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- 04.08.2001
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Der Weg eines alten Mannes
Der Weg eines alten Mannes
Die Leiden des Alterns wurden Konner in der letzten Zeit immer stärker bewusst. Er hatte sie nie so sehr gespürt, wie in den vergangenen Wochen und Monaten.
Das Schlimmste war, daß man gezwungen war, sein gesamtes Leben auf die immer geringer werdenden Fähigkeiten des eigenen Leibes einzustellen. Der Körper, der einzige Besitz, den man ohne Bedingungen geschenkt erhält, wird zum Feind seiner selbst. Das Warten auf eine kleine Erlösung - ein kurzes Hinsetzen, ein wenig Verschnaufen an einer Straßenecke - wurde von Tag zu Tag sehnlicher, die Erquickung von Mal zu Mal süßer. Mehr als einmal dachte er darüber nach, welches Alter Gott wohl für den Menschen vorgesehen hatte.
Seinen siebzigsten Geburtstag feierte er allein in seinem dunklen Haus am Rande der Stadt. Er glich den Geburtstagen der vergangenen Jahre, um genau zu sein der letzten zehn Jahre. Solange war es her, daß seine Tochter sich aufgemacht und ihn verlassen hatte. Sie wohnte jetzt irgendwo in der Welt; wo genau das war, vermochte er nicht zu sagen.
Seit jener unglücksseligen Nacht im August 86 hatte er sich Tausende Male gefragt, was er falsch gemacht hatte, ob er etwas falsch gemacht hatte. Hätte er das Unglück verhindern können, wenn er eingegriffen hätte? Doch dazu hätte er in Kenntnis gesetzt sein müssen. Allein, er hatte nichts geahnt von der Tragödie, die sich anbahnte. Er hatte weiter vor sich hin gelebt, und die Veränderungen, die er vielleicht wahrgenommen hatte, verdrängt.
Als er früh aufgestanden war, wie jeden Morgen, wollte er seine Enkelin wecken wie er es gewohnt war. Sie war damals gerade siebzehn geworden und frisch verliebt. Man sagt, seine erste Liebe vergisst man bis zu seinem Tode nicht.
Sie hatte sich an einem Deckenbalken erhängt. Ihren Freund hatte er nur einmal zu Gesicht bekommen gehabt, und er hatte ihm auf Anhieb missfallen. Er wusste nichts von ihm, außer dass er Gerloff hieß und Bankangestellter war.
Seine Tochter und er hatte niemals offen darüber geredet, aber er spürte, dass sie ihn dafür verantwortlich machte, aus welchem Grund, das konnte er nicht sagen. Als sie ihm mitteilte, dass sie aus der Stadt fortziehen würde und ihm ihre neue Adresse nicht angab, da wusste er, dass er innerhalb kürzester Zeit seine Enkelin und zudem sein einziges Kind verloren hatte. Jetzt war er allein. Seine Frau war vor dreizehn Jahren schon gestorben, und das Leben hatte damals einen Teil seines Sinns verloren gehabt. Nun lebte er sein Leben und wartete auf den Tod.
Der Abend seines Geburtstages verlief wie viele Abende vorher. Er erledigte die vielen, zur Routine gewordenen Arbeiten mit der Fertigkeit des täglichen Einerleis. Seine Hühner, sieben an der Zahl, die er jedes einzelne erkennen und beim Namen nennen konnte, warteten an der Stalltüre auf ihn und als er das Wasser auskippte und den Zaun überprüfte, trotteten sie alle sieben hinter dem alten Mann her. Er kehrte sie in den Stall, verschloss ihn und ersetzte das alte Wasser durch frisches.
Dann schritt er seinen Garten ab, stolz wie ein Gutsbesitzer in der untergehenden Sonne. Dabei hielt er die Augen offen, um eventuelle Ungereimtheiten auf seinem Land zu entdecken.
Sein Grundstück, das er vor langer Zeit von seinem Vater ererbt hatte, grenzte direkt an einen Nadelwald. Einerseits war es hier sehr idyllisch, im Frühjahr und im Sommer, sogar der Herbst und der Winter hatten ihre eigene Schönheit. Die Erinnerungen an seine Kindheit waren überstrahlt von den Sonnenuntergängen im Sommer, die er erlebt hatte. Darüber konnte man leicht die Risiken vergessen, die hier auftraten. Vor allen Dingen die Hühner lebten gefährlich. Es konnte möglich sein, dass in einem Unglücksjahr ein Fuchs hier sein Revier aufschlug, welches dann in jedem Falle den Hühnerhof mit einschloss.
Deshalb schaute er sich den Garten und dessen Umgebung Abend für Abend genau an und überprüfte ihn nach Fährten, toten Tieren, frisch aufgeworfenen Hügeln oder gerade erst gegrabenen Löchern, die auf einen neuen Bau schließen lassen könnten.
Sein anschließendes Mahl war kärglich, nicht aus der Not heraus, eher aus fehlendem Interesse. Er redete sich schon seit langem ein, dass die Bedürfnisse in seinem Alter nicht mehr so stark ausgeprägt seien wie in Jugendzeiten. Er musste sich überwinden, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, doch er schaffte es wie jeden Abend mit einem simplen Trick: Er bildete sich ein, es schmecke ihm vorzüglich und er habe riesigen Hunger. So gelang es ihm wenigstens, eine kleine Stulle zu essen ohne zu würgen.
So saß er in der kleinen Küche, die erleuchtet war von einer winzigen Neonlampe, und er schob geduldig ein kleingeschnittenes Häppchen nach dem anderen in den Mund. Dabei hörte er die Nachrichten im Radio an.
In diesem Augenblick fühlte er sich einsamer denn je. Es gab nur ihn auf der Welt und den Sprecher der Nachrichten.
Als er ein junger Mann gewesen war, als er die Frau kennen gelernt hatte, die seine große Liebe werden sollte, und die einzige in seinem Leben, damals, als ein Radio zu besitzen ein Privileg war, da hatten ihn die Nachrichten am Programm ganz besonders interessiert. Das Fenster zur großen Welt! Und er hatte geschimpft und geflucht, wenn ihm etwas zuwider war, an den Neuigkeiten des Tages, und er hatte sich gefreut und gelacht bei der Bekanntgabe guter Nachrichten; die Meldungen hatten ihn immer emotional bewegt, auf die eine oder andere Weise.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sich das geändert hatte, ab wann er gelassener umgegangen war mit den Informationen. Er hatte einen gewissen Abstand gewonnen zu der Welt. Vielleicht war es auch so, dass die Welt da draußen auf Abstand zu ihm gegangen war.
Er horchte auf, als seine Heimatstadt erwähnt wurde. Der Nachrichtensprecher sagte, dass der Raub, der sich vor einigen Tagen in der Deutschen Bank ereignet hatte, noch nicht aufgeklärt war. Die Polizei, so der Mann, ging jetzt von mindestens zwei Tätern aus und hätte ihre Ermittlungen danach ausgerichtet.
Er hatte von diesem Verbrechen gehört, sogar in der Zeitung hatte man davon berichtet. Der oder die Täter mussten sich in den Örtlichkeiten der Bank genauestens ausgekannt haben. Der Räuber hatte einen Zeitpunkt abgewartet, zu dem der Betrieb im Schalterraum gegen Null tendierte. Er war hereinspaziert und hatte die Angestellten bedroht. Ein eifriger Mitarbeiter hatte den Alarm ausgelöst, aber das störte den Täter überhaupt nicht. In aller Ruhe ließ er sich das Geld in eine Tasche stopfen und schloss die wenigen Kunden, die sich in der Bank aufhielten und die Angestellten in den Tresorraum ein. Mittlerweile war das Gebäude von der Polizei umstellt gewesen. Die Führung der Behörde ging von einer Geiselnahme aus und wartete auf die Bedingungen, die der Unbekannte ihnen stellen würde.
Was jetzt passierte, konnte man nach den offiziellen Meldungen nicht recht nachvollziehen. Man sprach von einer geheimen, vergessenen Tür zu den Räumen, die sich neben der Bank befanden. Das wäre natürlich eine Schlamperei höchsten Grades gewesen. Andere sprachen von einem Durchbruch, an dem man schon mehrere Tage vor dem Überfall gearbeitet hatte. Deshalb nahm die Polizei an, dass einer der Täter internes Wissen über die Innenräume der Bank gehabt hatte, wahrscheinlich ein Angestellter.
Der Bankräuber war unerkannt entkommen. Die Polizei tappte bei der Person völlig im Dunkeln, der Täter hatte eine Skimaske getragen und sich mit dem Personal nur mittels Zettel unterhalten. Was die ganze Sache erst recht interessant macht, war die Summe, die erbeutet worden war: Eine Million Mark waren jederzeit willkommen! Der oder die Täter hatten genau den Termin abgewartet, der für sie am lohnendsten schien. Zwei Stunden später wäre das Geld nicht mehr zu holen gewesen; ausgegeben, abtransportiert.
