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Der Weihnachtsmann

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28.11.2005
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Der Weihnachtsmann

Es lag Schnee. Es lag sogar soviel Schnee, dass kaum Fuhrwerke fuhren, ganz zu schweigen von Autos. Der alte Mann, der in seinem Zeitungskiosk saß, fror nicht, denn ein kleiner Holzkohleofen wärmte seine Füße. Nur sein Kopf lugte aus der Öffnung hervor, aus der er seinen Kunden die Zeitungen, oder die Zigaretten und Zigarren reichte. Trotz der Wärme des Ofens, hatten sich kleine Eiskristalle in seinem grauen Bart festgesetzt. Wenn er ausatmete, zog eine kleine weiße Wolke aus der Öffnung, so dass seine Kunden schon von weitem erkennen konnten, das der Kiosk besetzt war.

An diesem Tag kamen nur wenige Kunden, denn es war ein Samstag, und wer arbeiten musste, beeilte sich, sein Ziel zu erreichen. Wer es vermeiden konnte, zog es vor, bei dieser bitteren Kälte nicht aus dem Haus zu gehen.

„Guten Morgen, Lieselotte. Ich sehe, du hast gut geschlafen?“ „Ja, Jakob, das kannst du laut sagen. Seit sieben Tagen, ist es das erste Mal, das ich wieder eine Nacht durchgeschlafen habe. Dein Ratschlag hat wirklich geholfen. Vielen Dank noch mal.“ „Oh, bitte. Gerne geschehen. Wie immer, deine Zeitung?“ „Ja, wie immer.“ Lieselotte lächelte in die Öffnung und der alte Mann reichte ihr die Zeitung. Mit der anderen Hand gab Lieselotte ihm das abgezählte Kleingeld. Sie grüßte Jakob zum Abschied und ging vorsichtig durch den Schnee davon.

Der alte Mann blieb nicht lange allein. Ein kleiner Junge, von ungefähr sieben Jahren, der gerade so groß war, das er in die Öffnung schauen konnte, sagte mit piepsiger Stimme: „Hallo, Opa Jakob.“ „Hallo, was kann ich denn heute für dich tun?“ „Ich hätte gerne eine rote Zuckerstange, bitte.“ „Aber gerne, hat es denn beim letzten Mal geholfen?“ „Ja, hat es. Und ich habe es auch niemanden erzählt.“ „Das ist gut. Du solltest aber heute lieber eine grüne Zuckerstange nehmen.“ „Warum?“ „Weil sie dir helfen wird, wenn heute dein Vater wissen will, wie es dir in der Schule ergangen ist.“ Der Junge verzog sein Gesicht, eine tiefe Falte bildete sich auf seiner Stirn. Er überlegte angestrengt. „Gut. Ich nehme eine grüne Zuckerstange!“ „Dachte ich es mir doch! Das macht fünf Pfennige.“ Der Junge zog seine Handschuhe aus und griff in seine Hosentasche. Er zählte das Geld ab und schob seine kleine Hand in die Öffnung. „Ich danke dir, Klaus.“ Klaus nickte ernst und sah dabei sehr erwachsen aus. Er war sich noch nicht im Klaren darüber, wie ihm diese grüne Zuckerstange helfen konnte, aber er hatte vollstes Vertrauen zu Jakob, denn bisher hatten seine Ratschläge immer gestimmt. „Einen schönen Abend“, sagte Klaus. „Danke, dir auch.“

Es kamen nur noch wenig Kunden, bis es anfing, dunkel zu werden. Und jetzt im Winter wurde es schon früh dunkel. Er begann, seine Waren zusammen zu räumen, löschte die Kohle im Ofen und schloss die Läden. Jetzt, wo es dunkel geworden war, erschien die Kälte noch schlimmer und so wickelte Jakob seinen Schal noch fester um den Hals. Langsam und mit schlurfenden Schritten, machte er sich auf den Weg nach Hause.

