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Der Weltempfänger
Mein Opa sagte immer: „Besser man ist reich und gesund, als arm und krank.“
Mein Onkel hingegen fragte immer: „Habe ich es nicht gesagt?“
Das erste Mal, dass ich diesen Satz gehört habe, war 1990, als der Zusammenbruch der Sowjetunion unvermeidlich zu sein schien. Da saß mein Onkel schon hoch zu Ross.
Wenn ich mich richtig erinnere, ist es Winter gewesen, ein ehrlicher russischer Winter, einer der den Menschen nicht vormacht, er sei ein Herbst. Auf den Straßen lag überall Schnee. Wo man sie nur ließ, ragten seine weißen Berge mindestens einen Meter in die Höhe und man konnte froh sein, wenn der Hausmeister wenigstens die Eingangstreppe freiräumte.
Wir saßen damals alle in unserer St. Petersburger Küche, zu der Zeit hieß meine Heimatstadt noch Leningrad, und hörten Radio. Meine Eltern hatten sich noch in den siebziger Jahren, mithilfe eines Bekannten meines Vaters bei der Flotte, einen Weltempfänger von Telefunken angeschafft, denn sie hörten Radio viel lieber, als dass sie fernsahen.
Dieser Weltempfänger ist ein erstaunliches Ding gewesen. Es verfügte über eine Million verschiedener Rädchen und Stecklöcher und war beschriftet mit vielen Zahlen, die mir alle nichts sagten und vor denen ich großen Respekt hatte. Das Gerät kam mir damals vor, wie das absolut fortschrittlichste Stück Technik, das die Menschheit je gebaut hatte. Bei seinem Rauschen dachte ich an den Kosmos, dort im Weltall vermutete ich auch die Stimmen, die aus den kleinen, vergitterten Öffnungen dieses Wunderdinges in die Welt drangen.
Damals war der Weltempfänger immer eingeschaltet. Meine Eltern sagten, der Beginn der neunziger Jahre sei die bewegteste Zeit gewesen, die sie jemals erlebt haben. Und der Weltempfänger wusste alles über sie.
Soweit ich mich erinnere, sprachen in dieser Zeit alle Erwachsenen nur noch über das Ende des Kalten Krieges und über Perestroika, über den Mauerfall und über lauter politische Dinge, auf die ich mir keinen Reim machen konnte. Wie ich das heute sehe, konnten sich die meisten Erwachsenen damals auch keinen Reim darauf machen, aber darüber gesprochen haben sie trotzdem.
Mein Onkel gehörte natürlich zu den wenigen Erwachsenen, die wirklich begriffen, was gerade passierte, und er ließ an diesem Umstand auch nie einen Zweifel aufkommen.
An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal auf seine Überlegenheit hingewiesen wurde, erklärte Litauen, als erste Sowjetrepublik, seine Unabhängigkeit.
In unserer Küche roch es würzig nach indischem Tee, den mein Vater über seinen Bekannten bei der Flotte besorgt hatte, und alle lauschten den bewegten Zeiten, wie kosmische Stimmen aus den vergitterten Öffnungen des Weltempfängers von ihnen berichteten.
Draußen schneite es wieder. Die feinen Schneekrümel legten sich wie eine Schicht Puderzucker auf die Fensterbank. Zwei dieser Krümel wirbelte der Wind bis an die obere Kante des Fensters, wo sie sich auf die Fensterscheibe legten und sogleich in zwei kleine Tröpfchen verwandelten. Gerade beobachtete ich, wie sich die beiden ein spannendes Rennen nach unten lieferten, als ich meinen Onkel sagen hörte: „Habe ich es nicht gesagt?“
Ich drehte mich um und sah ihn neben dem Weltempfänger sitzen. Dieses Bild ist für immer in meinem Kopf geblieben. Er hatte es sich gerade in seinem Lieblingssessel bequem gemacht und blickte uns alle an.