Schon allein deshalb schien es logisch, davon auszugehen, dass die Räuber im Bankgewerbe zu suchen waren.
Einer gewissen Sympathie für die Bankräuber konnte sich Konner nicht erwehren. Die Dreistigkeit und die Frechheit, mit der sie vorgegangen waren, nötigte einem Respekt ab und gerade eben sagte sein Freund der Nachrichtensprecher, dass vom Täter noch immer jede Spur fehle.
Nach dem Abendbrot steckte er sich eine Zigarette an. Er hatte vor kurzem wieder angefangen damit, nach über zwanzig Jahren Enthaltsamkeit. Was sollte es, sagte er sich. Sterben würde er sowieso, und wen störte es, wenn er sich den verbleibenden Weg zu seinem ganz persönlichen Feierabend mit Nikotin versüßte. Es war niemand da, der ihm davon hätte abraten können.
Abwaschen nach dem Abendmahl war ebenso zur Routine geworden, wie sein täglicher Rundgang. Nachdem er das wenige Geschirr weggeräumt hatte, kontrollierte er die Türen und löschte im Haus das Licht.
Dann holte er sich eine Flasche Rotwein aus dem Keller, entzündete eine Kerze im Wohnzimmer und nahm sich Edgar Allan Poe vor: "Ligeia". Der Spezialist für solch einsame Stunden.
"Oh, welche Galanacht
bricht in des Spätjahrs Einsamkeit!"
Sein alter, namenloser Kater saß die ganze Zeit neben ihm, den Kopf auf der Sofalehne, die Augen halb geschlossen. Dann und wann blinzelte er ein wenig, sah seinen Herrn an und verfiel gleich darauf wieder beruhigt in einen trägen Dämmerzustand.
Seltsam! Früher hatte er Katzen nie gemocht, doch an diesem Tier hing er seit dem Tage, an dem es ihm zugelaufen war. Er hatte noch immer keinen Namen für die Katze gefunden, obwohl sie schon seit über drei Jahren bei ihm wohnte. Er nannte seinen Freund "Kater" und diesem schien es recht zu sein.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht vernahm er ein schabendes Geräusch. Es war ganz deutlich zu hören. In regelmäßigen Abständen, ganz langsam, als kratze jemand mit dem Fingernagel über eine alte Zeitung. Zuerst hielt er es für einen Ast des alten Birnenbaumes vor seinem Fenster, doch dann fiel ihm ein, dass er den Baum im letzten Frühjahr geschnitten hatte und peinlich darauf bedacht gewesen war, dass die Zweige nicht an die frisch getünchte Häuserwand heranreichten.
Merkwürdigerweise verspürte er keine Furcht, als er sich klarmachte, dass er nicht wusste, woher diese Laute stammten. Er ging mit kalter Analytik an das Problem heran, doch er konnte es nicht lösen. Nach gut zehn Minuten verflog das Geräusch ebenso geheimnisvoll wie es gekommen war.
Die Stille, die darauf folgte, war noch schwerer zur ertragen, als vorher. Doch er spürte immer noch keine Angst, nur Einsamkeit.
Er saß da, regungslos, das Buch auf den Knien, den Blick starr geradeaus in die ihn umgebende Dunkelheit gerichtet. Der unruhige Lichtschein der Kerze erstreckte sich gerade eben über den Tisch. Darüber hinaus herrschte eine finstere Ungewissheit, die ihn zwar frösteln machte, ob der Kälte und Verlorenheit, in der er sich befand, ihm aber keineswegs Furcht abverlangte. Diese Verlassenheit, sie schien ihm das Ungemach seines Lebens zu sein.
Die letzte Möglichkeit vor ihr zu fliehen war ein tiefer, traumloser Schlaf. Also klappte er das Buch zu, entließ den Kater durch die Hintertür in eine sternenlose, windige Nacht und begab sich mit schlurfenden Schritten in sein Schlafzimmer. Er legte sich in das rechte der beiden Ehebetten, während die andere Hälfte noch ebenso unberührt und lediglich mit einer Tagesdecke geschützt dalag, wie seit dreizehn Jahren. Ächzend zog er seine Bettdecke bis zum Kinn hinauf und knipste das Licht aus.
Dann lag er allein in der Dunkelheit seines Hauses und wartete auf den Schlaf. Doch der wollte sich nicht einstellen. Stattdessen zogen Bilder vor ihm auf, die er mehr als alles andere fürchtete.
Es war ein wunderschöner Morgen gewesen, von dem man nur das Beste erwarten konnte. Der Frühling hatte gerade begonnen und alles schien im Aufbruch zu sein. Er hatte ein Lied gepfiffen und die Melodie hing noch in der Luft, als er die Türe öffnete.
Ihr Zimmer lag nach Osten hinaus, so dass seine Enkelin stets in den Genuss der Morgensonne kam. Das war auch jetzt so. Ihr leise baumelnder Körper wurde von Sonnenstrahlen umhüllt, so dass es schien, als würde sie leuchten. Das Seil hatte sie laienhaft um einen dicken Deckenbalken geschlungen und es war ein Wunder, dass es gehalten hatte. Auf der Erde unter ihr lag ein umgestürzter Stuhl.
Ihr Gesicht war friedlich, und bis auf die unnatürlich weit heraushängende Zunge und die extrem blauen Lippen sah sie aus als schliefe sie.
In der Sonne tanzten die aufgewirbelten Staubflocken, draußen sangen die ersten Vögel. Als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, schrie er leise auf und drehte sich langsam um. Seine Tochter stand hinter ihm, die Augen so weit und so rund, als wären sie mit einem Zirkel gezeichnet. Sie hatte ihren Mund geöffnet, aber außer einem heiseren Krächzen brachte sie nichts hervor. Ihre Haare standen wirr nach allen Seiten ab und für einen irrsinnigen Moment hätte er laut auflachen mögen.
Dann drehte er sich wieder zu seiner Enkelin um, warf sich vor ihr auf den Boden und begann unkontrolliert zu schluchzen, geschüttelt von heftigen, alles erfassenden Krämpfen.
Sein Lager war feucht von Schweiß und zerwühlt vom dauernden Hin- und Hergewälze auf der Suche nach Schlaf, als er plötzlich und ohne Übergang von ihm übermannt wurde. Doch seine Hoffnung auf Erholung war vergeblich. Alpträume, die er schon aus den vergangenen Nächten kannte, schüttelten ihn.
Wie jedes Mal war er gefangen im Nichts.
Er lag in einer Leere, die sich über alles erstreckte, was er wahrzunehmen vermochte. Es war nichts über ihm noch unter seinem Körper, es schien nichts zu existieren, außer er selbst. Und er befand sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit, umgeben von einem weichen, waberndem Licht, das von überall her zu kommen schien.
Und dann schwebte plötzlich eine riesige, schwere Standuhr mit einem unglaublich großen Pendel über ihm, das langsam und unerbittlich hin- und herschwang, mit einem dumpfen, gleichmütigen Ticken. Er war unfähig, sich zu bewegen, schien gefesselt von dem alles durchdringenden Licht und dem Anblick der Uhr, die sich träge um ihre eigene Achse drehte. Zu allem Überfluss konnte er nicht erkennen, welche Zeit diese Uhr anzeigte.
Das gleichförmige Geräusch der Uhr schien immer lauter zu werden, gleichsam in seinem Kopf zu schlagen. Bei jedem Schwung des klobigen Pendels vibrierten seine Nerven wie Grashalme im Wind. Er konnte die Bewegungen der Rädchen und Schrauben, der Federn und Schnecken im Uhrwerk förmlich hören; die Uhr, die über ihm schwebte, schien nur zu existieren, um ihn zu peinigen.
Das Ticken, dieses ewig gleiche Hin und Her des Pendels, wurde immer stärker und hatte bald die Intensität eines apokalyptischen Donnergrollens erreicht.
Und als er es dann nicht mehr aushielt, als er meinte, sein Kopf müsse zerspringen, begann er zu schreien, um das fürchterliche Geräusch dieser Uhr nicht mehr hören zu müssen. Davon erwachte er dann endlich.
Und in der Stille seines dunklen, kalten Schlafzimmers sah er nur die phosphoreszierenden Leuchtziffern seines kleinen Weckers, der neben seinem Bett stand. Und er hörte ihn leise und unbeeindruckt ticken.
*
Er begann den Tag mit einem kleinen Frühstück - Kaffee, eine Scheibe Toast, eine Zigarette und die Morgenzeitung.
Der Banküberfall, der ihn immer noch interessierte, wurde mit keinem Wort erwähnt. Das hieß dann ja wohl, dass es nichts Neues gab in diesem Fall. Für die Medien war er solange abgeschlossen, bis die Täter gefasst oder ein Detail ans Licht kam, das sich gehörig ausschlachten ließ.
