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Der Weltrekord

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22.03.2003
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Der Weltrekord

Es ist stickig in der Umkleidekabine. Schwaden von Fuß- und Achselschweiß haben sich zu einem undefinierbaren Vorhang vermischt. Die dicken Schwaden wabbern träge im Raum und erhalten durch das dauernde Tür auf- und zumachen nur wenig Bewegung..
Der Sportler sitzt vor seinem Spind und klopft seine Arme und Beine meditativ ab. Das letzte, was er an diesem Tag gebrauchen kann, ist ein Krampf. Monatelanges hartes Training hat seinen Körper gestählt. Er fühlt sich fit. Endlich wieder, seit Monaten das erste Mal wieder.
Nur seine Gedanken sind noch nicht im Stadion.
Die ersten Trainingsstunden sieht er vor sich, die ersten harten Übungen.
Heute will er es allen beweisen, daß er noch zu den besten Hammerwerfern gehört. Er will es allen Zweiflern beweisen. Und sich selbst. Er will kämpfen. Für den Sieg. Und für Sie.
Die Lotion tropft durch seine Finger auf die Bank. Er merkt es nicht, sieht nur sie. Iris.
Wie sie lächelt. So leicht, so lebhaft und liebevoll. Bestimmt und unbekümmert. Fast scheint sie aus dem Foto an seinem Spind zu schweben. Ihr Geruch; ihr zarter, duftiger Geruch liegt in seiner Nase.

"Du trainierst immer so hart. Mach mal Pause. Komm mit mir. Laß uns was erleben." Waren ihre Worte und sie zog ihn aus dem Trainingslager in die frische, herrliche Frühlingsluft. In die weite, freie Natur. Mit Vogelgesang, einem vergoldeten Himmel und ihrem im Wind wehenden Engelhaar. Ihr Haar, so weich und samtig, wie ihre Stimme.
Hand in Hand gingen sie.
Ihre Lippen. Ihre weichen, hauchzarten Lippen, durch die nie ein böses Wort kam.
Der zarte Druck ihrer Zähne.
Ihre heiße Zunge.
Stundenlang konnten sie spazieren gehen, einfach herum bummeln. Ihre Liebe war wie der Frühling. Wie ein nicht endend wollender Regenbogen.
Einmal waren sie auch im Ort. Bummelten durch die Einkaufsstraßen. Doch er sah nur sie. Hinter einem Dunstschleier wohl noch anderes: Auslagen, Verkäuferinnen, Autos. Doch in ihm, für ihn, war nur sie real. Nur sie existierte. Nur sie.
An einer Kreuzung standen damals Polizeiwagen, versperrten den Weg. Hektisch blinkende blaue Lichter auf den Autodächern. Zwischen den Wagen viele Polizisten. Davor Menschen, viele Menschen. Alle schauten in eine Richtung, in die Luft oder - er wußte nicht mehr, wohin. Die Polizisten waren so beschäftigt. Rannten hin und her, sprachen in Funkgeräte, stellten Sperren auf und wieder ab. Ließen mal Menschen durch und drängten andere wieder zurück. Iris wollte durch - und weg. Gerade dort durch, wo die Lichter blinkten. Über die Kreuzung. Sie haßte Ansammlungen. Überhaupt viele Menschen an einem Platz. Sie wurde dann immer so hektisch. Wie oft hatte er sie damit aufgezogen. Wie sie durch die Absperrung kamen - er hatte keine Ahnung, keine Erinnerung mehr daran. Aber was dann kam, sah er heute noch vor sich. Als sie über die Kreuzung drängten, sprang etwas aus einer Häuserzeile. Polizisten schreckten auf. Einige schrien oder winkten. "Stehenbleiben!" "Halt!" "Polizei!" Und es knallte. Ein ohrenbetäubender Knall. Ein kurzer, metallischer Donner. Und dann Totenstille. Und dann - ein schreiender Polizist. Er war genau ihm gegenüber gestanden. Er konnte ihm direkt in die Augen sehen. Die Waffe im Anschlag, mit federnden Knien. Und mit aufgerissenen Augen.
Iris. Iris, die vor ihm ging. Doch dann stand sie. Und zitterte. Machte eine spastische Bewegung, als ob ihr der Asphalt unter den Füßen weggezogen wurde und sie sich an ihrem Atem festhalten müßte. Er wollte sie halten, schützend in seine Arme ziehen, da sank sie vor seinen Augen zusammen.
Vorgebeugter Oberkörper, vorgestreckte Arme. Ein schwarzes, rauchendes Teil vor dem Bauch haltend. Blasses Gesicht. Und Augen. Große Augen. Junge, aufgerissene, große, kugelrunde, angstvolle Augen. Riesige, ewig wachsende, über die Augenbrauen sich ausdehnende Augen. Und darunter, inmitten des Kopfkreises ein verzahntes, schwarzes Loch, das lautlos Worte formte. Worte wie Beschwörungen. Beschwörende Bitten.
In seinen Armen, auf dem Asphalt lag sie. Entspannt, unendlich entspannt. Hingegossen. Hörte er sie seufzen? Hörte er überhaupt noch etwas, nach diesem Donnerschlag? Wärme spürte er. Ihre Wärme. Feuchte, klebrige Wärme, und wie sie ihm entglitt.