Als ein außergewöhnlicher Mann hatte mein Onkel auch eine außergewöhnliche Art zu sitzen. Es kam mir immer vor, als würden ihn seine Extremitäten so sehr stören, dass er versuchte, ihren Wirkungsradius auf das Minimum zu begrenzen. Seine Beine wand er immer derart umeinander, dass sein rechter Fuß nach scheinbar mehreren Umrundungen des linken Schienbeins auf dessen rechten Seite auftauchte. Seine Hände pflegte mein Onkel im Schoß ganz eng zusammenzupressen, wobei er auch mit den Fingern wundersame Windungen vollzog. Damit sein Körper der Außenwelt nicht zu viel Widerstand bot, hielt er schließlich auch seinen Rücken am liebsten ganz gekrümmt und den Kopf tief zwischen den Schultern vergraben.
Auf diese Weise zusammengekauert, saß mein Onkel am liebsten da und erklärte allen, die bereit waren zuzuhören, die Welt.
Nachdem die Stimme aus dem Radio trocken verkündet hatte, dass Litauen sich nun als ein unabhängiges Land begreife, räusperte sich mein Onkel, schaute herausfordernd in die Runde und fragte, mit Routine in der Stimme: „Habe ich es nicht gesagt?“ Ich habe diesen Satz später noch sehr häufig gehört.
Ich glaube, mein Onkel hatte sich schon immer gerne selbst reden gehört: „Ich habe diesen Zerfall schon vorausgesehen“, dozierte er, „als unser lieber Genosse Gorbatschow Glasnost ausgerufen hat. Das konnte ja nicht anders enden. Eine freie Meinung zu haben, ist unserem Volk nie wohl bekommen. Von so viel Freiheit wird den Russen nur schwindelig. Und als hätte man nicht gewusst, was die Balten sagen würden, wenn man sie denn ließe. Jetzt wartet nur ab. Uns werden bald alle Republiken davonlaufen. Soviel ist klar.“
Mein Onkel sollte natürlich recht behalten. Daran hat auch nie jemand gezweifelt. Mit dem Tschetschenien-Krieg behielt er auch recht. Und dass Russland im Chaos versinken würde, auch darüber ließ er sich aus. Er hatte es alles vorhergesehen.
Und wenn eine seiner Prognosen sich wieder einmal bewahrheitet hatte, sank er jedes Mal in sich zusammen, wand alle seine Körperteile umeinander und fragte: „Habe ich das nicht gesagt?“
Es war auch mein Onkel, der sagte, wir sollten alle auswandern und zwar nicht nach Israel oder die USA, sondern nach Deutschland.
Wir saßen in der Küche, weil die Küche in Russland der Ort ist, an dem die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, hörten von dem Weltempfänger, dass die Löhne für die Lehrer wieder nicht bezahlt worden sind und dass ein weiterer einflussreicher Geschäftsmann erschossen wurde und mein Onkel sagte: „Wir sollten auswandern. Hier wird alles nur noch schlimmer. Niemand weiß, wem was gehören soll und niemand möchte für irgendetwas Verantwortung übernehmen. Das Land ist vergiftet und es wird Jahrzehnte dauern, bis es wieder zu sich kommt.“
Er legte uns nahe: „Am besten gehen wir nach Deutschland, denn die Deutschen haben zwar, wie ein Großer von ihnen über sie sagte, den rechten Winkel in jeder Bewegung und im Gesicht den eingefrorenen Dünkel, aber gerade deswegen leben sie pedantisch nach Regeln und die Regeln, die sie haben, sind gut für uns.“
Wir hörten auf meinen Onkel und gingen nach Deutschland. Den Weltempfänger haben wir mitgenommen.
Mein Onkel hatte recht behalten. Die Deutschen empfingen uns mit offenen Armen, sie gaben uns Wohnungen und Geld, ohne dass wir ihnen dafür etwas zurückgeben mussten, sie lehrten uns ihre Sprache und bezahlten für unsere Schule. Wenn wir krank wurden, hatten sie uns umsonst behandelt und wenn wir arbeiten wollten, hatten sie uns bei der Suche geholfen.
Sie waren tatsächlich etwas hölzern und lachten nur wenig, aber wir wussten, dass sie nicht anders konnten. Uns ging es gut in diesem Land und mein Onkel fragte: „Habe ich es nicht gesagt?“
Als ich älter wurde, habe ich angefangen, meinen Onkel zu meiden. Das taten in meiner Familie zunehmend alle. Seit meine Großeltern gestorben sind, wurde auch meine Mutter ihrem Bruder gegenüber immer kühler. Je allwissender er wurde, desto seltener hatte sie ihn zu uns nach Hause eingeladen und umso seltener griff sie zum Hörer, um ihn anzurufen. Es war schwer, sich in der Gegenwart eines Menschen aufzuhalten, der es immer alles schon gewusst hat und sich über nichts wundern konnte.
