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Der weiße Raum
Ein weißer Raum, ein weißes Bild an der weißen Wand. Ein Tisch, zwei Stühle und eine edel geformte Stehlampe – weiß. Mitten im Raum steht die Frau. Ihr dunkles Haar ist von einem weißen Tuch umhüllt. Schwarz, die Schminke ihrer Augen. Das lange Kleid, weiß. Weich fließend der Stoff. Sie bewegt sich kaum, ist leicht gebückt, wenn sie sich unbeachtet fühlt. Die Schultern nach vorn gesunken. Wenn sie sich nicht verbergen kann, dann geht sie mit langsamen Schritten, sehr aufrecht durch den Raum, Unbeugsamkeit ausdrückend. Unverletzlichkeit und Distanz.
Sie geht zum weißen Bücherregal. Nimmt das weiße Fotoalbum mit den alten Schwarzweißbildern ihrer Kindheit heraus. Setzt sich auf den weißen Sessel. Das Mädchen auf dem Bild weint. Man wollte es fotografieren, damals, es wollte nicht. Weinte um akzeptiert zu werden. Also fotografierte man es weinend, lachte darüber.
Das nächste Bild. Der Vater, kaum fähig Gefühle auszudrücken. Nie gewehrt, alles erduldet was das Leben ihm hinwarf. Auf Distanz gegangen, in Sehnsüchte geflüchtet, manchmal in Alkohol. Daneben die Mutter, die Sirene ihres eigenen Jammertals. Botin all ihrer verhinderten Freiheiten und Frustrationen. Ihrer Tochter nie Sicherheit vermittelnd. Die Frau steht auf und stellt das Album resignierend zurück in das Regal. Sehnsucht nach Elternliebe, unerfüllt.
Schwarze Vorhänge zieht sie vor das Fenster. Aus edlem, schwerem Stoff. Hüllt sich in eine schwarze Decke. Kriecht zur Wand. In einer Ecke verharrt sie. Ergibt sich der Zeit. Auf den schwarzen Vorhängen entstehen schwarze Landschaften. Im Vordergrund die weißen Gesichter von Männern. Ihnen hat sie all ihre Liebe gegeben. Sich verloren in der Hingabe. Angenommen haben sie jene, als ihren Engel. Jedem von ihnen zum Schutz befohlen. Diese Liebe genommen bis ihr Atem kaum noch spürbar war. Ausgesaugt ihre Liebe bis alle Energie erlosch. Schwarze Tränen rinnen über ihre weißen Wangen.
Bewegung? Ist da eine unbekannte innere Regung spürbar? Ein nicht mehr Hinnehmenwollen, endlich Regieren, ein mögliches Agieren, scheint es möglich?
Sie springt auf. Reißt die Vorhänge zur Seite. Abendrot. Eine Glut von roten Wolken zieht über den schwarzen Himmel. Unendliche Seelenqual. Sie bäumt sich auf. Ein unhörbarer Schrei gellt tonlos aus ihrem dunkelrot gefärbten Mund. Absoluter Stillstand, der Nullpunkt der Menschlichkeit. Ihr Nägel kratzen über weiße Haut. Rubinrot fließt das Blut hervor. Mit der Stirn schlägt sie gegen die Wand. Ein rotes Feld von Leben zeichnet sich auf den toten Wänden wider. Unerträgliches ist auszuhalten.
Sie dreht am weißen Schalter der Lampe. Helles, leuchtendes Gelb. Die Farbe des Lichts. Eine Freiheit macht sich breit in ihrer Seele. Ungeahnt in ihrer Lebendigkeit. Fallen lassen. Sie geht zu Boden. Lang hingestreckt breitet sie die Arme aus. Erlösungsgedanken. Auf den, in gelbes Licht eingetauchten weißen Teppich, rinnt rotes Blut von ihrer Stirn. Vermischt sich im Gewebe mit dem zerfließenden Schwarz der Schminke.
Erst Schrecken, dann Staunen. Rot, Schwarz, Weiß – die Erkenntnis. Das helle Gelb ist der Tod. Sie zieht die Füße an ihren zusammengekrümmten, schwerst verwundeten Körper. Spürt ein leises Flimmern in der toten Seele. Unsicherheit. Die Verzweiflung wird lahm. Ihr Blick, verwirrt, unstet. Die Frau kennt sich nicht aus, versteht nicht die Zusammenhänge.
Sie steht auf, ist halb erfroren von der Starre des Daliegens. Sie geht bebend zum weiß gerahmten Spiegel an der weißen Wand, erstarrt. Das Gesicht, verschmiert von schwarzen Tränen. Rote, vom Zorn zerbissene Lippen. Weiße Hände berühren zitternd ihre aufgeschlagene blutrote Stirn. Sie sieht die Müdigkeit in den schwarz geränderten Augen. Sie schließt sie entsetzt.
Sie öffnet sie wieder, erblickt blaugraue Augen in dieser schwarzen Zerstörung. Augen der Hoffnung. Flüstern dringt aus ihrem einst wundgeküssten Mund. „Leben – ich will leben“.
Sie reißt die schwarzen Vorhänge kraftvoll von den Fenstern. Schüttelt die Starre ab. Loslassen, alles loslassen. Löscht das gemeine helle Licht. Aus dem weißen Regal holt sie Tuben mit Farbe. Nimmt einen Pinsel und beginnt zu malen.
Schwarz, rot, weiß, blau, gelb. Sie drückt die Tuben aus, spachtelt die Farbe mit bloßer Hand gegen die Wände. Ein Lächeln erhellt die Traurigkeit in ihrem Gesicht. Grün, braun, orange, welch Vielfalt. Rosa, lila und violett. Sie schmiert die Farbe auf den Teppich, wälzt sich darin. Endlich, bunt. Freude, Auferstehung von den Toten. Ein tiefer, in seiner Intensität nie geahnter Atemzug. Geborgenheit im eigenen Ich. Horchen und verstehen sind eins. Das Bedürfnis, die Einsamkeit zu verlassen. Zu lange hat sie sich in der dritten Person beschrieben.
Sie geht ans Fenster. Öffnet es.
Sie spricht:
„Seht her - ich bin es. Mein Name ist Eva.“