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Der Wind, der Wind
Was ist Leben?
Sie ging auf dem ausgefahrenen Weg durch die Felder. Sie ging während dieser Tage oft durch die Felder. Sie hatte jetzt genug Zeit dafür. Es war heiß, obwohl die Sonne leicht verschleiert war. Ab und zu kam ein sanfter Luftzug. Sie genoss jeden, sie vertrug die Hitze nicht mehr so gut. Auf der Höhe des Hügels wurden die Windstöße stärker. Sie kehrte ihnen ihr Gesicht zu. Sie kamen auch heute wie meistens aus Westen. Sie näherte sich zwei Eichen am Wegrand. Warum standen sie da? Waren sie extra angepflanzt worden? Sie waren noch nicht alt, vielleicht vier und fünf Meter hoch. Als sie bei ihnen ankam, gab es ein Rauschen und Brausen in den Blättern. Sie wendete sich den Bäumen voll zu. Sie öffnete ihre Arme und wiegte sich sanft hin und her. So ein Genuss. Endlich hatte sie Zeit für so etwas.
Die Sonne prallte mit aller Kraft auf die Erde, keine gute Zeit, um durch die Felder zu spazieren. Hier im Wald war es besser. Dennoch war sie dankbar für jede noch so schwache Brise, die sie auf ihrem Weg begleitete. Auf ihren Spaziergängen war es in diesem Sommer oft windig. Sie wunderte sich. Hatte sie früher den Wind nicht bemerkt? War sie jetzt, wo sie nicht mehr so viel Aufmerksamkeit auf ihre Gedanken richten musste, sensibler geworden für die Vorgänge in der Natur? Oder war es in diesem Sommer stürmischer als früher?
Sie ging die Straße entlang. In der Ferne ragte eine Reihe junger, schlanker Buchen in den Himmel. Ein Lastwagen fuhr gerade an ihnen vorbei. Sein Fahrtwind setzte ihre Wipfel in kurze heftige Bewegungen, dann standen sie wieder in majestätischer Stille. Als sie die Buchen erreichte, fingen sie an zu erbeben, immer genau dort, wo sie gerade ging. Merkwürdig. Sie wunderte sich, wo plötzlich so viel Luftströmung herkam. Mit der Bewegung der Blättern begann auch sie sachte hin und her zu wippen. Es fühlte sich so lebendig an. Und sie liebte Buchen.
Das Mittagessen war fertig. Sie setzte sich an ihren Tisch. Ihr Blick fiel auf den wilden Apfelbaum vor ihrem Fenster. Ein Windstoß setzte die Blätter des Baumes in heftige Vibrationen. Sie schmunzelte. Dann stutzte sie. Das war nicht das erste Mal. Ja, es stimmte, es wehte in den Blättern und Ästen häufig heftig zu Beginn ihrer Mahlzeiten. Die Bewegungen wurden plötzlich intensiver, sobald sie länger in das Blickfeld des Baumes geriet, dann ließen sie wieder nach. War so etwas möglich? Es lohnte sich, das zu beobachten.
Der Herbst hatte seine Ernte gehalten, die meisten Bäume ragten nackt in den Himmel. Sie fuhr mit dem Fahrrad auf der Landstraße. Obwohl die Straße eben war, musste sie tüchtig in die Pedale treten, sie hatte Gegenwind. Doch hier, diese Eiche, fast noch ein Gebüsch, die hatte noch all ihre Blätter. Als sie vorbeifuhr wurde sie heftig hin- und hergeschüttelt. Wie sonst auch. Sie wusste es schon. Hier musste sie oft den Lenker fester anpacken, denn sobald sie kam, nahm das Rauschen in den Blättern zu. Nur wenn es ganz windstill war, blieb es aus. Sie hatte es lange nicht wahr haben wollen, doch inzwischen glaubte sie nicht mehr an Zufall.
Sie ging wieder auf dem ausgefahrenen Weg durch die Felder. Es war kalt geworden, sie hatte sich warm eingepackt, denn der Wind war eisig. Die beiden Eichen auf der Höhe der Hügels hatten nur die oberen Blätter abgeworfen. Als sie die erste Eiche erreichte, fing diese an zu rauschen. Sie blieb stehen, wendete sich ihr zu, ließ ihren Oberkörper im Rhythmus der Blättern mittanzen. Erst als es sich beruhigte, ging sie zur zweiten Eiche. Diese war größer. Sie hatte auch mehr Blätter behalten. Das Rauschen in ihr war stärker. Es hielt auch länger an. Was immer hier wohnte, es hatte offensichtlich noch mehr Kraft als das auf der ersten Eiche. Sie schwankte mit, bis es nachließ, dann nahm sie Abschied. Sie wusste, sie würde bald wieder kommen. Sie freute sich, dass sie Freunde gefunden hatte, so viele Freunde...