Der Seite mit den Todesanzeigen ließ er besonderes Interesse angedeihen. In den fett umrandeten Kästchen suchte er bekannte Namen, die eine direkte Verbindung zu seiner Vergangenheit ermöglichten. Doch auch heute, wie jeden Tag, konnte er keine entdecken, die ihm bekannt vorkamen. Er wusste nicht zu sagen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Nachdem er sich gewaschen und einigermaßen hergerichtet hatte, ließ er den Kater, der von seinen nächtlichen Streifzügen zurückgekehrt und schon vor dem Haus herumgestrichen war, durch die Hintertüre herein. In der Küche stellte er für ihn ein Schälchen Milch auf den Boden und die Katze stürzte sich wie ein Verdurstender darauf. Er dachte: Muss eine anstrengende Nacht für dich gewesen sein, und lächelte, strich ihr kurz über den Rücken und verließ dann das Haus.
Er machte seinen allmorgendlichen Spaziergang.
Er stieß sein Gartentor auf mit der Miene eines Lord Nelsons während der Schlacht am Trafalgar. Seht her, ich lebe noch!
Zu den üblichen Requisiten dieses Rituals gehörten sein Stock, der ihn jetzt schon fünf Jahre begleitete, und sein Hut, der schon sein Weggefährte gewesen war, als seine Frau noch lebte. Sie hatte ihn nie leiden mögen und so war das Kleidungsstück erst zu Ehren gekommen, als sie nicht mehr war. Er hatte sich einigermaßen herausgeputzt - den Nachbarn und der restlichen Welt zu zeigen, dass es ihn noch gab und er noch nicht vor die Hunde gegangen war, sich noch nicht dem Suff hingegeben hatte oder verdreckt und verlaust durchs Leben ging. Für Fremde war er ein freundlicher alter Herr, der vielleicht auf dem Weg zu seinen beiden süßen kleinen Enkeln war oder aber der zum Einkaufen ging, für sich und seine wartende Frau.
Auf seinem Weg kam er an dem Spielplatz eines Kindergartens vorbei, ein neuer, liebevoll eingerichteter Platz, eingesäumt von riesigen Linden und mit jeder Menge Krach darauf. Er blieb eine Weile stehen, gestützt auf seinen Stock, und schaute dem umherquirrlenden Treiben inmitten der Schaukeln, Rutschen und Sandkästen zu. In einer entlegenen Ecke standen drei erwachsene Frauen und unterhielten sich. Offenbar waren es die Erzieherinnen der Kleinen.
Ihm fiel ein kleiner Junge auf, der etwas abseits von den anderen stand und von ihnen ignoriert wurde. Er stand nur da und beobachtete seine Kameraden beim Spiel, sein Blick hatte etwas Entrücktes an sich, vielleicht auch etwas Wissendes.
Dann plötzlich wandte er ruckartig den Kopf herum und blickte Konner direkt in die Augen. Sekundenlang starrten sich beide an und der alte Mann war unfähig, den Blick abzuwenden. Unvermittelt begann das Kind zu lächeln, ehrlich und offenen Herzens.
Obwohl Konner unglaublich traurig zumute war, lächelte er zurück. Habe Mut, kleiner Junge, dachte er, wandte sich ab und setzte seinen Weg langsam und zielstrebig fort.
Sein Ziel war klar, jeden morgen lag es vor ihm, und schon jeden Abend freute er sich darauf. Als er in dem kleinen gepflegten Stadtpark anlangte, musste er sich setzen, auf seine Bank. Er rieb sich das rechte Bein und dachte an seinen Hausarzt. Mit Durchblutungsstörungen, so sie nicht behandelt werden, ist nicht zu spaßen! Er fragte sich, womit in dieser Zeit überhaupt noch zu spaßen war.
Der Stadtpark trug die für den Monat November typische Trostlosigkeit und Gräue zur Schau. Schnee war noch ausgeblieben dieses Jahr. Die großen Ahornbäume in ihrer skelettartigen Nacktheit umsäumten die breiten Wege des Parkes, die geometrisch so genau angelegt waren, dass man sie hätte zum Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel benutzen können. Die menschenleere Stille dieses Ortes wurde nur durch den gelegentlichen Schrei eines Vogels unterbrochen. Es war kurz nach neun, die hektische Geschäftigkeit hatte sich auf andere Teile der Stadt verlagert. Es war ruhig hier um diese Zeit. Darin war ein Grund zu suchen, weshalb es ihn jeden Morgen hierher trieb.
Auf dem kleinen Teich in seinem Rücken, mit seinem dunklen, unergründlichen Wasser, zogen einige traurige Enten ihre Kreise, ohne große Hoffnung auf Brotkrumen oder Abfälle, von alten Damen geworfen oder Herren, wie er einer war. Er hatte es bis jetzt immer geschafft, dieses Klischee zu vermeiden, und auch heute kamen die Tiere umsonst bei ihm angeschnattert.
Er betrachtete in Gedanken versunken die gegenüberliegende Bank. Im Grunde war es eine ganz gewöhnliche Parkbank, wie sie wohl zu Tausenden in den Grünanlagen dieses Landes standen und ihren Dienst taten. Sie war ein wenig durchgesessen, die Streben hingen in der Mitte etwas durch, die Farbe war teilweise abgeblättert. Aber sollte nicht etwas unvorhergesehenes dazwischenkommen, würde diese Bank sicherlich noch einige Zeit durchhalten.
Er konnte es nicht verheimlichen - er wartete auf sie. Seine Finger spielten ungeduldig mit dem Stock, der Blick wanderte unruhig von einer Seite zur anderen, mit den Füßen hatte er den Sand vor sich aufgewühlt. Jede Faser seines Körpers war darauf eingestellt, dass sie im nächsten Moment um die Ecke gelaufen kam. Er fühlte sich wie ein verliebter kleiner Schuljunge. Doch das war es nicht, da war er sich ganz sicher.
Er hatte schon vor vier Tagen auf sie gewartet, und da war sie zum ersten Male ausgeblieben. Er hatte auch am Tag darauf und am gestrigen Tag auf sie gewartet, von Minute zu Minute ungeduldiger, fiebernd wie ein Süchtiger nach dem nächsten Kick, so wie eben jetzt. Und er war von Tag zu Tag beunruhigter geworden, hatte sich von Mal zu Mal mehr Sorgen gemacht. Und in dieser Zeit, in der ihr tagtägliches Treffen ausfiel, hatte er erst gemerkt, wie sehr er sich daran gewöhnt hatte in den vergangenen zwei Jahren.
Sie war ihm gleich bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Er hatte damals im Oktober vor zwei Jahren auf genau derselben Bank gesessen wie heute, hatte sich ausgeruht von dem Weg, Kräfte gesammelt für den Rest. Da war sie erschienen, keuchend und schweißnass hatte sie sich auf die Bank gegenüber fallen lassen. Sie war beim Joggen und machte wie er eine Pause. Er hatte sie seit ihrem Erscheinen nicht aus den Augen gelassen gehabt, unbeweglich saß er da, wie ein alter verwitterter Stein. Sie hatte leuchtend blaue Augen, die einen Tic zu weit auseinander standen und überaus blonde Haare, die sie im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Ihre ganze Erscheinung prädestinierte sie dazu, aufzufallen.
Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatte, hatte sie den Blick gehoben und ihrerseits ihn angestarrt. Das machte ihn verlegen und er hatte den Blick gesenkt.
Ihr erstes Treffen hatte zehn Minuten gedauert. Ebenso unvermittelt wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder. Sie stand abrupt auf, schenkte ihm ein Lächeln, das er gern erwidert hätte, wozu er allerdings zu verwirrt war, und trabte davon.
Am nächsten Tag hatte sich dieselbe Prozedur wiederholt, und am Tag darauf hatte er erstaunt festgestellt, dass er ungeduldig auf seiner Bank hin- und herrutschte und sie erwartete. So ging das einige Zeit weiter. Es verging kein Morgen mehr, an dem sie sich nicht gegenübergesessen hätten; nach der Verwirrung, in die ihn ihr erstes Lächeln gestürzt hatte, war er fähig geworden, mit einem Lächeln zu antworten. Die Treffen der beiden endeten stets damit, dass sie sich plötzlich erhob und weiterlief.
Die Zusammenkünfte mit der Joggerin begannen zu seinem Tagesplan zu gehören, wie das Frühstück und der morgendliche Spaziergang. Verwundert bemerkte er, dass er sich des Abends schon auf den morgigen Gang durch den Park freute, dass er kaum die Zeit abwarten konnte, loszumarschieren, wie ein Knabe, der vor der Tür zum Weihnachtszimmer wartet. Doch es hatte keinen Sinn, vor dem Termin bei der Bank im Park zu erscheinen. Die einsame Joggerin kam täglich um Punkt 8.30 Uhr schwer atmend um die Ecke gelaufen und ließ sich auf ihre Bank fallen. Dann sahen sie sich beide an, schwiegen ein wenig, sie lächelte kurz und verschwand dann wieder.
Die ersten Worte, die die beiden miteinander wechselten, fielen einige Wochen nach ihrem ersten Treffen. Der Anstoß kam von ihr, er war viel zu fasziniert von ihrer Erscheinung, als dass er ein Wort an sie gerichtet hätte.
