen letzten Willen aus den Gliedern ziehen, mein letztes Stück Menschsein, meine vergilbten Blätter, alles wird er nehmen und in seiner Heimat verstreuen, irgendwo im fernen Ural, irgendwo in der ewigen Tundra.

Du wirst aufwachen und dir denken: Der Wind hat gedreht.
Er zieht zurück in den Osten, dahin, wo er einst herkam.
Du wirst dich auf den Balkon stellen, den milden Westwind auf deinem Gesicht genießen.
Du wirst die vergilbten Blätter im Wind tanzen sehen.
Und dann wirst du verstehen.

 

Hey immanuelrouven,

... folge ihm den ganzen Tag, ziehe mit ihm von Stunde zu Stunde, bin meine Eigene Sonnenuhr.

eigene

Nur noch wenige Minuten habe ich Zeit, um alles festzuhalten, auf meine vergilbten Blätter,

meinen

Wie viele Blätter ich gefüllt habe, habe ich vergessen. Vielleicht habe ich sie nie gezählt,

das ist sprachlich wenig kreativ ;)

Doch, ich habe die Blätter gezählt, früher, als duLEERZEICHEN...

Früher, als die Blätter noch schneeweiß (waren), als die Fenster noch verglast waren, als der ferne Wind sich andere Ohren suchten musste für seine Geschichten aus den Tiefen der Tundra, da habe ich sie wohl gezählt. Dann muss ich es vergessen haben. Wie so vieles.
Doch was ich nicht vergessen habe, ...

Nee, das klingt wirklich nicht poetisch, das klingt ... ich weiß auch nicht. Und ich habe das Gefühl, der Text will vor allem über das poetische Moment beim Leser punkten, weil, er erzählt ja an sich nichts, außer, dass noch wer schnell seine Geschichte aufschreiben muss, bevor er stirbt. Das die vielen Wiederholungen von Dir als Stilmittel gedacht sind, glaub ich Dir gern, aber doch nicht so Wörter wie habe - das ist doch kein starkes Wort, was Stil hat ;).

Ich versuche mich zu erinnern, an alles zu erinnern, was jemals war, mich daran zu erinnern, wie ich einst war. Ich versuche, zu verstehen, warum, und habe doch so vieles vergessen, so vieles verloren.

Tut mir leid. Also bei mir funktioniert auch das erinnern nicht als Stilmittel. Ich denk nur, ja, weiß ich doch - erinnern ist grad das Wort der Stunde. Also, bei mir kommt die Wirkung, die Du erreichen wolltest, nicht an, sondern verkehrt sich ins Gegenteil. Ich rolle mit den Augen und denke, ja, so wichtig ist das jetzt auch nicht, dass man daraus eine Endlosschleife machen muss.
Und ich glaube nicht, dass er viel vergessen hat. Er schreibt ja, dass er schreiben muss, um ja nichts zu vergessen, dass der Winde seine Geschichte nimmt, und sie fortträgt von ihm. Also, wenn der Wind ihm seine Geschichte fortnehmen kann, muss er sie doch zuvor erzählt haben. Ich komme hier nicht hinterher.

Ja, und so weiter. Die Geschichte, um die es im Hintergrund geht, wird nicht erzählt, vielmehr wird erzählt, das jmd. eine Geschichte erzählt und ich frag mich, was soll ich jetzt mit dieser Erkenntnis anfangen? Noch schnell fertig machen, bis ich sterbe. Und wenn ich dann erst tot bin, wird sie verstehen. Ja was denn? Das er tot ist? Soll sie sich schuldig fühlen? Und wenn sie sich schuldig auf ihrem Balkon fühlen soll, was habe ich als Leser davon, der nicht weiß, worin ihre Schuld besteht.

