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Der Wert des Lebens
Die schrille Klingel des Weckers riss Hans aus dem Schlaf, er machte sich nicht die Mühe, ihn auszuschalten. Langsam stand er auf, schlurfte müde ins Bad und betrachtete sein Spiegelbild. Das schon lichte Haar stand wirr vom Kopf, die Augen waren verquollen.
Hans schwappte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um einigermaßen wach zu werden. Dann ging er in die Küche. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle, leere Pizzaschachteln lagen umher. Irgendwo dazwischen stand eine halbleere Wodkaflasche.
Hans nahm einen kräftigen Schluck, dann zog er sich an. Er musste sich beeilen. Um neun hatte er einen Termin beim Chef, und der legte größten Wert auf Pünktlichkeit.
Auf dem Weg lutschte Hans ein Pfefferminzbonbon, damit niemand seine Alkoholfahne bemerkte. Er war gespannt, was der Direktor diesmal wieder an seiner Arbeit
auszusetzen hatte.
Hans betrat das Lehrerzimmer. Nicht nur Direktor Kleiber, auch sein Freund und Kollege Werner Albrecht war anwesend.
"Setzen Sie sich, Herr Pachulke!"
Hans fuhr zusammen, so formell und ohne Spur von Freundlichkeit war er vom Chef noch nie angesprochen worden. Er begann sich unbehaglich zu fühlen. Er sah auf seinen Freund, doch der guckte auch nicht freundlicher.
"Herr Pachulke, Sie wissen, dass ich nicht lange um eine Sache herumrede. Also machen wir es kurz. Sie wurden in den letzten Wochen mehrmals verwarnt. Sie sind im angetrunkenen Zustand in der Schule erschienen, und haben in dieser Verfassung ihre Schüler unterrichtet. Ist Ihnen klar, was Sie mit so einem Verhalten anrichten?"
"Es war nur ein Schluck zum Frühstück!" warf Hans ein.
"Reden sie keinen Blödsinn, von einem Schluck schwankt man nicht! Außerdem trinken Sie nicht nur zum Frühstück sondern auch im Unterricht. Haben Sie angenommen, Ihre Schüler kriegen das nicht mit, wenn Sie während der Klassenarbeit einen Flachmann aus der Tasche ziehen und sich einen genehmigen?"
Direktor Kleiber war wütend, so wütend, dass er mit der Faust auf den Tisch schlug und der Aktenordner vor ihm einen Hopser machte. Dann beherrschte Schweigen den Raum. Herr Kleiber holte tief Luft, sagte nur noch: "Sie waren ein hervorragender Lehrer, bis Sie
mit der verdammten Sauferei anfingen. Die Schüler hatten Vertrauen zu Ihnen, der Unterricht machte ihnen Spaß. Wir als Lehrer haben unseren Schülern Vorbild zu sein. Sie haben diese Vorbildwirkung allerdings nicht mehr, Herr Kollege. Selbst jetzt sind Sie alkoholisiert, darüber täuscht auch der Pfefferminzgeruch nicht hinweg. Ab sofort sind Sie vom Dienst suspendiert, eine entgültige Entscheidung treffen wir später. Außerdem erteile ich Ihnen Hausverbot, die Schüler werden Sie nicht noch einmal durch die Schule schwanken sehen. Packen Sie Ihre Sachen, Kollege Albrecht wird Ihnen dabei behilflich sein. Gehen Sie zum Arzt und machen Sie eine Entziehung, noch ist es nicht zu spät. Werden Sie wieder der Mensch, der Sie waren, vielleicht können Sie dann auch wieder Lehrer sein." Er stand auf und ging hinaus.
Werner setzte sich neben seinen Freund und sagte: "Tut mir leid, doch Kleiber hat recht, so geht´s mit dir nicht weiter. Du säufst dich um deinen Verstand. Mach die Entziehung und werd´ wieder ein Mensch. Mann, was ist bloß los mit dir, hörst du mir überhaupt zu?"
"Ja, ich höre dir zu und du weißt ganz genau, was mit mir los ist!" brüllte Hans unbeherrscht.
"Rita ist mit einem anderen Kerl abgehauen, dann die Scheidung. Ich hocke nur noch allein in meiner Bude, korrigiere Klassenarbeiten und starre die Wände an. Das ist doch kein Leben."
"Nun, es ist sicher schwer, von heute auf morgen allein zu sein. Aber das ist noch lange kein Grund, sich vollaufen zu lassen. Du zerfließt in Selbstmitleid, wegen einer Frau die es nicht Wert ist. Rita ist nun mal ein flatterhaftes Wesen, das wusstest du von Anfang an, trotzdem hast du sie geheiratet. Also jammere nicht!"