Als sie sich eines Tages schnaufend auf die Bank ihm gegenüber warf und die schweißnassen Haare aus dem Gesicht streifte, meinte sie beiläufig: "Ich weiß auch nicht, warum ich mir das antue."
"Sie haben Ihr Ziel erreicht", erwiderte er. Sie verstand das als Kompliment und dankte ihm lächelnd.
Danach war es, als wäre ein Wall gebrochen zwischen ihnen, irgendeine Art Mauer, gestützt von beiden Seiten, war umgerissen worden.
Die Zusammenkünfte dieser zwei unterschiedlichen Personen gestalteten sich von nun an immer abwechslungsreicher. Sie hatten sich viel zu erzählen. Das heißt, meist redete der alte Mann von sich und seinem Leben, gab ihr seine Meinung zu den unterschiedlichsten Themen kund, sprach Probleme an, die ihn quälten und beschwerte sich bei ihr über Sachen, die ihn aufregten. Zu seinem eigenen Erstaunen bemerkte er, dass er ein blendender Unterhalter sein konnte - charmant, klug und witzig. Und es machte ihm Spaß, Anekdoten aus seinen Erfahrungen zum Besten zu geben und die Reaktion darauf von ihrer Seite zu erleben.
Und auch der jungen Frau schien es Freude zu bereiten, ihm zuzuhören, dann und wann verständnisvoll zu nicken, hier und da einmal kurz aufzulachen, quasi Beifall zu spenden für die gelungene Vorstellung.
Er berichtete, wie er seine Frau kennengelernt hatte, in den frühen fünfziger Jahren, die geprägt waren von Mangel und Not, wie sie sich gegen den Willen ihrer Eltern zusammengerauft hatten. Es war möglich, dass er dabei nachträglich eine Romeo-und-Julia-Note in die Episode hineindeutete. Aber das machte nichts, sie kam gut an. Ebenso die Geschichte von der Geburt seiner Tochter, als sie noch auf dam Lande wohnten, wo es einen Arzt für mehrere Dörfer gab, der nebenbei noch die Kühe und Schweine der Bauern behandelte. Er war damals, als es losging bei seiner Frau, in einer stürmischen Nacht losgeritten auf dem Pferd seines Nachbarn und hatte den Arzt verständigt. Als sie beide an seinem Heim angekommen waren, war seine Tochter schon auf der Welt. Die Mutter saß in ihrem Bett und hielt lachend das Kind in ihrem Arm, während der Doktor und er mit wirren Haaren und regennassem Gesicht in der Tür standen und sich erklärungsheischend und verwirrt ansahen.
Als er diese Geschichte zum Besten gab, verletzte er eines der grundlegenden Gesetzte eines guten Unterhalters: Er stand nicht über den Dingen, die er da erzählte. Er war im Gegenteil mittendrin, er war selbst Teil der Geschichte gewesen und so hatte er nicht genügend Abstand um sie flüssig und gut zu erzählen.
Sie bemerkte das sehr wohl, und war klug genug, darauf nicht weiter einzugehen. Stattdessen gab sie ihm einige Informationen über ihr eigenes Leben. Er war ihr dankbar dafür, denn er hatte gespürt, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Er hatte sich seinen Erinnerungen hingegeben und seine Zuhörerin war Zeuge geworden, wie diese ihn überwältigten, wie er von ihnen aufgefressen wurde.
Sie ihrerseits nahm ihn mit auf einen kurzen Besuch in ihrer Vergangenheit. Sie hatte ihm ihren herrschsüchtigen, alkoholabhängigen Vater vorgestellt, hatte ihn teilnehmen lassen an einigen seiner hasserfüllten Wutausbrüche, die sich stets auf die Familie entladen hatten. Sie machte ihn bekannt mit ihrer übergewichtigen Mutter, die nicht nur körperlich, sondern auch mental einer riesigen Glucke ähnelte. Sie zeigte ihm, wie die Mutter klug den Angriffen des Vaters, der sich manchmal tatsächlich aufführte wie ein stolzer Hahn, aus dem Wege ging und sich und ihre eigenen Kinder gegen ihn schützte.
Außerdem führte sie ihn bei ihren beiden älteren Brüdern ein und beschrieb das Verhältnis zwischen ihnen, das ihn stark an die Bande eines sizilianischen Clans erinnerte, mit ihrer seltsamen Auffassung eines Ehrenkodexes. Wie Leibwächter sah er die beiden ihre Schwester vor jeder Ungemach des Lebens beschützen, sicherlich nicht nur einmal gegen ihren Willen.
Irgendwann begann er dann wieder aus seinem Leben zu erzählen, als lese er ein Stück aus einem fremden Buch vor, eine Geschichte, die ihm neu war. Tag für Tag enthüllte er vor ihr ein weiteres Teil seines Lebens, bis hin zur großen Tragödie seines Daseins. Damit zeichnete er sie aus, der Mensch zu sein, der ihm am nächsten stand, dem er alle seine Intimitäten preisgab.
In einer Anwandlung von Koketterie gab er ihr eines Tages seine Adresse mit der Bitte, sie möge ihn besuchen, nur auf eine Tasse Kaffee selbstverständlich. Sie lehnte dankend ab.
Im Gegenzug gab auch sie ihm ihre Anschrift, doch bis heute hatte er sich nicht getraut, dort einmal vorbeizuschauen, obwohl er es ihr versprochen hatte.
Jetzt blieb sie schon seit vier Tagen aus, und er fühlte sich zunehmend wie ein Börsenspekulant, dem man das Wirtschaftsblatt genommen hatte.
Vier Tage ohne Opium! Der Stoff, der ihn am Leben hielt. Am quälendsten empfand er, dass er nicht wusste, warum sie ausblieb. Er war überzeugt davon, dass sie, hätte sie im Voraus von ihrem Fortbleiben gewusst, ihn davon unterrichtet hätte. Sie hätte eine beiläufige Bemerkung fallengelassen, am Rande des Gesprächs. Diese Annahme handelte er schon als Fakt, er ging davon aus, dass sie eine Tatsache war. Deshalb war es für ihn sicher, dass sie bis zu ihrem letzten Treffen nicht ahnte, dass sie sich zum vorläufig letzten Male sehen würden.
Demnach müsste etwas Unvorhergesehenes in ihrem Leben geschehen sein, etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte, das aus heiterem Himmel auf sie eingestürzt war. Ein Unfall etwa, ein plötzlicher Todesfall in der Familie. Vielleicht hatte ihr Vater es nach langen Jahren endlich geschafft, sich in den Abgrund zu trinken.
Vielleicht war ihr selbst etwas zugestoßen! Wie er ihren Erzählungen hatte entnehmen können, wohnte sie allein - keine Freunde, kein Mann. Die Möglichkeit, dass jemand, wenn ihr in ihrer Wohnung etwas zugestoßen war, sie finden würde, war ausnehmend gering.
Einmal während seiner Grübeleien meinte der alte Mann, sie käme dort hinten um die Ecke gelaufen, wie jeden Tag in den vergangenen zwei Jahren, verschwitzt und ausgelaugt, aber lächelnd. Doch beim näheren Hinsehen war es ein kleiner Junge mit einem Ranzen auf dem Rücken, der schließlich an ihm vorbeijagte. Er hatte wohl verschlafen und war auf dem Weg zur Schule.
Der Park war wieder menschenleer und leise begann es zu regnen.
Der alte Mann saß weiterhin unbeweglich auf seiner Bank, den Stock neben sich, den Blick starr geradeaus. Der Himmel verfinsterte sich zusehends und es war abzusehen, dass es bald beginnen würde, stärker zu regnen.
Mit einem plötzlichen Ruck stand der Alte auf, wies sich selbst mit dem Stock die Richtung und ging mit forschen Schritten davon.
*
Ihre Mutter hatte den Abschiedsbrief gefunden, als sie dabei waren, ihr Zimmer aufzuräumen. Er war dagegen gewesen, doch seine Tochter hatte noch am nächsten Tag begonnen, alle Spuren seiner Enkelin zu beseitigen. Sie hatten die Tage nach dem Unglück kein Wort miteinander gewechselt, nicht einmal die notwendigsten. Sie waren sich aus dem Weg gegangen, jeder in seinem eigenen Umhang aus Trauer gehüllt. Einige Male, als sie sich begegneten und nicht rechtzeitig ausweichen konnten, sah er in ihre Augen, die immer noch kreisrund waren und rotumrandet, ihr Gesicht war fahl wie altes, vergilbtes Zeitungspapier und ihr Blick war müde. Sie blickten sich wenige Momente an und er wollte sie ansprechen oder umarmen. Doch sie wich ihm aus, nicht nur seinem Blick. Sie mied ihn, als sei er ein Fremder.
Sie hatte schon lange niemanden anderes gehabt als ihn und ihre Tochter. Kurz nach der Geburt des Kindes hatte sie ihren Mann verlassen und war zu ihren Eltern zurückgekehrt. Dann war ihre Mutter gestorben, und so hatten drei Mitglieder dreier Generationen unter einem Dach gelebt. Das hatte verbunden, sie waren näher zusammengerückt und hatten zunehmend die Welt ausgeschlossen. Man genügte sich selbst.
