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Der Weg ins Archiv
Der Weg ins Archiv
Während Sabine klirrend in ihrer Kaffeetasse rührt, sind wir damit beschäftigt, Chris und Mike voneinander fernzuhalten. Das ist nicht wirklich eine entspannende Aufgabe. Die Trennung ist noch frischer, als der Kuchen, den keine von uns anrührt. Aber im Grunde ist es gut für sie. Das kann Chris zwar jetzt noch nicht sehen. Aber das wird sie eines Tages auch meinen.
Die Taschentuchphase ist jetzt wohl vorbei. Und seit gestern schläft sie auch nicht mehr auf meiner Couch. Dahin hatte sie sich geflüchtet, weil sie nicht an ihn erinnert werden wollte.
Aber es war alles ziemlich erfolglos. Denn man kann ja Liebeskummer nicht vermeiden. "Ihm aus dem Weg zu gehen, ist genauso unmöglich, wie den perfekten Mann zu finden." Ich finde ja schon, dass Chris ziemlich schlecht drauf ist, aber das muss eben so sein. So ist das ja immer. Und bei jeder von uns. Man kann nicht fernsehn, keine Musik hören, außer vielleicht Mozart oder Spanische Lieder, die jedenfalls mir nichts ausmachen, bis das Wort "amor" fällt. Lesen kann man schon gar nicht. Und letztendlich darf man auf gar keinen Fall vor die Tür gehen. Denn wo kein Liebeskummer lauert, da sind glückliche Pärchen oder romantische Momente. Die werden angezogen von frischen Trennungen.
Viel anstrengender ist dieses ewige Geklappere von Sabine. Ich nehm ihr gleich den Löffel ab. Chris guckt immer wieder zu ihr rüber, aber Sabine merkt mal wieder nicht, worum es geht. So wirklich zum Gespräch kommt man da gar nicht.
Und Chris schafft es sowieso kaum, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Mich wundert ja gar nichts mehr, aber was Mike da schon wieder für eine Nummer abzieht, das haut mich ja dann doch vom Hocker. Nicht mal ihm hab ich das eigentlich zugetraut.
Ja, klar. Schiefgehen kann’s immer. Auch nach Jahren noch. Und dann ist es auch egal, dass ihm nie wieder eine wie Chris über den Weg laufen wird. Da sind wir uns völlig sicher. Schon deshalb, weil wir ja ihre Freunde sind, und deshalb selbstverständlich meinen müssen, es gäbe keine Bessere für ihn. Wir dürfen jetzt ja auch nichts mehr von ihm halten. Denke ich zumindest. Wenn sie ihn jetzt hasst, dass müssen wir ihr dabei natürlich helfen. Mithassen ist da sicherlich der beste Weg.
Und wir machen unsere Sache gut, als wir all die Dinge aufzählen, mit denen er sie in den ganzen Jahren tyrannisiert hat. Mit denen er ihr auf die Nerven gegangen ist. Wir finden fast jedes einzige Mal, das er sie belogen hat. Uns fallen sogar noch all diese "anderen" ein, die er "nebenbei" hatte. Wir haben ihr ja längst gesagt, dass sie ihn verlassen sollte. Dass sie an jeder Straßenecke einen besseren finden könnte. Aber im Ernst: Wenn das tatsächlich so wäre, und ich trotzdem noch auf der Suche bin... was heißt das dann? Zuerst einmal heißt das, dass ich jetzt nicht vom Thema abkommen sollte, denn heute geht es nur um Chris.
Chris schweigt schon eine Weile. Sie hat jetzt nach ihrer Kaffeetasse gegriffen, und während sie sich ein wenig schief in das Sofa sinken lässt, rührt sie geistesabwesend in der Tasse herum. Ihr Löffel klickt dabei immer wieder an die Tasse und das Geräusch ist viel lauter, als das von Sabine. Aber jetzt finde ich es auf einmal tröstlich. Dann macht sie wenigstens überhaupt etwas.
In den letzten Tagen bin ich manchmal die Wände hoch gegangen, wenn ich sie so hab sitzen sehen. Sie konnte sich zu gar nichts aufraffen. Hat sich krankgemeldet, nicht mehr von meiner Couch bewegt, den Schlafanzug gleich anbehalten und mit Tränen getränkt. Naja, Trennungstrauer eben.