Hans stand auf, ging zur Tür und sagte: "Rutscht mir doch alle den Buckel runter. Ich hole meine Sachen. Bemüh dich nicht, ich mach das allein. Und dann will ich keinen von euch mehr sehen, dich auch nicht." Er ging hinaus, die Tür knallte ins Schloss.
Wieder zu Hause, schmiss Hans den Karton mit seinen Sachen in die Ecke, ging in die Küche und trank den restlichen Wodka in einem Zug aus. Danach kaufte er im Laden um die Ecke einen Sechserpack Bier, zwei Flaschen Weinbrand und ein Brot.
Zwei Wochen nach seinem Rausschmiss passierte das Unglück. Er hatte sich betrunken ins Auto gesetzt und war ziellos irgendwohin gefahren. In einer Kurve verlor er die Kontrolle über den Wagen und prallte gegen einen Baum. Was dann geschah, nahm er kaum war. Man brachte ihn ins Krankenhaus. Er hatte ein paar Prellungen und eine Platzwunde am Kopf. Sein Auto sah schlimmer aus, es war nur noch Schrott. Hans hatte dann ein langes Gespräch mit seinem Arzt. Der sagte ihm auf den Kopf zu, dass er Alkoholiker sei und sorgte dafür, dass er schnellstens zur Entziehungskur konnte.
Hans packte gerade seinen Koffer, als es klingelte. Werner stand vor der Tür.
"Was willst du?"
"Tag, mein Freund, ich hab von deinem Unfall gehört. Wie geht es dir?"
"Wie soll es schon gehen, komm rein."
"Du fährst weg?" fragte Werner nach einem Blick auf die halb gepackte Reisetasche.
"Klar, ich mach mir ein paar schöne Wochen in der Karibik, hab´ ja jetzt alle Zeit der Welt dazu."
"Lass den Blödsinn."
"Ich fahre zur Entziehung, auf ärztliche Anordnung, wolltet Ihr doch so."
"Du willst es nicht?"
"Wozu, wenn ich nach Hause komme, sitze ich wieder in meiner leeren Bude und der ganze Mist beginnt von vorn."
"Sag nicht so was, ich bin dein Freund. Ich will dir helfen, wieder auf die Füße zu kommen."
"Lass mich einfach in Ruhe, du solltest jetzt gehen."
"Wie du meinst, melde dich, wenn du willst. Alles Gute."
Seit drei Wochen war Hans in der Klinik. Sie lag mitten im Wald. Er hatte einen straffen Zeitplan einzuhalten, und nur widerwillig fügte er sich in die Ordnung des Hauses ein.Am ersten Tag musste er gleich zum Aufnahmegespräch. Es ging ihm auf die Nerven, am
liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Sogar Besuchsverbot hatte er für die ersten Wochen bekommen, nur telefonieren war ihm erlaubt. Das war das Einzige,
womit er keine Probleme hatte, wer sollte ihn schon besuchen wollen.
Fünfzehn Uhr, Hans musste zur Gruppentherapie. Er hasste diese Sitzungen. Alle saßen im Kreis und breiteten ihren Seelenmüll voreinander aus. Man sprach über Behandlungsergebnisse und beklatschte den kleinsten Erfolg. Zum Glück musste man nichts sagen, und so war Hans der einzige Teilnehmer, der sich beharrlich in Schweigen hüllte. Auch außerhalb dieser Sitzungen legte er keinen Wert auf Gesellschaft.
Hans betrat gerade noch pünktlich den Gruppenraum. Das neue Gesicht entdeckte er sofort. Es gehörte einer jungen Frau mit schulterlangen braunem Haar. Sie lächelte, aber die Traurigkeit in ihrem Blick entging ihm nicht. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Irritiert stellte er fest, dass er sich nach langer Zeit wieder für einen anderen Menschen interessierte. Er war neugierig auf die Geschichte der Frau. Frau Hellmann, die Therapeutin kam herein, und die Sitzung begann. Die Gespräche liefen heute wie gewohnt. Die Neue sah die ganze Zeit auf ihre Hände, die sie krampfhaft zusammenhielt. Dann war sie an der Reihe und sie begann leise zu erzählen: "Ich heiße Sabine,
und ich bin Alkoholikerin. Wir waren fünf Jahre ver-heiratet, und hatten eine kleine Tochter.
Vor anderthalb Jahren holte mein Mann die Kleine mit dem Auto vom Kindergarten ab. Das machte ihr immer viel Spaß. Ein anderes Auto raste in unseren Wagen. Mein Mann war sofort tot, die Kleine starb auf dem Weg ins Krankenhaus."
Die junge Frau kämpfte mit ihren Tränen.
"Möchten Sie für heute aufhören?" fragte Frau Hellman fürsorglich.
"Nein, nein, es geht schon wieder. Als ich meine Familie beerdigt hatte, fiel ich in ein tiefes Loch, begann zu trinken. Ich bin Malerin, male auch für Theater die Bühnendekorationen.