Um organisatorische Dinge zu erledigen, war es unumgänglich, dass sie wieder miteinander sprachen. Und so machten Vater und Tochter den kläglichen Versuch, einander zu trösten. Irgendwann im Laufe der dunklen Tage saßen sie sich in der Küche gegenüber und seine Tochter sagte in den stillen Raum hinein: "Sie ist tot!" und er begann von neuem leise zu weinen. Da war sie aufgestanden, zu ihm herübergekommen und hatte ihn ungeschickt umarmt, er hatte begonnen, hemmungslos zu schluchzen und hatte immer wieder vor sich hingeklagt: "Sie ist tot! Sie ist tot!" Nur diesen einen Satz, immer wieder. Spät am Abend hatte sie ihm dann den Brief auf den Tisch gelegt. Sie hatte ihn gleich, nachdem sie ihn gefunden hatte, den Behörden übergeben, und diese hatten ihn ihr nun zurückgebracht.
Er hob müde die Augen und begann zu lesen. Es täte ihr leid, schrieb seine Enkelin, das Leben habe keinen Sinn mehr für sie. Die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Sie schrieb von der ewigen Liebe, die sie gefunden hätte, und von dem Mann für ihr Leben. Er hätte, während er diese Worte las, auflachen mögen. In träumerischen Begriffen beschrieb sie ihren Geliebten, der sie verlassen hatte. Er erkannte sofort Gerloff wieder, und seine Abscheu vor diesem Menschen wuchs immer weiter. Die Schwärmereien seiner Enkelin für diesen Mann gingen weiter. Man sah, dass einige Worte verwischt waren. Sie hatte geweint dabei.
Und dann las er den Satz, der ihm einen Dolch durchs Herz zu bohren schien: "Man merkte, dass mein Großvater, obwohl er ihn nur einmal in seinem Leben gesehen hatte, ihn nicht mochte, und das nahm mein Geliebter zum Anlass, mich zu verlassen."
Er verstand es nicht, es verwirrte ihn. Dieser Kerl hatte seine Abneigung als Vorwand benutzt, um seine Enkelin zu verlassen.
Wortlos nahm seine Tochter den Brief wieder an sich und verließ das Zimmer.
Er stand vor dem großen, dunklen Mietshaus und schaute sich unschlüssig um. Obwohl er das Haus noch nicht betreten hatte, fühlte er sich schon wie ein Eindringling. Er fühlte sich begafft von den wenigen Leuten, die vorbeikamen und durch den Nieselregen an ihm vorbeihasteten.
Das Haus lag in einer typischen Arbeitergegend. Er schätzte, dass das Viertel um die Jahrhundertwende erbaut worden war, um den Tausenden Arbeitern, die neuen, aufstrebenden Fabriken schluckten, Unterschlupf zu gewähren. Dementsprechend verlassen lag die Siedlung am Tage da. Gegen Abend würde dann diese hektische Betriebsamkeit aufkommen, die eine Feierabendstimmung kennzeichnet.
Der Weg von seiner Bank im Park bis hierher war nicht lang gewesen, trotzdem war er außer Atem, denn er hatte die gesamte Strecke in einem strammen Tempo zurückgelegt, als hätte er Angst vor seiner eigenen Courage und davor, dass ihm im letzten Moment noch billige Zweifel hätten kommen können.
Er blickte die Fassade hinauf und entdeckte im ersten Stock ein Fenster mit hellen, fast strahlenden Gardinen dahinter. Sie standen in krassem Widerspruch zu der grauen, trübsinnigen Farbe des Hauses. Das musste ihre Wohnung sein.
Er meinte eine Bewegung hinter der Gardine wahrzunehmen und starrte solange auf das Fenster, bis er blinzeln musste.
In der Wohnung daneben - erster Stock, rechts - stand tatsächlich jemand am Fenster und beobachtete ihn. Als er allzu lange hinaufschaute, verschwand die schemenhafte Gestalt und zurück blieb nur ein gleichmäßiges Hin- und Herschwingen der Store, das mit der Zeit abebbte.
Um nicht allen Mut zu verlieren, betrat er rasch das Gebäude.
Im Treppenaufgang war es finster und kalt. Er versuchte sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, um wenigstens den Lichtschalter zu entdecken. Als die Tür hinter ihm krachend ins Schloss fiel, zuckte er zusammen.
Als er endlich fand, wonach er suchte, flammte eine nackte Glühbirne direkt neben seinem Kopf auf, die einen kahlen, schmutzigen Raum und eine verfallene Treppe enthüllte.
An der grauen Wand waren verschiedene Briefkästen angebracht, nachlässig und ohne erkennbare Ordnung. Einer hing mit letzter Kraft, gehalten von nur noch einer Schraube. Die Werbeprospekte in den Kästen reckten sich ihm entgegen, als flehten sie ihn um Hilfe an. In eine Ecke gedrängt stand ein schäbiger Kinderwagen; irgendjemand hatte aufgefegt, aber vergessen, den Sandhaufen, der jetzt unter dem Kinderwagen lag, zu beseitigen.
Er ging die knarrige Treppe hinauf in den ersten Stock. Das Geländer war so wackelig,
dass er erst gar nicht versuchte, es zu benutzen. Während er sich auf seinen Stock gestützt Stufe um Stufe emporarbeitete, betrachtete er die schmutzigen Wände, verziert mit Unmengen anzüglicher Sprüche, Herzchen und Obszönitäten in verschiedenen Farben.
Verglich er die Leute, von denen er sich vorstellte, dass sie hier wohnten, mit seiner Joggerin, so fragte er sich, wie sie es hier aushielt. Sie war ihm so gar nicht der Typ gewesen, der sich in solch einer Gegend wohlfühlte. Er hatte sich zwar niemals konkrete Gedanken darüber gemacht, wie ihr Leben außerhalb seiner Reichweite aussehen mochte, doch er wusste sehr genau, wie es nicht aussehen würde.
Als er dann vor ihrer Wohnungstür stand - erster Stock, links - sah er, dass er sich auch nicht in der Adresse geirrt haben konnte. Unter dem Klingelknopf stand ihr Name auf einem schmucklosen, weißen Schildchen: Susen Kleiber.
Ebenso forsch wie er in das Haus gestürzt war, drückte er jetzt auf den Klingelknopf.
Wenn sie öffnet, was soll ich ihr sagen, ohne wie ein dummer alter Mann dazustehen, dachte er, von erneuter, plötzlicher Angst durchzuckt.
Die Wohnungstür war das genaue Gegenteil vom Rest des Gebäudes: sauber und frisch gestrichen.
Niemand öffnete.
Er wagte nicht, zu fordernd aufzutreten, deshalb wartete er noch etwas, bevor er zum zweiten Mal klingelte. Doch er wusste, dass niemand öffnen würde. Er drückte ein drittes Mal auf den Knopf, jedoch ohne eine Reaktion zu erwarten.
Stattdessen kam die Reaktion von nebenan, aus der Nachbarwohnung. Die Türe wurde langsam geöffnet und eine junge Frau trat heraus. Er kannte sie nicht und nach ihrem fragenden Blick zu urteilen, wusste auch sie nicht, wer er war. Sie trug enge Jeans und ein noch engeres T-Shirt, so dass ihr voluminöser Busen das Kleidungsstück zu sprengen drohte. Konner musste sich zwingen, nicht auf die Brust der Frau zu starren. Ein Mann bleibt ein Mann, dachte er, bis er endlich stirbt.
"Wer sind Sie?" fragte ihn die junge Frau barsch.
Konner wusste nicht, wohin er blicken sollte, die Augen der Frau funkelten böse, und er mahnte sich, es nicht persönlich zu nehmen.
Er erwiderte: "Ich möchte zu Frau Kleiber."
"Sind Sie ein Freund von ihr?" Ihr Ton wurde nicht eine Spur freundlicher.
"Wissen Sie, was mit ihr ist?"
"Was soll mit ihr sein?!"
Dann herrschte Schweigen. Fremden gegenüber, insbesondere Frauen, war er sich schon immer hilflos vorgekommen. Seit es in seinem Leben keine Frauen mehr gab, hatte er sich von ihnen immer mehr entfremdet, so dass er sicher war, besser mit seiner Katze auskommen zu können.
Er beantwortete ihre Frage: "Ich weiß es nicht. Sie ist nicht daheim. Ich fürchte, ihr ist etwas zugestoßen."
"Sind Sie ein Freund von ihr?" fragte die Frau dieses Mal etwas milder.
"Mein Name ist Konner. Und ich bin wohl so etwas wie ein guter Bekannter von Frau Kleiber."
"Sie sind Herr Konner?" Ihr Gesicht hellte sich auf.
"Ich hoffe, Frau Kleiber hat nichts Nachteiliges über mich erzählt!" Jetzt lächelte die Frau ihm gegenüber sogar ein wenig.