Also, ich finde das schwierig. Das ist so ein Text, der wenig erzählt und dabei so selbstmitleidig wirkt. Ich armer Kauz sitze hier und friere und schreibe alles auf. Nur noch schnell fertig werden, bevor ich sterbe. Ich weiß nicht, mir ist das zu wenig. Und um es als kleinen Moment voller Poesie zu nehmen, ist es mir sprachlich nicht sattelfest genug. Tut mir leid, Dir da jetzt nicht so viel Gutes sagen zu können, ich bin sicher auch nicht der optimale Leser für den Text, ich mag so wehleidige Erzählerstimmen nicht besonders. Ganz allgemein jetzt. Aber es gibt Leute, die lassen sich von denen gern einlullen, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber über die "habe" würde ich trotzdem nachdenken ;)

Soviel von mir. Lass dir den Spaß nicht verderben.
Beste Grüße, Fliege

 

hallo,

ich muss mich hier weitestgehend Fliege anschließend. Das ist mir auch eine Spur zu erzwungen dramatisch.
Gerade bei so kurzen Texte, da muss man höllisch aufpassen mit der Wiederholung von Worten/ Wortgruppen. Das kann dann schnell nervig werden. Lass dir doch mal von deinem Schreibprogramm ankringeln wir häufig du bspw die vergilbten Blätter und den angekauten Bleistift auf den Leser loslässt. Das ist wirklich too much. Würde meinen mindestens die Hälfte muss raus. Man hat es auch so kapiert. Mehr allerdings dann auch nicht. Die eigentlich Geschichte sparst du aus und zwischen den Zeilen lässt du relativ wenig "klare" Spielraum. An sich ist das Toll, wenn da Leerstellen zu besetzen sind, aber man muss das auch spannend hinbekommen, dass man die gerne selbst füllen will. Am besten so, dass sich mehrere Wege aufdrängen und man sich letztlich für einen entscheiden muss. So aber ... naja, das gähnt so in bisschen ins Nichts.
Dabei will ich dem Text nicht absprechen, dass er schon einen gewissen Reiz hat. Zumindest zu Beginn, mich hat das durchaus angesprochen. Aber dann verlierst du mich, spätestens ab der Hälfte, weil es sich nur um sich selbst bewegt. Trudelnd.

Verkneifen kann ich mir auch nicht: naja, mit diesem Anspruch bist du ja bisher sehr einseitig umgegangen:

Ich werde mich gerne aktiv einbringen, sowohl als "Einsteller" als auch als "Kritiker".
;)

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Manuel,

ein Prosagedicht(?!) – ein Erzähler melancholisiert in maroden Verhältnissen übers Schreiben, das dauerhafter wäre als der (Ost-)Wind (= winters frostig kalt und sommers brüllend heiß), mag der die Blätter auch wie das Laub mit sich nehmen – das Prosagedicht verrät, wie auch schon der Text zuvor, dass Du noch sehr jung bist und den Weg noch suchst und - da bin ich mir sicher - auch finden wirst.

Gegen Ende des scheinbaren Monologs führstu ein Du ein und zeigst auf, wie das Zwiegespräch zu seinem Namen kommt: das Gespräch mit dem Anderen, der wir allemal selber sind. Das Ich erzählt dem imaginären Du, oder zwiespältiger noch bei Rimbaud, der ja aufhörte zu schreiben, wenn andere noch gar nicht begonnen haben,
„je est un autre“, nicht ‚ich bin ein anderer’ (je suis un autre), sondern „ich ist ein anderer“.

Paar Anmerkungen (die von meinen Vorgängern schon angesprochen wurden z. T.:

Einmal zu Groß-/Kleinschreibung

…, ziehe mit ihm von Stunde zu Stunde, bin meine Eigene Sonnenuhr.
„eigen(e)“ üblicherweise klein, es wäre denn, es bildete mit der Sonnenuhr einen festen Begriff (quasi einen Eigen-namen), mir will es aber als Attribut zur Uhr erscheinen …

Ein andermal schnappt die Fälle-Falle zu - oder Flüchtigkeit?

