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Der weiße Tiger
Es wurde Abend im Dschungel von Malaysia und ich blickte durch das Fenster in die verschwindenden Farben des Waldes. Ich dachte an Lima. Sie hatte das Studio, indem ich mich befand, tief im Dschungel gebaut, hier gelebt und es mir vererbt. Ich drehte an den Reglern der Synthesizer, immer auf der Suche nach neuen Klängen und stellte mir vor, wie Lima hier die Nächte verbracht hatte und ihre Musik schuf. Musik, die Menschen überall auf der Welt bewegt hatte. Ich hatte die Geschichte über ihren Tod gehört. Man erzählte sie sich überall in den Straßen und Bars Kuala Lumpurs. Auf dem Höhepunkt eines LSD-Trips war sie lachend und spielend wie ein kleines Kind in den Dschungel gerannt und wurde dort vom weißen Tiger gefressen. Der weiße Tiger war in ganz Südostasien berüchtigt. Er fraß nur die talentiertesten Künstler. Er witterte sie über hunderte Meilen und jeder, den er verspeiste, wurde zu einer Legende. Lima war atemberaubend gewesen, genau wie ihre Musik und dass sie mir ihr Studio, das sie liebte und ihre Sammlung an Synthesizern vermacht hatte, erfüllte mich mit Demut. Ich hatte den Tag damit verbracht, durch den Dschungel zu wandern und die Blätter von Kratombäumen zu pflücken. Diese hatte ich zu einem feinen Pulver zermahlen, das vor mir auf dem Tisch lag. Ein paar Stunden des Träumens, gebannt in einer Pflanze. Ich nahm etwas von dem Pulver, spielte Klavier und genoss das wolkige Gefühl, das sich in mir ausbreitete. Nach einer Weile ließ ich Limas Alben laufen und legte mich auf die Coach. Meine Gedanken waren noch wach, nur der Rest von mir schlief langsam ein. Ich blickte an die Decke, bestaunte die Musterungen des Holzes und beobachtete die Spinne, die dort ihr Netz sponn. Ich erinnerte mich an eine alte malaysianische Legende, der zufolge Spinnen böse Geister abhielten, da diese panische Angst vor ihnen haben. Ich konnte die Angst der Geister gut nachvollziehen, hatte mich aber mit der Spinne arrangiert. Außerdem fraß sie die Insekten, die es immer wieder schafften in das Innere des kleinen Studios zu gelangen und mir ansonsten sicherlich während des Schlafens in den Mund gekrochen wären. Die Spinne bewegte ihre Beine zum Takt der Musik während sie unermüdlich ihr Netz baute. Langsam wurde ich vom Schlaf übermannt und versank mit jedem Atemzug tiefer in meine Träume.
Die Spinne sponn ihr Gedankennetz. Sie verwebte ihr Bewusstsein mit den Seidenfäden und schlürfte die Ideenbienen aus, die sich im Netz verfingen. Sie nahm die Musik im Raum mit jedem ihrer vierzehn Sinne war und begann, in Resonanz zu den Melodien an den Spinnenfäden zu zupfen und sie in Schwingung zu versetzen. Die Vibrationen ließen ein Universum entstehen, in das die Spinne mit ihren acht Augen schaute. Sie sah einen endlosen Ozean und spürte das Flimmern der Träume der Fische.
Zwei Männer saßen in einem Kanu auf dem Meer und blickten zu den Sternen.
"Du sagst also, das Universum entstand durch die Vibrationen eines Spinnennetzes?", fragte einer der Männer, der einen großen Hut trug, seinen Freund.
"Ja, darauf deutet alles hin", sagte der andere, der einen Ziegenbart trug.
"Wo lebt die Spinne?"
"Möglicherweise im Multiversum. Oder in einer exotischen Dimension. Meine Berechnungen dahingehend sind nicht ganz eindeutig." Er lächelte und sah eine Weile nachdenklich zum Horizont. "Weißt du wie lange wir schon auf diesem Meer treiben?", fragte er.
"Ich kann mich nicht erinnern", antwortete der Mann mit dem Hut. "Ich hoffe nur, wir stoßen irgendwann auf einen Zigarettenautomaten."
"Wenn du Zigaretten brauchst, kannst du einfach nach ihnen angeln. Die Monde stehen im Sternzeichen des Mandelbrots, das bedeutet sie beißen zurzeit besonders gut."
Der Mann mit dem Hut warf seine Angel aus und fing ein paar Schachteln Gauloises, ohne Zweifel die bestschmeckensten Zigaretten aller Universen. Die beiden rauchten und hingen ihren Gedanken nach.
"Ob wir wohl irgendwann Land erreichen?", überlegte der Mann mit dem Hut.
"Land? Was ist das?"
"Du weißt schon das Land. Wie ein großes Kanu, das bis zum Horizont reicht."
"Es heißt der weiße Tiger lebt in einem großen Kanu.", sagte der Mann mit dem Ziegenbart. "Aber vielleicht ist das auch nur eine Legende."
Ich wachte auf. Die Wirkung des Kratoms wehte mir noch leicht durch den Kopf und die Sonne schien durch das Fenster. Die Farben waren in den Dschungel zurückgekehrt und mit ihnen die Klänge der Tiere. In sie mischte sich, wie das Grollen eines Vulkans, das hungrige Brüllen eines Tigers.