Irgendwann blieben mir die Ideen aus, und es gab eine Zeit, da war ich nur noch betrunken. Eine Freundin half mir, obwohl ich es nicht wollte. Heute bin ich ihr dafür sehr dankbar. Ich war lange Zeit im Krankenhaus, dass Schlimmste habe ich überstanden. Ich
möchte bald wieder anfangen zu malen und das Erlebte in meinen Bildern verarbeiten."
Sabine schwieg. Hans hatte aufmerksam zugehört. Das Schicksal der jungen Frau berührte ihn, und er erkannte, wie entsetzlich stur er sich in letzter Zeit verhalten hatte.Mit einemmal war ihm klar, das er allein an seiner jetzigen Lage Schuld war. Die Mauer, die er um sich aufgebaut hatte, zerbröckelte und zum ersten Mal redete er sich in dieser Runde alles von der Seele. Am Abend führte er ein langes Telefon-gespräch mit seinem Freund Werner.
Die Zeit verging. Hans fühlte sich immer besser, das Leben bekam für ihn allmählich wieder einen Sinn. Er und Sabine verbrachten viel Zeit miteinander, sie redeten viel, sprachen über ihre Probleme und ihre Ängste. Und sie wollten ihr Leben gemeinsam in die Hand nehmen.
Hans und Sabine saßen im Cafe der Klinik, als ein Ehepaar an ihren Tisch trat.
"Verzeihung, sind die beiden Plätze noch frei?" fragte der Mann. Hans fuhr von seinem Stuhl hoch. "Werner!" rief er.
"Tag, Hans, siehst wieder gut aus."
"Ich fühle mich auch so. Mensch ist das schön, euch zu sehen. Setzt euch. Das ist übrigens Sabine, wir haben uns hier kennen gelernt. Sabine, das ist mein Freund
Werner und seine Frau Elke."
"Freut mich, Sie kennen zu lernen. Hans hat mir von Ihnen erzählt."
Sie tranken gemeinsam Kaffee, dann spazierten sie durch den Park. Die beiden Frauen gingen voraus. Sie mochten sich und unterhielten sich sehr angeregt.
Hans und Werner schlenderten hinterher. Hans druckste herum, dann sagte er: „Ich freue mich, dass ihr hier seid. Ich habe dir ja schon am Telefon gesagt, dass mir mein Verhalten euch gegenüber leid tut, besonders zu dir war ich ziemlich mies. Heute sehe ich alles mit
anderen Augen. Es geht mir wieder gut."
"Du musst dich nicht entschuldigen, du warst krank. Und Freunde lassen sich nicht im Stich. Ich habe übrigens immer mit deinem Arzt in Kontakt gestanden."
"Ach, dass wusste ich ja gar nicht."
Werner lachte und sagte: "Ich habe auch darum gebeten, dass du nichts erfährst, ich wollte es dir selber sagen, wenn du soweit bist." Er fügte hinzu: "Ich soll dich übrigens vom Chef grüßen."
"Bin ich gefeuert?"
"Nein, deine Suspendierung ist aufgehoben worden, vom Tag deiner Krankschreibung an. Deine Schüler warten auf dich. Natürlich wird man dich genau beobachten. Solltest du jemals wieder entgleisen, kriegst du keine Chance mehr."
"Das ist gut. Ich habe einen gehörigen Dämpfer be-kommen. Jetzt weiß ich wieder, wo es lang geht. Übrigens, ich habe mich in Sabine verliebt."
"Das freut mich für dich, liebt sie dich auch?"
"Ja, aber wir wollen es langsam angehen. Sie hat Mann und Kind bei einem Unfall verloren, deshalb ist sie hier gelandet. Langsam verarbeitet sie das Ganze ohne Alkohol. Ich helfe ihr dabei, doch sie braucht noch Zeit. Sie wird auch nächste Woche entlassen. Sie ist Malerin, macht Bühnenbilder, und sie will sich wieder in die Arbeit stürzen. Wir wohnen übrigens nicht weit voneinander entfernt, günstig, nicht wahr. Und wenn sie soweit ist, werde ich sie fragen, ob sie meine Frau werden möchte."
"Mann, ich wünsche euch alles Glück dieser Welt. Ich glaube, nein ich weiß, dass du es schaffen wirst. Endlich habe ich meinen alten Kumpel wieder. Wenn ihr zu Hause seit, kommt uns aber auch mal besuchen, schließlich möchten wir auch Sabine richtig kennen lernen. So wie es aussieht, verstehen sich die Frauen bereits bestens."
"Du hast Recht, komm gehen wir zu ihnen."
Hans hatte einen langen schwarzen Tunnel durchschritten, er stand endlich wieder im Licht.
© by Germona Barowsky