„Klaus, kommst du bitte, das Abendessen ist fertig.“ Klaus Mutter stand am Herd und wendete die Bratkartoffeln. Sein Vater saß am Tisch, blätterte in der Zeitung und nahm ab und an einen Schluck Bier aus der braunen Glasflasche. Vor diesem Augenblick hatte sich Klaus schon den ganzen Tag gefürchtet. Unter der Woche bekam er seinen Vater fast nie zu Gesicht. Wenn er von der Arbeit aus dem Hafen kam, lag Klaus meistens schon im Bett. Aber am Samstag, kam er immer früher und dann musste Klaus ihm Rede und Antwort stehen, über alles, was unter der Woche passiert war. Langsam kamen ihm Zweifel, ob die grüne Zuckerstange, die er heimlich gegessen hatte, denn seine Mutter duldete keine Süßigkeiten vor dem Essen, helfen würde. Außerdem hätte er ihr gestehen müssen, woher er das Geld für Süßigkeiten hatte. Nicht, das er das Geld gestohlen hätte. Nein, so etwas hätte er nie getan. Er hatte es sich redlich verdient, indem er für eine alte Frau, die niemanden mehr hatte, ab und zu Einkäufe machte. Für jeden Botengang bekam er einen Groschen. Das Geld sparte er, um seinen Eltern eines Tages alles auf den Tisch zu legen. Dann wollte er sagen: „Hier, ich habe auch gearbeitet und kann mich am Haushaltsgeld beteiligen.“ Das war sein Traum, denn er wusste, dass es im Hause an allen Ecken und Kanten fehlte und sein Vater sagte ihm oft genug, wie viel Geld er kostete. Egal, was es auch war, ob ein Schulheft, oder Winterschuhe, immer erinnerte ihn sein Vater daran, wie hart er für das Geld arbeiten musste. Jetzt hoffte er nur noch, dass das Geld für die Zuckerstange nicht zum Fenster herausgeschmissen war.

„Klaus, kommst du?!“ Mutters Stimme klang scharf, also beeilte er sich, in die Küche zu kommen. „Guten Abend, Vater.“ Er trat an den Tisch und drückte seinem Vater einen Kuss auf die Wange. Der nahm die Zeitung beiseite und sah seinen Sohn an. „Guten Abend“, erwiderte er. „Setz dich, damit wir essen können.“ Seine Mutter füllte die Bratkartoffeln auf die Teller. Dann stellte sie noch eine Schüssel mit Sülze auf den Tisch. Sie setzte sich und sagte: „Guten Appetit.“ Der Vater legte die Zeitung beiseite und nahm noch einen Schluck aus der Bierflasche. Jetzt würde er Klaus fragen, was es unter der Woche gegeben hatte und wie er in der Schule gewesen war. Letzte Woche war eigentlich alles gut gelaufen, aber trotzdem hatte er Angst, denn er wusste, wenn seinem Vater irgendetwas nicht passte, würde er seinen Gürtel aus der Hose ziehen und ihm eine Tracht Prügel verpassen.

„Also heute ist etwas im Hafen passiert, das glaubt ihr nicht!“ Ungläubig sah Klaus seinen Vater an, aber der schob sich eine Gabel voller Bratkartoffeln in den Mund, kaute ein paar Mal, und sprach ungerührt weiter.

„Entweder hatte er schon zuviel Bier getrunken und ist müde, oder aber, es war die Zuckerstange!“, dachte Klaus und war so froh, wie seit ewigen Zeiten nicht mehr.

Jakob legte Holz nach und der alte Kachelofen strahlte eine wohlige Wärme aus. Dann setzte er sich auf das alte, zerschlissene Sofa, auf dem bereits der Kater Heinrich Platz genommen hatte. Auch Heinrich war alt. Alles in dieser Wohnung war alt, aber sauber. Darauf legte Jakob Wert. Materielle Dinge hatten Jakob noch nie interessiert. Was er zum Leben brauchte, hatte er. Es gab wichtigere Dinge. Er krauelte Heinrich mit seinen von der Gicht gekrümmten Fingern das Fell. Außer dem knistern im Ofen und dem Schnurren des Katers, war es ganz ruhig. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Jetzt würde es noch vier Tage dauern, dann war Weihnachten. Jakob holte tief Luft. Bis Weihnachten hatte er noch viel zu tun. Dann fielen ihm die Augen zu und sein Kopf senkte sich langsam auf seine Schulter. Er war eingeschlafen.