In Bruchstücken hat sie dann erzählt, was eigentlich passiert ist. Nicht alles, denke ich. Aber wenigstens einen Teil davon. Eben hat sie dann nochmal ein ganzes Stück dazugetan. Und jetzt versuchen wir zusammen, ihr zu helfen.
Bevor wir sie aufhalten können, kramt Sabine aus ihrer Erinnerung die alte Geschichte von Mike und der besagten Grillparty aus. Von den erst zweideutigen, dann eindeutigen Angeboten, die sie selbstverständlich sofort, postwendend, auf der Stelle, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden abgelehnt hat. Natürlich.
Gut, ich hab die Szene ein wenig anders in Erinnerung, aber ich stand ja auch etwa zwei Meter weit weg. Da kann man den zeitlichen Abstand nicht mehr so genau beurteilen. Sekunden, eine Stunde, was ist das schon. Ich kann mich auch an ein paar ganz andere Gesprächsfetzen erinnern. Aber wer weiß das schon noch, bei der Entfernung. Und in der Erinnerung verändert sich ja alles ein wenig. Bei manchen zumindest.
Wenn ich das jetzt auskramen würde, dann wäre Sabine beleidigt, Chris verletzt und neben ihrer Wut auf Mike auch noch sauer auf Sabine und das würde jetzt zu überhaupt nichts führen. Deshalb weiß ich diese Details lieber nicht mehr und deute nochmal auf den Kuchen, obwohl ich ja schon weiß, dass keine ein Stück nehmen wird. In einer der Trauerphasen stopft man sich voll. Offenbar in einer anderen.
Chris verschließt sich im Moment und ich frage mich, ob es ihr nicht langsam zuviel wird. Ich sollte die anderen rauswerfen. Wer kann schon nach der Trennung gleich Besuch gebrauchen. Ich dachte nur, es würde sie aufheitern. Aber vielleicht schaffen wir das ja noch. Außerdem graut mir ein wenig davor, wieder mit ihr allein zu sein. Irgendwann kann man einfach nicht mehr sagen: "Kopf hoch" oder "halt die Ohren steif". Ich meine: Im Grunde ist das ja schon beim ersten Mal Blödsinn. Aber dann immer wieder dasselbe? Da klinge ich wie eine Platte mit Sprung. Und noch nicht mal das bringt sie zum Lachen. Also sollte ich es lieber lassen. Verflixt, immer, wenn ich versuche, mal was wirklich Kreatives vom Stapel zu lassen, sag ich entweder doch wieder genau dasselbe, oder ich haue total daneben und mache alles noch schlimmer. Dann fühle ich mich so, wie Sabine sich sicher immer fühlt. Aber vielleicht kriegt sie das auch nicht unbedingt hin. Das mit dem Fühlen genauso wenig, wie das mit dem Drumrumtrampeln um die Fettnäpfe.
"Er ist eben schon immer ein Schwein gewesen!" Sabine bringt sich auf den Punkt. "Ja, sie hat Recht!", was für ein seltener Satz aus meinem Mund, über Sabine, "Er hat Dich nie verdient gehabt." Ich finde, wir machen unsere Sache gut, auch, wenn Chris weiterschweigt.
"Du hättest ihn vor Jahren schon verlassen sollen." Maya hat nie Beziehungen. Aber beurteilen kann sie sie irgendwie. Weiß der Geier, wie sie das macht. Mike war nie der Richtige für Chris. Das ist sicher.
Chris sieht mit glasigen Augen in die Kaffeetasse. Der Strudel, den sie gerührt hat, zentriert sich langsam um den Löffel und verebbt Stück für Stück. "Laßt gut sein, ja?" Ihre Stimme ist so dünn geworden, seit sie auf meiner Couch haust. Sie isst auch kaum.
"Nein, Süße! Das muss mal gesagt werden. Dieser Typ ist und war immer eine Flasche. Sei froh, dass Du ihn los bist." Sabine hat sowas von Recht, dass es mich beinahe wundert. Maya und ich murmeln also etwas Ähnliches und sind alle drei der Meinung, dass ihr das gut tut. "Du hast ja schließlich allen Grund, ihn zu hassen!" Ich kenn zwar sicher nicht mehr als die halbe Geschichte, aber natürlich ist er an allem schuld und auf jeden Fall hat er es verdient, dass sie ihn jetzt hasst. So laufen diese Szenen eben. Dann lebt man weiter und letztendlich ist es dann irgendwann mal eine nette Anekdote. Auch, wenn’s manchmal ewig dauert und auch nie so richtig nett wird. Meist irgendwie.