Wenn wir über etwas diskutierten und uns gegenseitig unsere bescheidenen Meinungen gegen den Kopf warfen, saß mein Onkel nur leise da und lächelte. Nachdem er sich unsere Dispute lange genug angehört hatte, erklärte er uns, wie es um die oder jene Sache tatsächlich stand, und behielt damit jedes Mal recht. Es machte keinen Spaß.
Ich habe mich immer gefragt, wie das Leben sein muss, wenn man es alles immer schon gesagt hatte und eines Tages durfte ich es herausfinden.
Soweit ich mich erinnere, ist es wieder Winter gewesen, ein unehrlicher Winter diesmal, wie es ihn in Deutschland so häufig gibt. Auf den Straßen war alles matschig und es hörte gar nicht auf zu regnen.
Ich kam von der Schule nach Hause und sah meinen Onkel im Wohnzimmer sitzen. Wie immer kauerte er in einem Sessel zusammen, seine Beine umeinander gewunden und den Kopf in den Schultern vergraben. Neben ihm auf dem Tisch stand der Weltempfänger und rauschte.
Seit ich herausgefunden hatte, dass das Rauschen und die Stimmen nicht aus dem Kosmos kamen, ja dass es im Kosmos überhaupt keine Geräusche gibt, verlor ich jegliches Interesse an dem einstigen Wunderding. Auch meine Eltern hatten irgendwann aufgehört, ihn als ihr Fenster zur Welt zu betrachten.
Einmal sagte meine Mutter, das Gerät würde sie ein bisschen an ihren Bruder erinnern. Wenn man es fragen würde, könnte es einem alles in der Welt verkünden, aber es fragte niemand mehr. Also stand der Weltempfänger in der Ecke und schwieg unter einer immer dicker werdenden Staubschicht. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis mein Vater sagen würde: „Ich glaube, wir sollten das Radio in den Keller schaffen.“
Jetzt hatte mein Onkel es wieder aktiviert.
Als ich das Wohnzimmer betrat, drehte er angespannt an den Rädchen. Offenbar versuchte er eine ferne Frequenz einzufangen, denn seine Bewegungen sahen nach Präzisionsarbeit aus.
Er war so in seine Suche vertieft, dass er mein Reinkommen nicht bemerkt hatte. Für ein paar Augenblicke beobachtete ich seinen gekrümmten Rücken in dem dunklen Rollkragenpullover. Wie hager er doch geworden ist, wie dünn seine Beine waren. Jetzt bemerkte ich, dass alle seine Haare grau geworden waren. Das Stück seiner Wange, das ich von hinten erkennen konnte, war von Falten gezeichnet. Besonders um das Auge herum hatten sich die Furchen versammelt und ich stellte mir seine Stirn vor, wie sie von tiefen Rillen der Weisheit durchzogen war. Was dachte sich dieser Mann gerade, wonach suchte er?
„Hallo Onkel“, sagte ich dann endlich, „was machst du denn hier? Wo ist die Mama?“
„Sie ist einkaufen gegangen.“ Er drehte sich gar nicht um.
„Wie lange ist sie schon weg?“ Das Alleinsein mit meinem Onkel behagte mir nicht. Andererseits hielt ich das für unhöflich, einfach in mein Zimmer zu gehen.
„Ich kann es nicht genau sagen. Habe nicht auf die Zeit geachtet.“ Mein Onkel ließ von dem Rädchen ab und sah mich an. Heute kamen mir seine Augen viel größer als sonst vor. Seltsamerweise schaute er diesmal nicht über mich hinweg, sondern mir direkt ins Gesicht.
Für eine Weile schwiegen wir. Dann setzte ich mich ihm gegenüber auf das Sofa.
„Was machst du mit dem Radio?“
Die Frage machte meinen Onkel ein wenig verlegen. „Ich suche.“ Mehr sagte er nicht. Stattdessen wandte er sich wieder den Rädchen zu. Aus den vergitterten Öffnungen, von denen ich heute weiß, dass sie Boxen heißen, drangen unverständliche Stimmen, die immerfort von anderen unverständlichen Stimmen abgewechselt wurden. Mein Onkel schien an ihnen allen kein Interesse zu haben.