Als Jakob am nächsten Morgen die Stufen der Treppe zu seiner Wohnung herunter ging, traf er den Hausmeister, der auf dem Weg zum Schneeschieben war. Er zog seine Mütze und sagte: „Guten Morgen, Jakob. Was machen die Knochen, bei diesem Schietwetter?“ „Danke, es geht. Was soll man auch machen?“ „Stimmt, gegen die Gicht ist eben kein Kraut gewachsen.“ „Wie geht es denn ihrer Frau?“ „Ach, schlecht heute. Die haben sie gestern wieder Überstunden machen lassen. Ich weiß nicht, wie lange sie das noch durchhält, sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste.“ Jakob nickte. „Wenn sie möchten, könnten wir zusammen frühstücken, wenn ich mit dem Schneefegen fertig bin. Wo wollen sie eigentlich so früh schon hin?“ „Zu der alten Frau Krause. Sie liegt mit einer Erkältung im Bett und ich habe ihr angeboten, nach dem Rechen zu sehen. Außerdem heize ich ihre Öfen an.“ „Ach so. Kommen sie zum Frühstück? Etwas mehr auf den Rippen, könnte ihnen auch nicht schaden.“ Er lachte. „Wenn ich am Sonntag nicht störe, komme ich gerne zu Ihnen.“ „Gut, wir freuen uns.“

Sie gingen gemeinsam die Treppe hinunter. Der Hausmeister öffnete die Haustür und der Schnee kam ihnen entgegen. „Wenn es so weiterschneit, kommt Weihnachten bestimmt kein Weihnachtsmann durch.“ Beide mussten lachen. Der Hausmeister nahm seine Schippe und begann den Weg frei zu räumen und Jakob verabschiedete sich. Es kostete ihn einige Mühe, sich durch den knietiefen Schnee zu kämpfen. Obwohl er nach nur zwei Häuserblöcken sein Ziel erreicht hatte, standen ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er öffnete die Tür zum Hauseingang und freute sich, dass Frau Krause zu ebener Erde wohnte. Jetzt noch weitere Treppen zu steigen, hätte ihn seine letzte Kraft gekostet. Er bückte sich vor ihrer Tür, um den Schlüssel unter der Fußmatte hervorzuholen. Dieses Versteck hatten sie verabredet, damit Frau Krause nicht aus dem Bett musste, wenn Jakob kam, denn außer dem kleinen Klaus, der manchmal für sie einkaufte, bekam Frau Krause niemals Besuch.

„Frau Krause? Sind sie wach? Ich bin es, Jakob.“ „Ja, kommen sie doch herein.“ Jakob schloss die Tür und ging in die Küche. „Ich werde erst einmal Feuer machen und dann koche ich ihnen einen Tee.“ Ein leises „Ja“ kam aus dem Schlafzimmer. Nachdem Jakob alle Öfen angeheizt hatte, setzte er einen Kessel mit Wasser auf. Dann ging er zu Frau Krause, zog sich einen Stuhl an ihr Bett und fragte: „Geht es ihnen denn heute ein bisschen besser?“ Sie sah in mit ihren wasserblauen Augen an und lächelte. „Ja. Ich fühle mich noch ein wenig schwach, aber ich muss kaum noch Husten und die Nase läuft auch nicht mehr.“ „Sehen sie, ich habe ihnen doch gesagt, wir werden das schon schaffen!“ „Ja, das haben sie und ich habe ihnen nicht geglaubt.“ Sie lächelte. „Wenn sie mir nicht die Geschichte von der alten Frau erzählt hätten, die weiterleben wollte, weil Gott ihr noch eine Aufgabe gegeben hatte, dann wäre ich wohl lieber eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.“ „Aber, was reden sie denn da? Ich habe sie nur daran erinnert, dass jeder Mensch auf Erden seine Aufgaben hat. Wenn es für sie keine Aufgabe mehr geben würde, wären sie jetzt tot.“ „Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, sie wüssten genau, was meine Aufgabe ist.“ In diesem Moment begann der Wasserkessel zu pfeifen.

Er trug ein Tablett mit dem Tee und einer Scheibe Brot mit Honig in das Schlafzimmer. „Ich habe ihnen ein Brot geschmiert und in den Tee habe ich ein wenig Honig gegeben. Das wird ihnen gut tun.“ „Vielen Dank. Was hätte ich bloß ohne ihre Hilfe getan? Haben sie vielen Dank!“ „Sie müssen sich nicht bedanken, denn ich habe es gerne getan. Morgen werde ich wieder nach ihnen sehen und ich werde Kohle auffüllen. Holz ist noch genügend da. Wenn ich gehe, würde ich gerne die Kellerschüssel mitnehmen. Wegen der Kohle.“ Aber natürlich, er hängt im Flur am Schlüsselbrett. Aber wollen sie denn schon gehen?“ „Ja. Ich habe eine Einladung zum Frühstück. Unser Hausmeister Herr Brecht hat mich eingeladen.“ „Das freut mich für sie. Dann gehen sie ruhig, ich komme schon zurecht. Wir sehen uns dann morgen und nochmals vielen Dank.“ „Nichts zu danken! Bis morgen dann. Auf Wiedersehen.“

Frau Krause nippte an ihrem Tee, der ihr geradezu wunderbar schmeckte. Er hatte ein herrliches Aroma. Ob das wohl von dem Honig kam? Mit jedem Schluck, den sie nahm, füllte sich ihr Körper mit einer angenehmen Wärme und sie fühlte, wie ihre alten Kräfte langsam wieder zurückkamen.

