Der Wille zum Leben
Der Wille zum Leben
Sie wird sterben … 14 Jahre später…
Köln im Jahre 66., Südstadt. Wir spielten im Hinterhof, Renate und ich, spielten irgendetwas.
Der Hinterhof war ein Rechtreck und maß ungefähr der Länge nach 15 Schritte und 7 in der Breite, begrenzt von einer mannshohen Mauer und dem angrenzenden Flachbau, in dem Renates vielköpfige Familie hauste – drei Halbschwestern, ihre Mutter und Stiefvater-; Das 4 geschossige Wohnhaus beschattete den Hinterhof. Das zweite Stockwerk war von meiner Familie bewohnt. Hinter der Mauer befand sich ein zerbombtes Haus: ein Skelett aus Stein, übriggeblieben vom zweiten Weltkrieg, dass der architektonische Rausch jener Jahre noch nicht erfasst hatte.
Das goldrot der Abendsonne ließ die Ruine erglühen – es war wie Wasser, das brennende Wunden kühlt.
Noch war das Treibsanden des Willens zum Leben im vollendeten Nihilismus nicht in unsere innere Wirklichkeit eingedrungen. Fern war uns noch, das Kalt-Rationale, Seelenlos-Psychologische, die permanente Entwertung von allen und allem; Fern war noch die Nullzone…
Sie trug ein geblümtes Kleidchen an jenem Junotag, so bunt fröhlich, wie ihr Lachen war. Und wenn ein Sonnstrahl auf ihr schulterlanges, dunkel-blondes Haar fiel, leuchtete es mondfarbend.
… Der Mond …
Damals war der Mond für uns ein lustiges Gesicht am gestirnten Nachthimmel, dessen Licht die Gleise auf dem Bahndamm, der sich hinter dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangstreckte, reflektierte, und nicht bloß ein von kosmischen Kräften geballter Staub. Es war ein lebendiger Mond …
Schattenlose Seelen spielten im Sommer 66. auf dem Hinterhof, jenseits von Glück und Unglück, einfach unbeschwert, den sich hoffnungslos aneinanderreihenden Augenblicken hingeben. Wir vermochten nicht zu vergleichen, zwischen dem was ist und uns umgab, und dem was sein sollte und das Abwesend war. Das Unglück beginnt mit dem Vergleichen…das feststellen eines Unterschieds, der den Unterschied ausmacht.
Renate roch immer wie eine erdige Gruft, oder wie der Geruch, den ein fauliger Baumstumpf ausströmt, oder wie totes Gewässer … Das kam von den feuchten Wänden und Schimmelbefall in dem Flachbau. Der Geruch drang durch die Kleidung in die Poren Haut. Moschus ist mir Renates Geruch noch heute…
Die Hölle brach los…
Später werde ich wissen, dass das Grauen immer zur jeder Zeit und überall lauert.
Die Hölle brach los… Und der goldrote Abendhimmel schmunzelte wissend…
Die Ratte stieß aus einer dunklen Mauerecke hervor, sprang an dem Mädchen mit geblümtem Kleidchen hoch, und verbiss sich in ihrem schmalen Oberschenkel. Renate schrie, ich schrie. Ihr gellender Schrei erschütterte die Südstadt, die alten Mauer und Häuser barsten vor Entsetzen, die Straßen bebten vor Angst, die Gleise auf dem Bahndamm kreischten und die Züge entgleisten. Die Raumzeit zitterte…
Renate schrie, ich schrie. Schreien war alles was ich tat.
Doch das nacktschwänzige Elendtier wollte das Mädchen nicht freigeben. Stoisch dem Willen zum Leben ergeben, hing die Ratte an ihrem Fleisch und verbiss sich auch in unsere Leibseelen.
Renates Stiefvater kam angestürmt und brüllte:» Was soll das Geschrei? Kann man denn nicht seine Ruhe haben? «
Ein grobschlächtiger großer Mann in einem von alten dunklen Schweißflecken gesprenkelten, gerippten Unterhemd glotzte uns verständnislos und zugleich wutentbrannt an. Da sah er es… und handelte sofort. Er brach der Ratte mit seinen großflächigen Händen das Genick und warf das tote Rattenvieh im hohen Bogen über die Mauer. » Jetzt ist aber Ruhe! «
Renate starb 14 Jahre nachdem Ereignis, 21 Jahre jung. Sie starb an Blutungen nach der Geburt ihres ersten Kindes. Ein medizinscher Kunstfehler hieß es damals. Ich aber weiß, dass es die Ratte war…
Pour Kruppe zum Vierzigsten.