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Der Weihnachtsengel
Die Lehrerin Sandra Sorgen zählte: „... 14, 15, 16 - alle sind noch da.“ An jenem Dezembermorgen war es kalt auf dem Bahnsteig. „Zu blöd, dass Franziska sich krankgemeldet hatte“, dachte Sandra. Sie war nun ganz allein für den Ausflug verantwortlich. Mindestens zwei Begleitpersonen sind aber Vorschrift. Pochende Kopfschmerzen kündigten sich an. Sie hätte die Klassenfahrt absagen sollen. Ach, hätte, hätte. Die Kinder freuten sich seit Wochen auf die Exkursion zur Zitadelle.
Tim rannte an ihr vorbei. Er rempelte sie leicht an. Paul jagte Tim hinterher.
„Zurück von der Kante! Bleibt hinter der Linie“, rief sie den beiden nach und stellte sich selbst auf die weiße Sicherheitslinie vor der Bahnsteigkante. Die Jungen und Mädchen ihrer dritten Klasse fingen an in die Höhe zu springen. Sie versuchten alle gemeinsam, im gleichen Takt zu hüpfen. Die Kinder nannten es Zertrümmern. Zum Glück kam der Regionalzug der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft pünktlich. Es war ein Zug mit Doppelstockwagen.
„Wir gehen alle nach unten“, rief Sandra den Kindern zu. Sie selbst stieg als Letzte ein. Lena und Laura teilten sich einen Sitzplatz. Sandra zählte durch: „... 14, 15, 16 - alle sind drinnen.“
Der Schaffner pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung. Lucas Meier tat so, als würde er durch den Ruck des Anfahrens umfallen und schubste sich in Tim hinein. Der stieß ihn heftig zurück und Lucas Meier landete polternd auf dem Boden. Sandra stellte sich zwischen die beiden Raufbolde. Der Zug ratterte schneller werdend über die Gleise aus dem Bahnhof.
Eine Ansage kam aus dem Lautsprecher: „Sehr geehrte Fahrgäste, die ODEG begrüßt Sie im Regio-nalexpress Zwei nach Cottbus. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt.“
Anna und Leonie zogen sich gegenseitig an den Haaren und kreischten.
„Anna hör auf damit!“, rief Sandra. Die Streithennen ließen voneinander ab.
„Leonie hat aber angefangen!“, schluchzte Anna.
Drei Kinder im Gang zerrten an einer Tüte. Mit einem Plopp platzte die Tüte und die begehrten Salzstangen verstreuten sich als Mikadospiel über den Boden des Abteils.
„Wie sieht das denn aus!“, schimpfte Sandra. „Sammelt das wieder ein!“
Die Jungs spielten Furzen. Finn zog ein Gesicht, als wäre ihm was in die Hose gegangen.
Ihre eigene Situation, inmitten der Kinder, erinnerte sie an einen Automaten in der Spielhalle von Caracas. Auf dem Spielfeld waren mit einem Hammer Pilze zu versenken. Die Köpfe kamen abwechselnd an verschiedenen Stellen hoch. Je mehr Pilze sie mit dem Hammer versenkt hatte, desto schneller waren neue hervorgekommen. Genauso fühlte sie sich hier. Nach dem Lösen einer Schererei gab es sofort drei neue.
Ein Platz wurde frei und Sandra setzte sich. Der Zug hatte die volle Geschwindigkeit erreicht und schüttelte sie leicht durch. Sie besann sich der sanften Stimme ihrer Kursleiterin aus dem autogenen Training. „Lasst ... die Welt ... einfach geschehen." Sie beschloss, nichts mehr zu sagen. Und tatsächlich wurden die Salzstangen ohne weitere Intervention wieder aufgesammelt. Leon und Max stritten sich um einen Sitzplatz, einigten sich aber alleine. Der Zug ratterte über die Schienen und durch einen kleinen Spalt am Fenster zischte ein wenig Fahrtwind herein. Sie nickte nur, als Julia fragte: „Kann ich bitte aufs Klo gehen?“
Bei ihrem letzten Kursabend waren sie durch eine wunderbare Traumreise geführt worden. Sandra war mit einer Leiter in den Himmel gestiegen und hatte sich dort einen Engel erträumt. Er war ungefähr so groß wie ein dreijähriges Kind, mit wunderschönem goldenen Haar und roten Pausbacken, einer kleinen süßen Stupsnase und tiefschwarzen lieben Augen. Wegen der Adventszeit hatte er einen großen goldenen Stern im Haar und war nur mit einem weißen Seidenhemdchen bekleidet. Sie hatte ihrem Weihnachtsengel den schönen Namen Aurelio gegeben. Aus den Wolken war Sandra glückselig wieder herabgestiegen. Der himmlische Engel schwebte hinter ihr.
Der Eisenbahnschaffner kam in den Wagen. „Von den neu zugestiegenen Reisenden die Fahrscheine bitte.“ Sandra kramte die Gruppenfahrkarte aus ihrer Tasche. Der Schaffner fragte: „Wohin soll es gehen?“
Sandra antwortete: „Nach Berlin.“
Der Bahnbeamte knipste das Ticket und sagte beim Zurückgeben: „Sorgen sie doch bitte dafür, dass die anderen Reisenden nicht gestört werden.“ Er zog die Augenbrauen hoch und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Berufspendler mit der Zeitung.