Jakob stapfte wieder durch den Schnee. Herr Brecht hatte soweit geräumt, das man ohne große Mühe durch einen schmalen Gang gehen konnte. Mehr konnte er nicht tun, denn er hätte nicht gewusst, wohin mit dem ganzen Schnee. Es schneite immer noch. Große weiße Flocken fielen auf die Erde. Jakob lächelte. Es war genau das richtige Wetter um Menschen zusammen zu führen. Das Gefühl von Geborgenheit, das die Menschen in ihren Wohnungen hatten, wenn es draußen so bitter kalt war, machte ihre Herzen weich. Sie fühlten sich gut und waren zufrieden mit dem Wenigen, dass sie hatten. Jetzt war die Zeit des Teilens, der Nächstenliebe. Bald war Weihnachten.

Er klopfte bei Herrn und Frau Brecht und es wurde schon beim ersten Klopfen geöffnet. „Kommen sie schnell herein. Bei dieser Kälte müssen sie doch schon halb erfroren sein!“ Er schob Jakob in den Flur und nahm ihm seinen Mantel, die Mütze, den Schal und die wollenen Handschuhe ab. „Gehen sie gleich in die Küche. Der Kaffee ist fertig. Wir haben schon auf sie gewartet.“

Frau Brecht hatte Brot geröstet und der Kaffee duftete herrlich. Jakob genoss jeden Bissen. „Meine Frau hatte die Idee, sie einmal einzuladen. Sie sind doch immer so alleine und bald ist Weihnachten“, sage Herr Brecht. „Heinrich! Es ist nicht nur wegen Weihnachten! Wie oft hat uns Jakob schon geholfen?“ Und mit einem Blick auf Jakob sagte sie: „Wir wollten uns einfach nur bei ihnen bedanken, Jakob.“ Jakob lächelte. „Ich weiß ihre Einladung zu schätzen. Einen so guten Kaffee habe ich schon lange nicht mehr getrunken. Vielen Dank.“ „Gerne geschehen. Bitte greifen sie tüchtig zu. Wie geht es denn Frau Krause? Mein Mann hat mir erzählt, sie liegt mit Grippe?“ „Ja, aber sie ist schon auf dem Weg der Besserung.“ „Ich werde nachher mal rüber gehen. Sie wird sich bestimmt über ein Stück Puffer freuen. Habe ich gestern frisch gebacken.“ „Das ist eine sehr gute Idee, Frau Brecht. Frau Krause wir sich bestimmt sehr freuen. Sie ist ja auch alleine.“ Jakob nahm noch einen Schluck Kaffee, während Herr Brecht genüsslich an seinem Brot kaute. „Wie geht es denn auf der Arbeit, Frau Brecht?“ „Ach, es wird immer schlimmer. Neue Arbeiterinnen werden nicht eingestellt und wir dürfen buckeln. Überstunden bekommen wir auch nicht bezahlt. An manchen Tagen schaffe ich nicht mal meinen Haushalt.“ Ihr Blick wanderte zu ihrem Mann. „Wenn Heinrich mir nicht immer unter die Arme greifen würde, wüsste ich nicht, wie ich mit dem Alltag fertig werden soll. Aber lassen sie uns doch von etwas anderem reden. Heute ist Sonntag.“ Jakob nickte. „Wissen sie, Frau Brecht, manchmal ändern sich die Dinge schneller als man denkt.“ „Ja, da haben sie wohl recht, aber ich glaube nicht, das es auf meine Situation zutrifft. Wie dem auch sei, jetzt wollen wir aber weiter frühstücken. Möchten sie noch Kaffee?“ Jakob nickte.

Am Montag hatte Klaus schulfrei, denn es waren Weihnachtsferien. Der Sonntag war der schönste Sonntag seit langer Zeit gewesen. Seine Eltern gingen liebevoll miteinander um und sie behandelten Klaus so, wie man einen kleinen Jungen behandeln sollte. Der Vater war mit seinem Zeugnis hochzufrieden und es hatte überhaupt keinen Streit gegeben. Nicht einmal getrunken hatte sein Vater und in Zukunft wollte er auch nicht mehr trinken, vielleicht einmal ein Bier zum Feierabend.