… alles festzuhalten, auf meine vergilbten Blätter, …
Hier scheint mir am Personalpronomen ein Endungs-n abhandengekommen zu sein …

Hier nimmstu so viel als Konjunktion zusammen, wiewohl’s sonst korrekt verwendet wird (gleich kommt noch ’ne Variante, wo’s gelingt)

..., auch wenn er so[…]viel kleiner ist als du[…]...
Die sechs Punkte hintereinander bedeuten zudem für die drei in Klammern, dass hier eine Leerstelle zu sein hätte, da Auslassungspunkt ohne Leerstelle zwischen letztem Wort und Punkten fehlende Buchstaben eben des vorhergehenden Wortes anzeigen, wie etwa in verd… oder schei…

Hier stößt mir die Differenz nah – fern auf:

… , wie viele ich schon verloren habe an den fernen Wind des Urals.
Zwar mag der Wind eine weite Reise hinter sich haben, aber wenn er bei Dir ist, ist er doch eher nahe statt Tausender km von Dir entfernt – oder?
Vielleicht wäre statt des „fernen“ der „fremde“ Wind besser.

So viel oder wenig für heute vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wünscht

 

Hallo immanuelrouven,

Kritik gibt es oben ja schon genug, irgendwie fehlt halt etwas, was in Erinnerung bleiben soll.
Aber mir ist auch viel schönes aufgefallen.
Erstmal möchte ich nicht allen Kritikpunkten zustimmen,

Ich versuche mich zu erinnern, an alles zu erinnern, was jemals war, mich daran zu erinnern, wie ich einst war. Ich versuche, zu verstehen, warum, und habe doch so vieles vergessen, so vieles verloren.

das gefällt mir zum Beispiel grds. ganz gut. Als Änderung würde ich nur vorschlagen, dass du das gleiche Stilmittel nicht zwei-/dreimal direkt hintereinander benutzt.
Zum Beispiel:

Ich versuche mich zu erinnern, an alles [zu erinnern], was jemals war, mich [daran] zu erinnern, wie ich einst war. Ich versuche, zu verstehen[, warum], und habe doch so vieles vergessen, so vieles verloren.

Manchmal ist weniger mehr.

An manchen Stellen beschwört dein Text sehr gut die Stimmung und das Bild herauf, das du erreichen möchtest:

dabei nur das dumpfe Klacken deiner Absätze zurückgelassen. Damals, vor so langer Zeit.
Nur noch wenige Blätter sind leer geblieben, weniger, als ich blaue Finger habe. Doch das macht nichts. Es werden immer noch zu viele sein, meine Zeichen sind bald versiegt, ich werde die letzten Blätter wohl nicht alle brauchen. Sie werden glücklich bleiben, jungfräulich, verschont von meinen schwarzen Zeichen, die sie für immer zu einem Teil von mir machen

Einzig die 'blauen' Finger und die 'jungfräulichen' Blätter gefallen mir nicht so ganz, stören irgendwie das Bild, aber ansonsten gefällt mir das wirklich gut.


Was ich dir also mitgeben möchte ist, benutze mehr von der bildhaften Kraft, die dein Text ausstrahlt, dafür aber weniger Wiederholungen. Wiederholungen sind gut in der Rhetorik, wenn du jemandem, der dir eh nicht zuhört, eine Nachricht mitteilen möchtest. Aber du kannst den Leser doch an deinen Text fesseln, du brauchst also keine billigen Tricks. Hab etwas Vertrauen in deine Worte, sie kommen an - auch schon beim ersten Mal. Setz die stilistischen Wiederholungen gezielter ein, verstreu sie nicht wie Korn, dafür sind sie zu wertvoll.


Gruss
Niklas

 

danke für die kritik. hab gerade erst bemerkt, dass ich eine ganze alte und nicht korrigierte und auch noch längere version des textes gepostet habe.. wer lesen kan - und dokumente richtig benennt -ist klar im vorteil.
trotzdem danke!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom