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Der Weltenwanderer
Die Nacht war kalt. Dicke Nebelschwaden hatten sich über das Weideland gelegt und erschwerten die Sicht für einen Mann, der gerade über das feuchte Gras schlenderte. Nachdem er einige Schritte gegangen war, verspürte er eine Präsenz, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Irgendetwas beobachtete ihn.
Nach einer Weile vernahm der Mann, der den Namen Magnus trug, eine Stimme, die nicht mehr war als ein Flüstern im Wind: „Kannst du es sehen Mensch?“
Er beschleunigte seine Schritte, während das Unbekannte weitersprach, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Kannst du ihn hören,
Den stummen Schrei,
Den mein Herz nicht tragen kann?
Gehe Mensch, gehe geschwind!
Die Gezeiten werden’s zeigen!
Frohlockt das Herz nicht, ob der Zeit die rinnt,
Ein Funke, der wird bleiben.
Nicht mehr als ein Flimmern wird’s wohl sein,
Ein zartes Licht im Sterben liegend.
Dunkel ist’s, Mensch,
wenn die Verheißung Wahrheit spricht
Und die letzte Melodie verklingt,
Wenn nichts verbleibt,
Nur der stumme Schrei,
Den mein Herz nicht tragen kann.“
Magnus konnte sich den Worten nicht entziehen, so schnell er auch rannte.
Plötzlich begann ein unheimliches Stöhnen zu seiner Linken einzusetzen. Schon bald darauf war er aus allen Richtungen von gequälten Lauten umgeben. Als die ersten Schreie einsetzten, blieb er stehen. Seine Beine zitterten und sein ganzer Körper wurde von einer Schockwelle alles verzehrenden Schmerzes erschüttert. Er sah, wie sich seine Knie unnatürlich zu verformen begannen und mit einem ohrenbetäubenden Knall aufplatzten. Knochen verteilten sich in der Luft und flimmerten im zarten Licht der Sterne. Seine Unterschenkel zerfielen daraufhin zu Staub und seine Nägel flogen davon wie Blätter im Wind. Magnus kippte nach vorn und musste sich mit seinen Armen im Gras abstützen, während die Schreie um ihn herum immer panischer wurden. Unter ihm pulsierte der Boden, der an vielen Stellen von Steinen, an denen Haarbüschel aller Farben zu hängen schienen, nach oben gedrückt wurde. Keine Steine. Köpfe. Menschliche Köpfe. Zunächst gruben sich Finger, nach und nach jedoch ganze Arme aus dem Erdboden, die dann nach den Händen und Beinstümpfen des Jungen griffen. Sie krallten sich an seinem nackten Oberkörper fest und schlitzten seine Haut auf. Magnus schrie, doch er hörte nichts außer der Panik der Anderen. Die Wiese hatte sich mittlerweile in ein Trümmerfeld verwandelt, das von zersplitterten Straßenschildern, Kleidungsfetzen und zerrissenen Handtaschen übersät war. In unmittelbarer Nähe konnte er die Überreste einen aschgrauen Plüschhasen erkennen, der ihn mit seinen großen Schneidezähnen anzugrinsen schien. Die Toten riefen nach ihm, sie riefen seinen Namen.
Einige Meter entfernt verließen aufgeschreckte Vögel eine Baumkrone und flogen unter wildem Geschrei davon. Donner und vereinzelte Tropfen kündigten ein bald aufziehendes Gewitter an.
Magnus erklomm gerade eine steinige Anhöhe, während er abermals an diesen Albtraum zurückdenken musste. Als er aufgewacht war, hatte er am ganzen Körper gezittert. Zeit seines Lebens hatte er nie einen Traum gehabt. Er versuchte, die Gedanken daran zu verdrängen, denn er hatte eine Spur und der würde er folgen, ganz gleich was geschehen sollte. Es gab kein Zurück.
Ohnehin war dort kein Ort, an den er hätte zurückkehren können. So etwas wie einen Ausgangspunkt oder gar eine Heimat gab es für ihn nicht. Zumindest konnte er sich nicht erinnern.
Er richtete seinen Blick gen Himmel. Die vier Sonnen schienen sich über ihn lustig zu machen, während sie mit unerbittlicher Gewalt ihre Arbeit verrichteten. Ihre Strahlen tauchten die steinige Wüste um ihn herum in die verschiedensten Nuancen von Purpur. Sein ganzer Körper war von einem Schweißfilm bedeckt, die Hitze beinahe unerträglich. Sie hätte ihn buchstäblich gegrillt, wäre da nicht sein Raumanzug gewesen, der ihn vor solchen extremen Bedingungen schützte.
Falls es hier einmal eine Art organisches Leben gegeben hatte, so waren diese goldenen Zeiten seit Jahrtausenden vergangen. Wie eine Löschdecke, die einem gefährlichen Feuer Einhalt gebot, hatten Hitze und Staub dem Leben die Luft zum Atmen genommen.
Magnus wendete sich von den gigantischen Riesen ab und beschleunigte seine Schritte. Vor ihm hatte sich ein weitläufiges Tal aufgetan, welches an den Rändern von den Resten eines einst beeindruckenden Gebirgszuges umschlossen wurde.
Seine Helmanzeige blinkte erneut, er war seinem Ziel ganz nah. Dank integrierter Blende, die mithilfe von ultra-hochauflösender Fluoroszens-Mikroskopie Molekülrückstände sichtbar werden ließ, konnte er den Resten eines ihm unbekannten 'Gravi-Sprungs' folgen.
Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er hieb sich mit der Faust gegen den Sichtschutz, als könne diese Geste ungebetene Geister vertreiben.
Die Spur führte ihn tiefer in das Wüstental hinein. Seine Beine wurden von Stunde zu Stunde schwerer, seine Schritte langsamer. Die Riemen seines Rucksacks zerrten an ihm wie ein stürmischer Wind an den Ästen eines Baumes. Dann konnte er in der Ferne eine dichte Molekularstruktur ausmachen. Er hatte sein Ziel fast erreicht. Die restlichen Kilometer legte er in einer Geschwindigkeit zurück, die ihn angesichts seiner körperlichen Verfassung selbst beeindruckte.
In unmittelbarer Nähe zum Zentrum der Rückstände ließ er sich nieder und entnahm einer der Taschen seines Anzuges ein Analysegerät. Nachdem er den Scanner aktiviert hatte, lehnte er sich an den Überresten eines Felsvorsprungs zurück. Der Scanvorgang, der ihm offenbaren würde, wohin der vor ihm liegende Gravitationssprung geführt hatte, sollte einige Minuten in Anspruch nehmen.
Da seine Hände zitterten, beschloss Magnus, eines der alten Bücher hervorzuholen, die er schon immer bei sich getragen hatte. Er öffnete den braunen Ledereinband und blätterte an eine ganz bestimmte Stelle. Magnus kannte zwar jedes einzelne Wort darin auswendig, dennoch bereitete es ihm immer wieder Freude, die Schrift zu lesen. Das Material seines Anzuges erlaubte es ihm, die Seiten des Buches zu fühlen. Die Berührung beruhigte ihn.
Dieses Exemplar war über die Zeit zu einem seiner Lieblinge avanciert. Das aufgeschlagene Kapitel berichtete von Menschen, die im regelrechten Rausch in Bars verkehrten oder in Klubs zu wilder Musik die Hüften schwangen. Es war von Billie Holiday die Rede und von Frauen, die ihre Männer mit kurzen Röcken und kurzem Haar schockierten. Magnus versuchte, sich das bunte Treiben vorzustellen, und fragte sich jedes Mal, wie die Musik wohl geklungen haben musste.
Er klappte das Buch zu und überflog weitere Exemplare, von denen er nicht wusste, wann und woher er sie erhalten hatte. In seiner Erinnerung waren sie schon immer bei ihm gewesen, und immer hatte er sie geliebt. Sein Verstand hatte womöglich Jahrtausende überdauert, genau wusste er das nicht. Vielleicht wusste er es einst, heute jedoch nicht mehr. Magnus stöhnte laut auf. Er hasste diese Gedanken, die ihn quälten, sich um ihn rankten wie Dornengewächse um das Objekt ihrer Begierde.
In all den ungezählten Galaxien die er bereist hatte, war er nicht ein einziges Mal einem Organismus begegnet, der eine ähnliche Lebensspanne gehabt hatte wie er selbst. Er war eine Laune der Natur, war Mensch und Monster zugleich. Gott hat uns, die Sünder, gestraft, denn wir wollten nicht hören! Es ist zu spät meine Brüder, uns erwartet ewige Verdammnis! So stand es in einem seiner Bücher. Magnus glaubte nicht an göttliche Wesen, auch wenn er keine Antwort auf die Frage nach seiner Existenz geben konnte. Er würde auch nicht ewig leben. Wenngleich sich sein körperlicher und geistiger Verfall über viele Jahrtausende erstreckt haben musste, war dieser dennoch unaufhaltsam und deutlich. Magnus wurde alt. Wie lange er noch haben würde, konnte er nicht sagen. Sein Leben war so lang gewesen, dass er sich nicht an seine jungen Jahre, geschweige denn an seine Kindheit, erinnern konnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, einmal eine Familie gehabt zu haben, eine Mutter oder einen Vater. Er wusste nicht ob er tatsächlich jemals auf andere Menschen getroffen war, wusste nicht wie sich eine 'echte Konversation' anfühlte. Hätte es nicht seine Bücher gegeben, wäre Magnus nicht sicher gewesen, ob es tatsächlich andere Menschen in der Geschichte gegeben hatte.
Das Piepen seines Scanners holte ihn zurück in das Hier und Jetzt. Das Gerät hatte seine Aufgabe erfolgreich beendet und Magnus machte sich nun hastig daran, seinen Sprung vorzubereiten. In wenigen Augenblicken würde er wissen, wem oder was er die letzten Jahrzehnte gefolgt war. Magnus warf sich seinen Rucksack über und checkte ein letztes Mal seine Anzeigewerte, dann trat er durch das Gravitationsgate.