Der Grund dafür waren die Geschehnisse am Samstag. Klaus sein Vater, der schon seit über zwanzig Jahren im Hafen arbeitete, hatte einen neuen Posten angeboten bekommen. Er sollte Vorarbeiter werden. Der Posten wurde aus Altergründen frei und wurde Klaus seinem Vater angeboten, weil er aufgrund seiner Erfahrung und Zuverlässigkeit bestens dafür geeignet schien. Es war ein neuer Posten, aber auf Probe. Denn es gab eine Bedingung. Das mit der Bedingung hatte der Vater natürlich nicht erzählt, als sie noch beim Abendbrot gesessen hatten.

Das hatte Klaus belauscht. Für Klaus war dieser Abend so voller Überraschungen, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Tür zum Schlafzimmer einen Spalt weit offen zu lassen. Und so hatte er erfahren, dass man seinem Vater eine Chance einräumen wollte, wenn er mit dem Trinken aufhören würde. Deshalb auch die Probezeit. Und er hörte auch, wie sein Vater seine Mutter fragte: „ Anita, ich habe euch beiden viel Leid angetan in den letzten Jahren. Ich will das ändern und meine Chance ergreifen. Aber eines muss ich wissen. Liebst du mich noch?“

Klaus lauschte angestrengt. Es schien ihm, als ob die Stille stundenlang anhielt und er spürte seinen Herzschlag, laut und deutlich. Er konnte kein Wort verstehen und er hatte Angst, dass er gehört werden könnte, wenn er die Tür weiter öffnen würde, um besser zu lauschen. Doch dann hörte er seine Mutter weinen und sein Herz verkrampfte sich. Er fühlte sich so hilflos und am liebsten wäre zu seiner Mutter gelaufen, um sie zu trösten. Sie sollte nicht weinen müssen.

Plötzlich und völlig unerwartet hörte er ein Lachen. Kein hämisches Lachen, nein, vielmehr ein befreiendes, herzliches Lachen. Es kam von seinem Vater. „Pscht, nicht so laut. Der Junge wacht sonst auf!“ Das war die Stimme seiner Mutter und sie klang überhaupt nicht traurig oder böse. Wie sollte man denn das nun verstehen?

Auf seiner Stirn begangen sich kleine Schweißperlen zu bilden. Doch dann hörte er wieder die Stimme seines Vaters. „Ich liebe dich auch. Lass uns einen neuen Anfang versuchen. Ich jedenfalls, will mein Bestes geben. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Irgendetwas musste auf den Steinfußboden gefallen sein. Der Schreck war Klaus in die Glieder gefahren, aber auch ebenso schnell wieder heraus, als er seine Eltern lachen hörte.
Er holte tief Luft stieg zurück ins Bett und fiel erschöpft in sein Kissen. Alles war wieder in Ordnung, das spürte er genau. Bevor er vollkommen fertig durch das Gefühlschaos, das er gerade erlebt hatte, einschlief, dachte er noch: „Schon toll, was so eine grüne Zuckerstange alles machen kann!“

Klaus war er auf dem Weg zu Frau Krause.