"Hans Schillhörn zum Wettkampfplatz. Der Wettkampf beginnt in fünf Minuten! Hans Schillhörn mit der Startnummer Vierunddreißig; zum Wettkampfplatz! Bitte!!"

Aus den Gedanken gerissen schlägt der Sportler den Spind zu, greift sich seinen Hammer und hastet aus dem Raum. Draußen im Tunnel, der die Umkleidekabinen mit der Arena verbindet, umgibt ihn eine unnatürliche Nacht, die von grellen Leuchtstoffröhren unterbrochen wird, die Löcher in die Dunkelheit reißen. Verschwitzte Sportler, Trainer und Funktionäre kommen ihm entgegen. Einige grüßen ihn, wünschen ihm Glück und klopfen ihm anerkennend auf die Schultern.
In der Arena angekommen, wird er von vielen künstlichen Sonnen geblendet. Langsam gewöhnen sich seine Augen wieder an die Helligkeit. Irrer, tosender Lärm begrüßt ihn. Zu Massen verschmolzene Menschen wiegen hin und her und bejubeln ihre Helden und beklatschen das Aus der anderen. Applaus und Sprechchöre vermischen sich zu einem gigantischen Chaos, in dem sich mächtige Lautsprecherdurchsagen einen Weg bahnen.
Am Wettkampfrand angekommen, dehnt und streckt er sich, vor Aufregung schwitzend. Endlich fällt sein Name. Ganz der Alte winkt er in alle Richtungen. Jubel begleitet ihn zum Platz. Die Hände mit Kreide bestäubt atmet er noch einmal durch und visiert die Wurfrichtung an. Sein Blick fällt auf die Richter an den Metermarkierungen. Für einen Moment sieht er liebliches Gesicht mit blondem Haar vor sich. Dann ist es weg. Er atmet tief durch und schwingt den Hammer. Mit Schwung dreht er sich mehrmals um die eigene Achse. Immer wenn er dabei sich zu dem Feld dreht, sieht er ein anderes Gesicht inmitten der Richter. Ganz deutlich. Hans erkennt ihn. In ihm dreht sich die Welt schneller als der Hammer. Deutlich sieht er ihn, deutlich vor sich. Den Polizisten, mit der vorgebeugten Haltung. Und den großen Augen. Diesen riesigen, schreckensgeweiteten Augen. Wieder fühlt er Iris, wie sie da liegt in seinen Armen. Fühlt ihre weiche Haut, hört ihren Seufzer. Und darüber diese Augen. Diese riesigen, alles zerstörenden Augen.
Entsetzen packt ihn. Nur mit äußerster Kraft kann er den Hammer loslassen.
Ein Raunen geht durch die Tribünen. Der Hammer fliegt hoch. Fliegt weit. Sehr weit.
Gebannt starrt Hans dem Hammer hinter her. Dann fällt sein Blick wieder auf die Augen, die ihn entsetzt ansehen. Bis der Hammer sie zerschmettert.

 
Zuletzt bearbeitet:

Ein Hammerwerfer versucht, den Verlust seiner Freundin über seine Sportart zu bewältigen und schafft es am Ende sogar wieder zurück in die Weltspitze. Schlußendlich zerschmettert der Hammer, der über die Weltrekordmarke fliegt, indirekt die Augen des Polizisten, die er immer wieder vor sich sieht.

Nettes Konzept, hat mir gefallen.

 

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