Als sie langsam die Tasse auf den Tisch stellt, denke ich mir nichts dabei. Aber ihr Gesichtsausdruck ist ziemlich angespannt. Kein Wunder. Ihre Tränen überrollen mich ebenso, wie die anderen. Und erst eine Trostrunde später fällt wieder eine Bemerkung darüber, dass sie ihn jetzt sowieso hassen müsste.
"Nein." Heiser, nach all den Tränen, und irgendwie viel zu leise. "Ich darf ihn nicht hassen!" Natürlich sagt sie sowas jetzt. Jetzt noch. Und natürlich ist es jetzt unsere Pflicht, völlig unsensibel zu sein und ihr den Kopf zurechtzurücken. Wir versuchen, sie zu überreden, uns zu glauben. Nein, eigentlich versuchen wir bloß, ihr Hirn wieder hervorzukramen. Denn dann merkt sie selbst, wie die Dinge stehen.
"Du musst ihn jetzt hassen. Süße, verzeih mir, aber das Schwein hat Dich verlassen. Mach ihn für alles auf der Welt verantwortlich. Und dann vergiss ihn." Maya hat mal wieder eine klare Linie vorgegeben.
"Wenn ich ihn jetzt hasse, dann bin ich doch am Ende." Nein, ich habe nie gesagt, geschweige denn geglaubt, dass man in solchen Phasen logisch denken kann. Und argumentieren schon mal gar nicht. Aber mit dem, was danach kommt, macht sie mir tatsächlich Angst.
"Wir waren sechs Jahre zusammen." Ja, sechs Jahre in denen er zwei Dutzend anderer Frauen nebenbei gevögelt hat. Aber das sage ich nicht. Denn es wäre nicht nett. Und außerdem ist das noch beschönigend und das hat er nicht verdient. "Und wenn ich jetzt sage, dass er immer schon schlecht war. Dass er nie zu mir gepasst hat, dass ich ihn jetzt hasse und dass die ganze Beziehung schon viel zu lange gedauert hat", sie fischt sich ein Taschentuch aus der halbleeren Box. "Dann hab ich sechs Jahre in den Sand gesetzt. Und mich sechs Jahre lang belogen, weil ich doch zufrieden war. Das geht nicht. Dann fehlt ein Stück von mir. Und auf mich verzichte ich nicht. Um keinen Preis der Welt."
Mitten in dem Schweigen, das keine von uns will, klirrt Sabine wieder mit ihrem Löffel, aber diesmal merkt sogar sie, dass das nicht gut ankommt und stellt ihre Tasse fast geräuschlos auf den Tisch. Während Chris’ Gedanken durch mein Hirn sacken, wünsche ich mir viel zu laute Musik, die das alles verlangsamt. Oder irgendwas, das mir sagt, dass sie auf keinen Fall Recht haben kann. Haben darf. Denn wenn doch, dann ist es soweit. Dann muss ich mir auch ein paar Gedanken machen. Und freiwillig tu ich das nicht. Meine Schubladen sind gut verschlossen, mit der angemessenen Mischung aus Hass, Wut und Abneigung gefüllt, sauber katalogisiert und bei Bedarf verfügbar. In meinem Archiv herrscht Ordnung. Herrschte.
Das hat man wohl davon, wenn man Freunden hilft, denke ich, als wir schlafen gehen. Denn Chris macht es sich heute abend dann doch wieder auf meiner Couch bequem, sofern das geht. Letztendlich will ich einfach nicht, dass sie Recht hat. Aber schlafen kann man dann ja doch nicht. Sie kann gar nicht Recht haben, denn in solchen Situationen kann man nie logisch denken. Geschweige denn argumentieren. Mitten in der Nacht bekomme ich dann doch noch Hunger und plündere den Kühlschrank. Aber leise, denn Chris scheint zum ersten Mal zu schlafen. Das freut mich für sie.