Die Ereignisse der letzten beiden Tage lagen auf seiner kleinen Seele. Er hätte zu gerne mit jemanden gesprochen, aber mit wem? Seine Eltern würden sicher nicht verstehen, dass die Veränderungen der letzten Tage einer Zuckerstange zu verdanken waren. Er konnte es ja selber kaum glauben. Und Jakob? Er traute sich nicht, Jakob zu fragen. Es war eine Mischung aus Furcht und Respekt, die ihn daran hinderte. Er wollte nicht, dass Jakob dachte, er wäre nur ein kleiner Junge der nichts verstand. Außerdem wäre er sich lächerlich vorgekommen, denn Jakob hatte ihm schon öfter geholfen. Damals zum Beispiel, er war gerade erst zur Schule gekommen, als er Probleme mit einem Mitschüler bekam, die ihn ständig demütigten. Nur verbal, nicht körperlich. Aber Klaus fühlte sich vor seinen Mitschülern derart klein, dass er nicht in der Lage war, sich zu wehren. Jakob hatte ihm seine Bedrücktheit angesehen, als er für seinen Vater eine Zeitung kaufte. Es war ihm fürchterlich peinlich, zuzugeben, was in der Schule passierte, aber dann fasste er doch Vertrauen zu Jakob und erzählte ihm alles. Jakob hatte in angelächelt. „Mach dir keine Sorgen mehr. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe das als kleiner Junge auch einmal durchgemacht.“ Klaus konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass Jakob auch einmal ein kleiner Junge gewesen sein sollte. Aber er sagte nichts und hörte Jakob aufmerksam zu. „Ich gebe dir sieben Zuckerstangen mit. Die verteilst du unter deinen Mitschülern. Bis auf eine, die ist für dich. Und die Zuckerstangen bekommen nur die Mitschüler, die du magst. Also überlege dir gut, wem du eine gibst. Noch eine Bitte, es muss ein Geheimnis bleiben. Nur wir beide wissen davon. Sonst wollen noch alle meine Zuckerstangen umsonst haben.“ Er lächelte Klaus an und gab ihm die Zuckerstangen. „Ja, ich werde nicht darüber reden. Danke sehr.“ Jakob hatte nur genickt. Klaus tat wie ihm geheißen und ob man es nun glauben wollte, oder nicht, am Tag nachdem er die Zuckerstangen gut überlegt verteilt hatte, ließen ihn die anderen Jungen in Ruhe. Klaus hatte dafür keine Erklärung. Er nahm es hin und schwieg. Von diesem Tag an, bemerkte Jakob immer, wenn er Probleme hatte. Manchmal gab er ihm Ratschläge und manchmal eine Zuckerstange. Es half immer. Für Klaus war Jakob so etwas wie der liebe Gott. Aber Gott konnte er nicht sein, Jakob war zu klein und sein Bart war auch nicht weiß, sondern grau. Nein, mit Jakob konnte er nicht reden. Er würde ihm auch nicht sagen, wie das mit den Zuckerstangen funktionierte. Aber vielleicht war es ein "Erwachsenengeheimis". Vielleicht konnte ihm Frau Krause erzählen, was es damit auf sich hatte? Es war einen Versuch wert.

Er klingelte und wollte gerade gehen, weil niemand öffnete, da hörte er Frau Krause rufen: „Ja, ich komme schon. Einen Moment noch.“ Einen kurzen Moment lang überlegte er, ob er vielleicht schnell abhauen sollte, denn auf einmal kam er sich vor, als wenn er doch noch ein kleiner, dummer Junge war, aber dann tat ihm
Frau Krause leid. Sie war nicht gut zu Fuß und sie an die Tür zu locken, war nicht die Art eines ordentlich erzogenen Jungen. Also wartete er, bis Frau Krause die Tür geöffnet hatte.

„Hallo Klaus, komm schnell rein. Es ist kalt auf dem Flur. Geh in die Küche, da ist der Ofen an.“ Erst jetzt bemerkte Klaus, wie kalt ihm war. Er stellte sich an den Ofen und rieb sich die kalten Finger. „Magst du auch einen Tee mit mir trinken?“ Der Kessel mit Wasser stand schon auf dem Ofen. Klaus nickte. „Ja, danke.“ „Was führt dich denn zu mir? Du hast doch schon alle Einkäufe erledigt.“ Klaus druckste herum. „Ich wollte etwas fragen, aber wenn ich so darüber nachdenke, dann finde ich es albern.“ Frau Krause setzte sich auf einen der beiden Küchenstühle und lächelte Klaus an. Um ihren Hals hatte sie einen dicken, wollenen Schal geschlungen. „Ach Klaus, keine Frage auf der Welt ist albern! Wenn du etwas auf dem Herzen hast, dann kannst du gerne mit mir sprechen. Es bleibt auch unter uns.“ „Aber, das ist ja das Problem!“ Klaus blickte sie verzweifelt an. „Eigentlich soll ich nicht darüber sprechen!“ „Ach so.“ Frau Krause nickte. „Aber manchmal muss man Ausnahmen machen. Wenn es etwas ist, was dein Herz so sehr bedrückt, dann darfst du auch darüber sprechen. Sonst wirst du krank und das wollen wir doch nicht, oder?!“ „Aber eigentlich bedrückt es mich nicht. Ich will nur wissen, wie es funktioniert!“ Frau Krause lächelte. „Na, dann kann es ja auch kein so großes Geheimnis sein, dass du es mir nicht erzählen könntest.“ Klaus überlegte noch einen Moment, dann setzte er sich zu Frau Krause und erzählte seine ganze Geschichte.