Sie sagte, Sie wären ein guter Freund. Mehr hat sie nicht erzählt. Warum fragen Sie nach ihr?"
"Wissen Sie, wo sie sich aufhält?"
Die junge Frau überlegte nur kurz und sagte dann: "Ich habe sie in den letzten Tagen nicht gesehen. Jetzt, da Sie fragen, fällt es mir auf. Das ist recht ungewöhnlich für sie, mir nicht Bescheid zu sagen. Wir stehen uns ziemlich nahe, soweit das möglich ist, in so einem Haus. Deshalb macht mich Ihr Einwand, ihr könnte etwas zugestoßen sein, ein wenig unruhig. Es ist nicht ihre Art."
Sie hatte kastanienbraunes Haar, das sie jetzt gedankenverloren durchwühlte.
"Gibt es Orte, von denen Sie wissen, an denen sie sich aufhalten könnte?" fragte Konner. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen.
"Natürlich", meinte sie noch etwas versunken. "Doch sie hätte mich sicherlich vorher informiert. Sie kennen das ja sicher mit der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe - Blumen gießen, während der Abwesenheit, Wohnung durchlüften und ähnliches."
Konner dachte an die Zeiten, als das Wort Nachbarschaftshilfe noch zum regulären Sprachgebrauch für ihn gehörte. Es gibt Sachen im Leben, an die erinnert man sich gern und mit Wehmut zurück, und bei anderen weiß man, dass sie einst Bestandteil des eigenen Lebens waren, aber sie sind zu abstrakten Begriffen geworden, zu Runen, deren Bedeutung man nicht kennt.
"Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?" Er schüttelte seine Erinnerungen ab.
Sie überlegte, während sie sich wieder ins Haar griff.
"Das muss drei oder vier Tage her sein", erinnerte sie sich dann. "Wir sind uns im Treppenaufgang begegnet. Kurzer belangloser Wortwechsel, danach ist sie ausgegangen. Warten Sie, das muss am Sonntag gewesen sein. Vormittags, so gegen elf. Ich kam gerade von meiner Mutter. Heute haben wir Donnerstag. Sie war ziemlich kurz angebunden. Mir fiel es damals nicht so auf, weil ich selbst keine Zeit hatte."
Am Sonntag früh hatte er die Joggerin zum letzten Mal gesehen, am Montag hatte er vergebens gewartet. Er hatte den Eindruck gehabt, dass sie ihm nur der Freundlichkeit wegen zuhörte. Ohne eine Andeutung zu machen, dass sie sich die nächsten Tage nicht würden sehen können, war sie dann weiter gejoggt.
"Hat sie Verwandte, zu denen sie gefahren sein kann?"
"Nicht dass ich wüsste. Ich weiß über sie eigentlich nicht allzu viel, aber sie hätte sicher etwas gesagt."
Konner wusste nicht weiter. Er fühlte, dass es eine irrsinnige Idee gewesen war, hierher zu kommen und zu glauben, das Verschwinden der Susen Kleiber wäre im Handumdrehen aufzudecken. Das Schlimmste für ihn war die Aussicht, abziehen zu müssen, ohne etwas erreicht zu haben. In Gedanken machte er sich damit vertraut, eine zwei Jahre währende Gewohnheit ablegen zu müssen, eine gute Bekannte zu Grabe zu tragen. Doch er nahm sich vor, seine Bank täglich aufzusuchen und zu warten, bis sie wieder vorbeikam, um ihm zu erklären, was geschehen war.
Da verschwand die junge, großbusige Frau ohne ein Wort des Abschieds in ihrer Wohnung, doch sie ließ die Türe offen stehen. Nach kurzer Zeit kam sie wieder heraus und hatte ein Bund mit zwei Schlüsseln in der Hand.
"Vor einiger Zeit hat sie mir die überlassen", sagte sie. Ein flüchtiges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. "Blumen gießen", meinte sie nur. Sie ließ ihre Wohnungstüre weiterhin offen stehen und ging zu der gegenüberliegenden, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Dann stieß sie die Tür zur Wohnung der Joggerin auf.
Von drinnen drang kein Geräusch zu ihnen. Dunkelheit auf dem engen Flur, sie sahen genau gegenüber einen Spiegel, der das Licht vom Treppenhaus reflektierte und eine Garderobe, an der allerdings keine Kleidung aufgehängt war.
Konner fragte die junge Frau, als was Frau Kleiber arbeitete.
"Sekretärin", antwortete diese nur kurz mit starrem Blick in das Dunkel des Flures gerichtet.
"Wissen Sie, wo?"
Kopfschütteln.
Sie gingen beide hinein, dabei ließen sie die Wohnungstür offen stehen.
Nach links führte der Flur in weitere Finsternis, man konnte eine Tür erkennen, ganz offensichtlich das Bad. Auf der rechten Seite des Flures gingen zwei Türen mit Verglasungen ab, so dass hier etwas Licht eindringen konnte.
Konner stieß die Tür auf der Stirnseite auf - das Schlafzimmer. Es war recht spartanisch eingerichtet, mit einem Bett, einem Nachtschränkchen, mit einer Lampe und einem Buch darauf. Er erwartete fast, dass es die Bibel wäre. Doch als er es aufnahm und darin blätterte, war es eine nagelneue Ausgabe von Chandlers "Der tiefe Schlaf".
Ein Garderobenschrank vervollständigte den Eindruck eines Kämmerchens in einem Kloster. Es herrschte penible Sauberkeit, kein Körnchen Unrat, nichts Unnützes war zu finden.
Das Zimmer an sich war sehr klein, so dass gar kein weiteres Mobiliar mehr hineingepasst hätte. Es herrschte eine kühle Sachlichkeit vor.
Der Spiegel fehlte, den man hätte erwarten können, im Schlafzimmer einer Frau. Auch eine Garderobe war nicht vorhanden.
Wenn sich die Bewohnerin dieser Wohnung schminken und zurechtmachen wollte, so musste sie wohl oder übel in das Badezimmer ausweichen. Bei ihrem Aussehen konnte sich Konner nicht vorstellen, dass seine Joggerin darauf verzichtete.
"Es wirkt ein wenig arrangiert", erklärte der alte Mann an die Frau gewandt. "Meinen Sie nicht auch?"
Das Bett war ordentlich gemacht, keine Falten auf der Decke, keine Sachen, die nutzlos herumlagen. Das einzige Detail, welches in diesem Bild von einer gewissen Unordnung zeugte, war das Lesezeichen in dem Buch auf dem Nachtschränkchen, das ein wenig verrutscht war, als Konner es zurückgelegt hatte.
Die junge Frau von nebenan stand unschlüssig in der Tür. Sie wirkte nicht sehr neugierig, ihr Blick zeigte vielmehr eine Spur Desinteresse. Sie kannte die Wohnung der Frau Kleiber schon, vom Blumengießen.
Als die beiden das Schlafzimmer verließen, schloss er sachte und mit Vorsicht die Türe hinter sich. Er wollte sich gerade der Wohnzimmertür zuwenden, als man aus der Nachbarwohnung das Telefon klingeln hörte. Für einen Moment waren beide wie erstarrt, sie blickten sich fragend an und weder Konner noch seine Begleiterin waren einer Regung fähig.
Unsinnigerweise fühlte Konner sich ertappt. Dieses Gefühl zeigte, wie wenig er sich mit diesem Unternehmen identifizierte. Als er sich im Park auf den Weg gemacht hatte, herauszufinden, was geschehen war, hatte er nicht damit gerechnet, dass die Geschehnisse solch eine unverhoffte Wendung nehmen würden. Er fühlte sich zunehmend hineingezogen in die Handlung und unfähig, seinen eigenen Willen durchzusetzen.
"Das ist mein Telefon", bemerkte die junge Frau, als es einige Male geläutet hatte. Ohne ein weiteres Wort ging sie hinüber.
Nun war Konner allein in der Wohnung der Frau, dessen Schicksal ihn so brennend interessierte. Er kam sich vor wie ein Eindringling, eine fremde Person, die sich unberechtigt über die Privatsphäre jemandes hermacht. Was wusste er schon von ihr und was konnte er anstellen mit seinen wilden Aktionen? Was hatte er in den zwei Jahren, in denen sie sich regelmäßig getroffen hatten, über sie erfahren? Etwas über ihre Familie, ein wenig aus ihrer unglücklichen Kindheit. Was wusste er mehr von ihr, als ein paar jämmerliche Bruchstücke ihrer Vergangenheit?
Hätte sie Kenntnis von meinem Vorgehen, so überlegte er, würde sie es gutheißen, würde sie die Taten unterstützen? Was würde sie dazu sagen, dass ich in ihrer Wohnung umherschnüffele? Wie reagierte ich, wenn man die Grenzen, die selbst zog, durchbricht?