„Was suchst du denn?“ Im Grunde war es mir gar nicht wichtig. Ich fragte nur, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen könnte.
Wieder stoppte mein Onkel seine Beschäftigung. Diesmal seufzte er leise. „Ich weiß es nicht.“ Seine Stimme zitterte. „Ehrlich gesagt, will ich einfach gerne überrascht werden.“ Er lehnte sich zurück in dem Sessel. Zwischen den Furchen der rechten Wange sah ich eine kleine Träne auf seine schmalen Lippen hinunter kullern. Zuerst dachte ich, es wäre ein Versehen, aber ihr folgte eine andere und dann noch eine. So viele Tränen konnten kein Versehen sein. Das hatte ich vorher noch nie bei ihm gesehen und ich konnte es damals auch nicht verstehen. Männer in meiner Familie haben nicht geweint.
Es war mir peinlich, ihn auf diese drei Tränen anzusprechen, aber sie wühlten mich dermaßen auf, dass ich nicht anders konnte.
„Onkel, was ist denn los? Warum weinst du bloß?“
Ganz aus der Tiefe seiner Augen, die, wie meine Mutter sagte, sich immer in ihrer eigenen Dunkelheit versteckten, sah er mich an und sagte: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, nicht mehr überrascht werden zu können.“
Ich konnte es mir tatsächlich nicht vorstellen. Ich traf jeden Tag auf eine Überraschung und auf Dinge, die ich nicht verstand. Gerade saß eines dieser Dinge vor mir. Also schüttelte ich mit dem Kopf.
Mein Onkel lächelte: „Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal geirrt habe. Das muss viele Jahre her sein.“ Er löste den Knoten seiner Hände, wischte über die feuchte Stelle in seinem Gesicht und griff feste in die Armlehnen. Dann fuhr er fort: „Manchmal versuche ich, mich absichtlich zu irren, aber auch das gelingt mir nicht. Da will ich etwas Falsches von mir geben, und in diesem Moment erscheint eine Stimme in meinem Kopf und sagt mir: „Mach dich nicht lächerlich. Alle wissen doch, dass du es besser weißt. Wozu diese Spielchen?“ Also sage ich dann doch das Richtige.“
Für einen Moment verstummte er und führte dann auch seine Beine auseinander. Es schien mir das erste Mal zu sein, dass mich seine Haltung nicht an einen geflochtenen Zopf erinnerte. Ich weiß nicht, wieso er sich mir gegenüber so öffnete, wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich ihn sowieso nicht verstehen würde.
„Und wenn ich sehe, was in der Welt passiert“, mein Onkel griff seinen Gedanken wieder auf, „dann würde ich mich so freuen, nicht zu wissen, womit diese oder jene Angelegenheit endet. Ich will nicht wissen, dass dieses Land gegen jenes in den Krieg zieht und ich will nicht wissen, dass es da und dort bald einen Anschlag geben muss. Ich will nicht wissen, wer Weltmeister wird, und ich will nicht wissen, dass die Menschen sich an dem oder jenem Ort wieder mal ein Grab graben.“
Aufmerksam sah mich mein Onkel an, als würde er von mir eine Lösung für sein Problem erwarten. Anschließend machte er auch seine Schultern gerade und streckte seinen Kopf aus. Jetzt saß mein Onkel, wie die meisten Menschen. Mehr oder weniger gerade.
„Leider weiß ich auch“, erklärte er, „dass du keine Ahnung hast, was du mir jetzt sagen sollst. Woher sollst du es denn auch wissen, wenn ich es schon nicht weiß.“ An dieser Stelle stockte er.
„Hmm ...“ seine Stirn legte sich in tiefe Falten. „Es scheint mir, dass die einzige Sache, die mir tatsächlich verborgen bleibt, die Frage ist, wie ich mich von dieser Allwissenheit löse. Das ist doch tragisch, nicht wahr?“
„Das weiß ich nicht.“ Ich zuckte mit den Achseln.
„Ja“, sagte er, „das weiß ich leider auch. Aber ich glaube, das habe ich schon mal gesagt.“