Frau Krause hatte ganz aufmerksam zugehört und war zwischendurch nur aufgestanden um den Tee einzuschenken. Als Klaus fertig war, lächelte sie, nahm einen Schluck Tee aus dem Becher, den sie die ganze Zeit über zwischen den Händen gehalten hatte. Dann sagte sie: „Ja Klaus, ich kann dir da auch nicht wirklich helfen. Es ist kein Geheimnis, das nur Erwachsene kennen. Wenn es so wäre, würden wir alle glücklich und zufrieden zusammen leben. Aber es gibt Menschen, die unter uns leben, die sind eine Ausnahme. Ich glaube, Jakob ist so eine Ausnahme.“ Klaus sah sie an. „Sie meinen, er ist so etwas wie ein Engel?“ „Na ja, nicht ganz, aber so ähnlich. Es gibt eben Menschen, die sind von Grund auf gut. Sie lieben ihre Mitmenschen mehr, als sich selber und sie versuchen allen zu helfen. Manchmal helfen sie den Menschen direkt, aber manchmal geben sie auch nur eine Hilfe, damit sich die Menschen selber helfen. Sie versuchen immer, das Gute im Menschen zu wecken.“ Klaus nickte nur und versuchte darüber nachzudenken, was Frau Krause gesagt hatte. Frau Krause dachte an die vielen kleinen Gelegenheiten, bei denen ihr Jakob geholfen hatte. Sie hatte schon vorher gewusst, dass er ein besonderer Mensch sein musste. Aber was war er? Nur ein sehr guter Mensch, oder doch eine Art Engel? „Aber wie hat er das mit den Zuckerstangen gemacht? Kann er zaubern?“ „Ich weiß es wirklich nicht. Aber wir sollten wirklich mit niemanden darüber sprechen. Entweder wird man uns nicht glauben, oder einige Leute werden versuchen, Jakob auszunutzen. Das wollen wir doch nicht, oder?“ „Nein.“ Klaus nickte und trank seinen Tee aus. „Ich werde dann mal nach Hause gehen und nochmals vielen Dank für den Tee.“ „Gerne geschehen. Grüsse deine Eltern von mir.“

Klaus lag im Bett und dachte darüber nach, was Frau Krause gesagt hatte. Er wollte auch nicht, dass alle Jakob mit ihren Wünschen oder Problemen belästigen. Er würde schon selber wissen, wann und wem er helfen musste. Aber es ließ ihm keine Ruhe, dass er nicht wusste, was Jakob eigentlich war. Denn das er zaubern konnte, war nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht sollte er ihn doch einmal fragen. Über diesen und ähnlichen Gedanken schlief er ein.

Frau Brecht stand in der Küche. Sie war mit Stollen backen beschäftigt. „Heinrich, ich habe eine Idee!“ Ihr Mann blickte von seiner Zeitung auf. „Was für eine Idee?“ „Was hältst du davon, wenn wir den heiligen Abend nicht alleine feiern?“ Er runzelte die Stirn. „Mit wem denn dann?“ „Wir laden uns Jakob und Frau Krause ein. Die sind genauso alleine wie wir. Wir machen es uns gemütlich und werden einen schönen Abend haben.“ Heinrich überlegte einen Moment. „Ach, du bist doch die Beste. Eine gute Idee. So wird es gemacht!“ Er stand auf, drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange und sagte: „ Ich gehe gleich mal los und frage die beiden.“

Es wurde abgemacht. Jakob fragte, ob man den Kreis erweitern könne, denn eigentlich war er bei den Eltern von Klaus eingeladen. Klaus sein Vater hatte ihn persönlich eingeladen, weil sein Sohn so von ihm geschwärmt hatte und weil er Weihnachten doch alleine wäre. Klaus seine Mutter war sofort einverstanden gewesen, denn wo drei satt werden, würde auch ein vierter satt werden und außerdem konnten sie ihr Glück und ihre Freude über den neuen Job des Vaters mit jemand teilen. Jeder steuerte einen Teil zum Festmahl bei und die Frauen trafen sich vorher um zusammen zu kochen. Man hatte besprochen, dass es keine Geschenke geben würde, außer für Klaus natürlich. An diesem Abend wollten sie alle einfach nur beisammen sein und sich gegenseitig Wärme und Nähe geben.