Einige Kinder blickten aus dem Fenster, andere kramten Spielsachen oder Naschzeug hervor. Es wurde mal lauter und dann wieder leiser. Sandra konnte sich weiter zurückhalten. Sie stellte sich vor, wie auf der anderen Seite des Abteils der Weihnachtsengel Aurelio saß und ihr zuzwinkerte. Ein kleines Mädchen im Kinderwagen, vielleicht ein Jahr alt, zeigte mit dem Finger auf genau diese Stelle und sagte: „Da!“
„Nächster Halt Spandau, Ausstieg in Fahrtrichtung links", kam die Durchsage. Sandra scheuchte die Kinder auf. „Hier steigen wir alle aus. Langsam und drängelt nicht!“ Die Tür piepste und ging dann zischend auf. Sie selbst stieg als Letzte aus dem Waggon und schob die Kinder in die Mitte der Plattform. In sicherer Entfernung von den beiden Bahnsteigkanten rechts und links. Der Zug schloss seine Türen. Sie zählte: „... 13, 14 und 15.“ Das konnte nicht sein. „Bleibt ruhig stehen, ich muss euch zählen!“ Der Schaffner pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung. Ihre Hand zitterte. Es blieb dabei, es waren nur 15 Kinder. Eines ihrer Schulkinder fehlte. Ihr wurde schlecht. Was sollte sie den Eltern sagen? Das konnte nicht wahr sein. Was sollte sie dem Direktor sagen? Undenkbar, ein Kind verschwunden, ihre Aufsichtspflicht aufs gröblichste verletzt. Eine Bahnhofsdurchsage begann: „Attention, security advice ...“
Da rammte Lucas Becker mit Schwung sein Knie seitlich in den Oberschenkel von Louis. Die Jungs nannten es Pferdekuss. Louis knickte das Bein weg, er ruderte mit den Armen in der Luft und hielt sich an Jonas fest.
Sandra gab Lucas Becker eine Ohrfeige und schüttelte ihn an der Schulter. „Hört endlich auf, hier rumzutoben!“, schrie sie in die Runde.
Die Kinder waren alle auf einen Schlag still und sahen Sandra mit aufgerissenen Augen an. In dem Sicherheitshinweis der Durchsage war es um unbeaufsichtigtes Gepäck gegangen, nicht um ein Kind. Ihr wurde eiskalt bei der Vorstellung von einem mittelgroßen Koffer, in den ein Kind passen könnte. Und jetzt hatte sie auch noch eines ihrer Kinder geschlagen. Niemals, unter keinen Umständen, wollte sie das je tun.
„Wer fehlt?“, fragte Sandra ihre Klasse. Ihr Herz pochte unbarmherzig rasend schnell. Ihr fiel der gestrige Zeitungsartikel ein. „ENTFÜHRTES KIND ERMORDET“. Sie musste die Polizei rufen, die Schule verständigen. Jetzt brauchte sie wirklich einen Engel. Aber, was war das für eine verrückte Idee, in dieser Situation von Engeln zu träumen.
„Nadine fehlt“, riefen die Kinder durcheinander.
„Ist Nadine im Zug geblieben?“, fragte Laura.
„Die sitzt auf dem Klo fest“, sagte Klassenclown Paul und erntete seine Lacher.
Aber Julia, und nicht Nadine, hatte doch vorhin um Erlaubnis gefragt? Sie hätte beim Aussteigen die Kinder zählen sollen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Oder ihren Weihnachtsengel schicken sollen. Verlor sie die Nerven? Aurelio drängelte sich wieder in ihre Gedanken. Sie musste sich jetzt unbedingt auf die nächsten Schritte konzentrieren. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Am Besten, sie informierte zuerst einen Bahnmitarbeiter. An der nächsten Station musste geprüft werden, ob Nadine noch im Zug war. Dann musste sie in der Schule anrufen. Sandra blickte sich suchend um. Wo war hier, verdammt nochmal, ein Mitarbeiter der Bahn?
„Da! Da ist sie!“, rief Sarah. Nadine kam hinter dem Kiosk hervor. Mit einem Schokoriegel in der Hand. Sandra stürzte sich auf das Mädchen, ging in die Hocke und drückte sie in ihre Arme. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Nadine bewegte sich nicht. Mit offenem Mund stand sie steif da. Sandra rückte Nadine ein Stück von sich ab, ließ sie aber nicht mehr los. Sie blickte Nadine an, um ganz sicher zu gehen. Die Geräusche des Bahnhofs setzten wieder ein. Das Klappern der Rolltreppe, das Surren einer abfahrenden S-Bahn. Eiliges Rattern von Kofferrollen und das Stimmgewirr der Reisenden.
Sandra stand wieder auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. „So. Jetzt zu zweit anfassen und dann geht es los!“, kommandierte sie ihre Reisegruppe. Die ersten Schneeflocken rieselten auf das gewölbte Glasdach des Bahnhofs. Sandra und ihre Klasse gingen zum Ausgang. Ein Geruch von Kardamom, Nelken und Zimt wehte ihnen entgegen.
Aurelio schwebte hinterher. Der Engel hatte die Flügel aufgespannt. Er korrigierte seinen kleinen Linksdrall beim Fliegen durch etwas stärkeres Schlagen des rechten Flügels. Er jubilierte: „Geschafft! Nun können wir zur Zitadelle in Spandau.“ Der Engel fing an zu summen. „Kling, Glöckchen, klingelingeling, kling, Glöckchen, kling!“