Andererseits waren sie jetzt seit zwei Jahren tagtäglich zusammengekommen, er hatte ihr fast sein gesamtes Leben erzählt und hatte ihr dabei erlaubt, sein Innerstes zu sehen. Das gab ihm seiner Meinung nach das Recht, zu sagen, sie seien gute Bekannte. Und diese Tatsache erlegte ihm auch die Pflicht auf, sich um sie zu kümmern und sich verantwortlich zu fühlen für sie. In diesem Moment war er der Überzeugung, dass ihr etwas zugestoßen sei.
Er hastete durch die gesamte Wohnung, von Raum zu Raum. Atemlos stieß er sämtliche Türen auf, immer mit der Ahnung, gerade in diesem Zimmer den Leichnam seiner Freundin zu finden. Mit seinem Stock humpelte er den Flur entlang und spürte keine Schmerzen dabei, lediglich die Ungewißheit machte ihm zu schaffen.
Als er wieder im Flur angelangt war, war er völlig außer Atem, er mußte verschnaufen um zu Luft und zur Ruhe zu kommen.
Sie war nirgends zu finden, alles in dieser Wohnung war so, wie es sein mußte, wenn der Besitzer auf Reisen war. Ihm war nicht wohl.
Er hörte vom Treppenflur Schritte, die sich näherten. Irgendjemand kam die Stufen hinauf. Er hielt den Atem an und versuchte mit keiner Bewegung ein Geräusch zu verursachen. Er wußte, wenn jetzt jemand in die Wohnung käme und ihn zur Rede stellte, würde er nur ein haltloses Gestammel herausbekommen, ohne Sinn und nur mit der Folge, daß er sich erst recht verdächtig machte.
Die Schritte entfernten sich und er wagte wieder Luft zu holen. Sofort stürzte er sich in behende Geschäftigkeit.
Im Wohnzimmer empfing ihn dieselbe kühle Arroganz, wie sie schon vorher geherrscht hatte.Die Möbel standen an ihrem Platz, es befand sich alles dort, wo es sein mußte. Nichts verrückt, und keine zufällige Stellung.
Ein kleines Sofa, alt, aber sauber, ein Couchtisch mit Deckchen, zwei Sessel davor.
Die ganze Erscheinung der Wohnung war nicht die, die man erwarten würde, wenn der Mieter am Abend zurückzukommen gedachte.
Doch was hatte er erwartet? Eindeutige Antworten würde es hier nicht geben; wie überall suchte er sie auch hier in diesem Gebäude vergebens.
Er ging zum kleinen Telefontischchen, das in einer Ecke stand, und um überhaupt etwas zu unternehmen, hob er den Hörer ab. Es ertönte ein Zeichen, also war der Anschluß nicht stillgelegt worden. Er nahm das Telefonregister zur Hand und schlug es auf. Das erste, was ihm auffiel, war eine rot unterstrichene Eintragung:
Ganz links stand ein Vorname, ein Stück weiter in der Zeile war eine Telefonnummer eingetragen - ohne Vorwahl, was ja wohl bedeutete, daß der Mann in der Stadt wohnte. Ganz am Ende der Zeile stand eine Adresse, hier aus dem Ort, in einem anderen Viertel, das exklusiver war als jenes, in dem er sich jetzt befand.
Der Bursche hieß Herrmann, wohnte auf der anderen Seite der Stadt und mußte eine wichtige Rolle im Leben der Kleiber spielen. Niemand trägt seinen Friseur ins Telefonverzeichnis ein und hebt den Eintrag mit rotem Stift hervor.
Er sah die Liste weiter durch, vielleicht fiel ihm noch etwas auf, eine Kleinigkeit, die Aufschluß geben konnte über das Leben der Frau, die er suchte.
Was ihn stutzig machte, waren kleine Häkchen, die hinter einigen Eintragungen gemacht waren; ausnahmslos Männernamen, Telefonnummern mit Vorwahlen aus Hamburg, Köln und anderen Großstädten. Als wären sie abgehakt, dachte Konner.
Er blätterte weiter. Einige Frauennamen entdeckte er, allerdings nicht viele. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Namen, den er kannte. Es mußte ihr Frauenarzt sein: Gyn. stand da und Dr. Feigel. Der wohnte nur einige Häuser entfernt von dem seinen.
Mit klopfendem Herzen schlug er weiter und schaute unter K nach, doch seine eigene Anschrift vermochte er nicht zu finden. Er war ein wenig enttäuscht.
Kurzerhand steckte er das Büchlein in sein Jackett und sah sich weiter um. Ein kleiner Schreibtisch - aufgeräumt, fast wie neu, wie sollte es anders sein. Eine Schreibtischunterlage, ein Kalender, in dem nichts eingetragen war (entweder verlief ihr Leben so ereignislos, daß sie nichts zu dokumentieren brauchte oder sie besaß einen anderen Terminkalender, den sie auch wirklich benutzte), einige Kugelschreiber, eine Schreibtischuhr und ein alter Duden; Konner konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß so ein Schreibtisch aussehen sollte, an dem rege gearbeitet wurde.
Er zog die oberste Schublade auf, und sein Blick fiel auf Zeitschriften, die durchweg älteren Datums waren. Als er sie hochnahm, flatterte eine Fotografie zu Boden. Er ächzte, als er sich vorsichtig danach bückte. Es war eine Abbildung von seiner Joggerin und einem Herrn vor einem blühenden Apfelbaum. Sie lachte auf diesem Foto,bei ihm konnte man es nicht bestimmen, da der Kopf des Mannes säuberlich ausgeschnitten worden war.
Wer war dieser Mann? Eine vergangene Liebschaft? Nach dem torso zu urteilen, der ihm geblieben war, war er ein Mann mittleren Alters aus gutsituierten Verhältnissen. Man sah, daß er einen Maßanzug trug, mit edlen Manschettenknöpfen am Hemd. Die Haltung war seinem Aufzug entsprechend. Einen Arm hatte er lässig über die Schulter der Kleiber gelegt, als wolle er seinen Besitz markieren. Die Rückseite des Fotos war leer, Konner hatte gehofft, das Aufnahmedatum oder den Ort zu erfahren.
Haben wir hier Herrmann vor uns, fragte er sich. Wenn ja, warum ist Herrmann so kopflos?
Er durchsuchte die anderen Fächer nach weiteren Bildern von Herrmann, wenn möglich mit Kopf und Gesicht. Dieser Mann schien zumindest in einem Teil ihres Lebens einen wichtigen Part zu spielen oder gespielt zu haben.
In der untersten Schublade fand Konner dann etwas, womit er am allerwenigsten gerechnet hatte. Unter einem Aktenordner lag eine Pistole, eine Makarov. Trotzdem er nicht besonders gut über Feuerwaffen Bescheid wußte, diesen Typ erkannte er.
Die einzige Störung in einem sauberen Haushalt, überlegte er. Eine Pistole, geladen dazu! Er untersuchte sie vorsichtig und sah, daß das Magazin voll war. Der Sicherungshebel war vorgelegt.
Er stand vor dem Schreibtisch und starrte auf das kalte Ding in seiner Hand. Sie wog schwerer als es den Anschein gehabt hatte, die Ecken und Kanten waren scharf, das Gehäuse glänzte matt und rein.
Er fragte sich, woher sie diese Waffe hatte; aber in Zeiten der herrschenden Verhältnisse schätzte er, daß dies nicht die größte Schwierigkeit war. Vielmehr mußte ihn interessieren, warum sie sich diese Pistole zugelegt hatte. Sie war sicher nicht der ängstliche Typ, der sich mit Armeebeständen schützen mußte. Außerdem war sie gewiß nicht so dumm, zu glauben, daß eine Feuerwaffe ihr einen wirklichen Schutz vor den Unbilden der Welt bieten konnte.
Er war sich nicht sicher, aber er meinte etwas Größeres als die privaten Ängste einer einsamen Frau in den Händen zu halten.
Ein Geräusch in seinem Rücken ließ ihn herumfahren, sanft ließ er die Pistole in seine Jackentasche gleiten.
In der Tür stand ein braungebrannter Mittvierzieger mit einem ekelhaften Goldkettchen unter dem offenen Hemd. Mit seinen von tiefen Falten umrahmten Augen blickte er Konner herausfordernd an. Ein Moment genügte Konner, um herauszufinden, daß der Eindringling keine Ähnlichkeit mit Herrmann besaß.
"Wo ist Susen?" giftete der Mann ihn ohne Begrüßung an.
Stille.
Auf Konners Seite betretenes Schweigen, auf der anderen eine fordernde Ungeduld.
"Ja", erwiderte Konner schließlich und betete, daß der Andere seine Unsicherheit nicht bemerken würde. "Was denken Sie denn, wo sie ist?"
Was sollte er tun? Er wußte weder, wen er vor sich hatte, noch, ob sein Gegenüber sich hier auskannte und sich fragte, wer zum Teufel er wohl sei. Deshalb trat Konner die Flucht nach vorne an.
"Wer gibt Ihnen das Recht, in eine fremde Wohnung einzudringen und ohne eine Erklärung abzugeben, Fragen zu stellen, deren Antworten Sie sicherlich nichts angehen?"