Der Weihnachtsbaum war wunderschön und die brennenden Wachskerzen warfen ein Licht auf die lachenden Gesichter, dass es aussah, als hätte jemand ein Bild gemalt. Alle plauderten angeregt durcheinander und am glücklichsten war Klaus. Es war schön zu sehen, wie nett alle miteinander umgingen und er war der absolute Mittelpunkt. Weihnachten müsste immer so sein!

Doch plötzlich unterbrach das Klingeln der Türglocke das fröhliche Miteinander. Alle sahen sich erstaunt an. Wer konnte denn das sein? Um diese Zeit? Herr Brecht lachte: „Wenn das man nicht der Weihnachtsmann ist!“ Seine Frau blickte ihn fragend an, doch er zuckte nur unwissend mit den Schultern. Er hatte keinen Weihnachtsmann bestellt, also ging er zur Tür, um zu öffnen.

Als er wieder den Raum betrat, folgte ihm ein Mann, der offensichtlich der Weihnachtsmann war, denn er trug den bekannten Mantel, die Mütze, den Sack und eine Rute. Und er hatte einen langen grauen Bart. Seine Stimme klang warm und tief, als er sagte: „Ich freue mich, dass ihr euch hier zusammengefunden habt. Es ist immer gut, wenn man auch an seine Mitmenschen denkt, die ansonsten alleine sind. Ich würde mir sehr viel mehr Mitgefühl wünschen. Die Welt wäre um vieles reicher, wenn sich die Menschen nicht immer selbst am nächsten wären. Behaltet dieses Gefühl in euren Herzen, denn wer Gutes tun, dem wird auch Gutes widerfahren.“ Alle sahen sich an und verstanden genau, was der Weihnachtsmann ihnen sagen wollte und sie wussten, dass ihnen dieser Abend immer in Erinnerung bleiben würde. Und alle dachten für sich: „Wir wollen bessere Menschen werden und miteinander leben und nicht gegeneinander.“ Der Weihnachtsmann öffnete seinen großen Sack und vor lauter Freude und Nachdenken und Hochgefühl, hatte niemand bemerkt, dass Jakob gar nicht mehr im Zimmer war.

 

Hallo Kairo,

nach dem du mit der Einführung gewissermaßen den Boden für die Handlung deiner Geschichte bereitest, ist die Erwähnung des Ratschlags (dritter Absatz) ein guter Zug, um Dynamik in das Ganze zu bringen. Auch die kleinen Verschachtelungen sind gut konstruiert. Insgesamt ist mir zwar der sozialpädagogisch-moralische Zeigefinger etwas zu sehr betont, doch man merkt, dass du die Geschichte nicht einfach so hingeschrieben hast, sondern mit der Aussage ein Anliegen verfolgst, dadurch kann man das Ganze eher akzeptieren.

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Vielen Dank. Du hast mich erkannt. Diese Geschichte sollte ein Anliegen verfolgen. Leider ist es heute wohl so, dass man bei vielen Menschen dicke Deckanstösse geben muss, was nicht immer einfach ist, wenn man nicht zu dick auftragen will. Um so schöner, wenn es mir hier gelungen zu sein scheint.

LG Kairo

 

Sehr schöne Geschichte. Und da ich den erhobenen Zeigefinger bei solchen Geschichten sehr gerne mag, kein Problem für mich. Auch sprachlich im Grunde sehr gut, aber Formulierungen wie: "Klaus sein Vater, Klaus seine Mutter..." sind echte Lesebarrieren, das wird mit dem guten alten Apostroph gelöst, also Klaus' Vater, Klaus' Mutter. Aber sonst, gut gemacht.

 

Hallo Kairo,

wenn auch pädagogisch, so gefällt mir diese Geschichte von dir doch.
Von allen, die ich von dir gelesen habe, ist dies sicher die beste.

Einige Hinweise:

der gerade so groß war, das er in die Öffnung schauen konnte
war, dass
Nicht, das er das Geld gestohlen hätte.
dito
Dann stellte sie noch eine Schüssel mit Sülze auf den Tisch. Sie setzte sich und sagte:
für den Fluss würde ich hier einen Satz draus machen. ... Sülze auf den Tisch, setzte sich und wünschte allen guten Appetit.
Außer dem knistern im Ofen und dem Schnurren des Katers, war es ganz ruhig.
dem Knistern
Herr Brecht hatte soweit geräumt, das man ohne große Mühe
dass
waren zufrieden mit dem Wenigen, dass sie hatten.
dafür hier nur ein s
dummer Junge war, aber dann tat ihm
Frau Krause leid
Zeilenumbruch weg und Leid groß

Lieben Gruß, sim

 

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