Schwindel setzte ein und Magnus spürte, wie sich der Raum um ihn krümmte und Entfernungen nichtig werden ließ. Mit einem dumpfen Geräusch setzten seine Füße auf festem Boden auf. Magnus öffnete die Augen.
Er fand sich auf einer grasbedeckten Anhöhe wieder, die unter einem Himmel mit vereinzelten Wolken erblühte. In der Ferne konnte er große Gebirge erkennen.
Magnus entfernte einige Sicherungen und nahm seinen Helm das erste Mal seit 167 Jahren ab. Er spürte sofort den zarten Sommerwind auf seiner dunklen Haut. Er spürte, wie jede einzelne seiner Poren danach gierte, die ungefilterten Sonnenstrahlen aufzunehmen. Die Luft roch nach Flieder und überall wehten Blüten durch die Lüfte. Magnus atmete tief ein, schloss die Augen und genoss den sommerlichen Geruch der Natur.
Als er sie wieder öffnete, bemerkte er eine kleine Gestalt, die nun einen halben Meter entfernt vor ihm stand. Magnus' Gehirn brauchte einen kurzen Moment um zu verstehen, um all die Informationen aus seinen Büchern zusammenzutragen und zu einer echten Erkenntnis zu formen.
Das kleine Mädchen schaute ihn verdutzt an. Ihre langen blonden Löckchen reichten ihr fast bis zu den Schultern. Sie trug ein blaues Kleid mit aufgestickten weißen Blumen. Sie war barfuß und musste auf der Wiese gespielt haben, hielt sie doch noch einen aschgrauen Plüschhasen in ihrer linken Hand. Magnus war sprachlos, seine Hände zitterten. Jahrtausende hatte er einen derartigen Moment herbeigesehnt. Bis jetzt hatte er nicht einmal mehr gewusst, wie andere Menschen, geschweige denn Kinder, wahrhaftig aussahen.
Die Kleine beäugte ihn noch eine Weile und legte dabei den Kopf zur Seite.
„Du bist nicht von hier“, sagte sie bestimmt. Sie schaute sich um und fügte dann hinzu: „Woher kommst du?“
Die Worte klangen fremd in seinen Ohren, dennoch hatten sie etwas Vertrautes an sich. Nach einer kurzen Pause fügte das Mädchen hinzu: „Ich bin Elise und das ist Mr. Sningles“. Sie streckte den Plüschhasen nach vorn und drückte ihn dann wieder fest an sich. Der klang ihrer Stimme hallte in Magnus‘ Ohren. Langsam begannen sich seine Lippen zu formen, bis die ersten Worte seinen Mund verließen: „Mein Name ist Magnus. Mein letzter Aufenthaltsort war Nehlius Delta 4-5-6-7.“
„Von der Stadt hab‘ ich noch nie gehört“, erwiderte Elise. Gedankenverloren stocherte sie mit den Füßen in der Erde. „Du bist ja ganz schön groß, bist viel größer als Papa." Magnus antwortete nicht.
„Hast du hunger? Meine Mutter macht gerade einen großen Gemüseeintopf. Für dich ist bestimmt genug über“, sagte sie kichernd.
Dann bewegte sie sich auf Magnus zu und nahm seine Hand in die ihre. Mit ihren blauen Augen sah sie ihn direkt an und hielt seinen Blick fest. Dann lächelte sie. Magnus liefen dicke Tränen die Wangen hinunter.
„Ich bin auch oft traurig, wenn ich alleine bin“, sagte Elise, während sie ihn über das Weideland führte. „Mr. Sningles tröstet mich immer. Manchmal machen wir dann eine Tee-Party oder singen gemeinsam von den Sternen.“
Während sie durch das hohe Gras schritten, waren beide still. Am Horizont zog lautlos ein Flugzeug dahin. Nur das Flüstern des Windes war zu hören, ein Flüstern, das Magnus schon einmal gehört hatte. Der Wind klagte über die Menschen und über die furchtbaren Dinge, die sie taten. Diese Welt, so wunderschön sie in diesem Moment auch wirkte, war bereits im Begriff zu sterben. Magnus wusste das jetzt. Sein Traum hatte davon gekündet. Er war vielmehr eine Vision gewesen, die ihm Vergangenheit und Zukunft zugleich offenbarte. Wieder einmal hatten die Menschen versagt, hatten ihre Chance vertan. Sie würden sich erneut zu den Sternen aufmachen und ein chaotisches Feuer entfachen. Die Zeit hatte es gezeigt. Er war hier, um das Universum zu bewahren, es im Gleichgewicht zu halten.
Doch auch wenn Magnus die Menschen vernichten musste, würde ein zartes Licht, ein Funke der Hoffnung, bestehen bleiben. So wie es immer gewesen war.
„Was machst du Magnus, wenn du traurig bist?“, fragte Elise.
Er hielt einen Moment Inne, dann antwortete er: „Ich bete um Erlösung.“
„Für dich? Für deine Familie?“
„Für euch.“
Einige Meter entfernt verließen aufgeschreckte Vögel eine Baumkrone und flogen unter wildem Geschrei davon. Donner und vereinzelte Tropfen kündigten ein bald aufziehendes Gewitter an.