"Das müssen Sie mir schon überlassen, was mich etwas angeht und was nicht!" Ein wenig Zorn war aus der Stimme des Braungebrannten herauszuhören. "Alter Mann, sagen Sie mir nur, wo sie ist, und dann lasse ich Sie in Ruhe."
Konner erwiderte trotzig: "Sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie von ihr wollen!"
"Mein Name wird Ihnen nichts sagen..."
"Das möchte ich, bitteschön, selbst entscheiden!" Je mehr Widerstand Konner leistete, desto unsicherer wurde sein Rivale. Er war es anscheinend nicht gewöhnt, daß man ihm mit Abwehr und Trotz begegnete.
Deshalb sagte er: "Mein Name ist Klaus-Dieter Pruder. Ich sagte ja schon, daß Sie mich nicht kennen werden. Und wer sind Sie?"
Den Namen Klaus-Dieter hatte Konner in dem Telefonregister auch lesen können. Wenn er sich recht erinnerte, hatte der Name ein Häkchen gehabt - Klaus-Dieter war abgehakt. Vielleicht war er ja deshalb so sauer? Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Konner gab vage an: "Ich bin ein Freund von Frau Kleiber."
Der andere lachte: "Frau Kleiber hat keine Freunde, sie hat nur Liebhaber."
"Dann nehmen Sie an, ich wäre ihr erster richtiger Freund."
Pruder lachte nochmals laut auf und meinte: "Sie haben ja keine Ahnung!"
"Was wollen Sie von Frau Kleiber? Ich kann ihr ja etwas ausrichten."
"Das geht auch den besten Freund nichts an, auch wenn er noch so alt ist. Das sage ich ihr doch besser persönlich. Wo ist sie? Wissen Sie, Sie sind Rentner, aber ich habe noch viel zu tun. Also sagen Sie mir, wo ich Frau Kleiber finde und ich kann wieder meiner Arbeit nachgehen."
"Worin besteht Ihre Arbeit", fragte Konner. "Verschwundene Frauen zu suchen und wieder zurückzubringen?"
Jetzt trat Wut offen in das sonnengebräunte Gesicht. "Hör zu, alter Mann", meinte er drohend. "Ich bin sehr ungeduldig. Und wenn ich ungeduldig bin, dann kann es leicht passieren, daß ich wütend werde. Und wenn ich wütend werde..."
Er kam nicht dazu, seine Drohung zu beenden. Wie auf Stichwort erschien die großbusige Frau von nebenan in der Tür.
Sie sagte wie nebenbei: "Klaus-Dieter, verpiß dich! Susen will nichts mehr von dir wissen. Du hast ihr nichts mehr zu sagen, also verschwinde von hier und komme nie wieder!"
Pruder startete einen letzten Versuch: "Wo ist sie?"
Mit einem Seitenblick auf Konner murmelte sie: "Sie ist verschwunden."
Konner hat genug gesehen und gehört. Und er war auch nicht scharf darauf, zu erfahren, wie die Diskussion zu Ende gehen würde. Für seinen Geschmack war er schon viel zu tief in das Privatleben der Frau, die er kennenlernen wollte, eingedrungen. Er hatte viel gesehen, aber so gut wie nichts erfahren in ihrer Wohnung. Er war gekommen, um Antworten zu finden, stattdessen quälten ihn nun, da er sich umgeschaut hatte, noch mehr Fragen als zuvor.
Er ahnte, daß er seinen letzten Traum zerstören würde, wenn er weiterforschte, aber nichtsdestotrotz war er begierig darauf, zu erfahren, was gespielt wurde, auch wenn ihn das all seine Illusionen kosten würde.
Wie ein Dieb, der er ja auch war, schlich er sich aus der Wohnung, während die zwei weiter miteinander stritten. Bei der jungen Frau war er sich nicht sicher, aber Pruder hatte ihn vergessen. Er hatte den Verdacht, daß dieser ihn sowieso von Anfang an nicht ernst genommen hatte.
Während er die Treppe hinunterbalancierte, schlug die Pistole in seiner Jackentasche undsanft gegen seine Hüfte.
*
Konner hatte nie ein Telefon besessen. Er wußte, daß er damit in einem krassen Gegensatz zu einem Großteil dieser voll vernetzten Gesellschaft stand. Doch er hatte es nie verstanden, wie man sich mitten auf der Straße hinstellen und seine Geschäfte via Handy abwickeln kann. Als sie noch eine Familie gewesen waren, hätte er sich wohl ein Telefon angeschafft, aber die Möglichkeiten dazu waren äußerst gering. Als er sich solch einen Apparat hätte zulegen können, da sah er keinen Bedarf mehr für sich.
Deshalb mußte er für seinen nächsten Schritt das Haus verlassen und eine Telefonzelle aufsuchen.
Der Regen hatte nachgelassen, und an seine Stelle war ein feiner Dunst getreten. Der Tag war so trübe, als hätte man die Sonne abgeschafft.
Die nächste Telefonzelle befand sich gleich um die Ecke. Er lehnte seinen Stock an das Glas und zog das Telefonverzeichnis, das er gestohlen hatte, aus seinem Jackett. Dann suchte er einen Namen aus dieser Stadt heraus, nicht Herrmann, den hob er sich für später auf.
Er fand die passende Nummer unter Hans-Werner.
Er wollte Hans-Werner anrufen und versuchen, ihm einiges zu entlocken. Wenn es schiefging, machte das nichts, er hatte nichts zu verlieren.
Als er das Klingeln am anderen Ende der Leitung hörte, wurde er nervös. Wie schon vorher stand er einige Schritte neben sich und schüttelte den Kopf über sich selbst.
"Kaselski."
Es meldete sich eine junge, weiche Männerstimme, die etwas gereizt klang.
"Hans-Werner?"
Konner wußte nicht, ob er Hans-Werner am Apparat hatte. Auf der anderen Seite herrschte gespanntes Schweigen.
"Wer ist da?"
"Ich bin ein Freund von Susen Kleiber, Hans-Werner." Was sich einmal bewährt hatte, warum sollte man es nicht ein zweites Mal einsetzen?
"Gott sei Dank!" Man konnte die Erleichterung am anderen Apparat förmlich spüren. "Wie geht es ihr, wo ist sie?" wollte der junge Mann ungestüm wissen.
"Sie ist nicht hier."
"Aber wo ist sie? Wissen Sie, was ich alles unternommen habe, um mit ihr zu sprechen? Sie meldete sich plötzlich nicht mehr, wenn ich anrief, legte sie sofort auf, wenn sie meinen Namen hörte, und meine Briefe kamen ungeöffnet zurück. Und jetzt rufen Sie an und sagen, Sie seien ein Freund von ihr. Wo ist sie?!"
Konner schwieg.
Es war schier unglaublich. Jeder, dem er auf seinem Weg begegnete, suchte die Kleiber. Irgendetwas in ihrem Verhalten trieb die Männer in ihrer Nähe zu extremen Gefühlsausbrüchen. Entweder neigten sie zu einer Weinerlichkeit, die fast schon peinlich war, wie dieser junge Mann hier, oder sie legten gewalttätige Aggressionen an den Tag, die ein Verweilen in ihrer Umgebung höchst gefährlich machte. Kühl schien diese Frau niemanden zu lassen. Konner selbst kam sich vor, wie ein junger Hund, den man der Mutter fortgenommen hatte. Er fühlte, wie er sich immer lächerlicher machte. Mehr als einmal hatte er den Gedanken gehabt, daß er eventell völlig falsch lag mit seiner Vermutung, der Kleiber wäre etwas zugestoßen. Was, wenn sie Verwandte oder Bekannte besuchen war, nach einigen Tagen ahnungslos zurückkehrte und sah, was er für eine heillose Verwirrung gestiftet hatte.
"Sind Sie noch da?"
Auf der anderen Seite atmete es schwer. Konner nahm an, daß Hans-Werner zu der dickeren Fraktion der Bevölkerung gehörte.
"Ja, ich bin hier. Warum suchen Sie Frau Kleiber?"
"Na hören Sie mal! Sie sind vielleicht gut. Nach allem, was passiert ist! Ganz abgesehen davon, was zwischen uns ist ... war, möchte ich zumindestens wissen, wie es ihr geht. Solch ein Eingriff ist für Ärzte wohl Routine, aber jede Frau reagiert anders auf eine Abtreibung. Ist sie noch im Krankenhaus?"
Konner sagte mechanisch: "Sie muß sich noch erholen und braucht Ruhe." Was hatten die Häkchen im Telefonregister damit zu tun? Er wußte, es gab einen Zusammenhang, und wenn er die Augen weit genug aufmachte, würde er sie sehen. Doch er kam sich vor wie blind. Er stocherte in einem Nest, obwohl er nicht wußte worum es sich handelte. Er brauchte Zeit.
"Das heißt, ihr geht es gut? Da bin ich beruhigt. Sie können sich nicht vorstellen, was ich mir für Sorgen gemacht habe. Ich hatte Angst, sie würde es sich anders überlegen. Wissen Sie, zuerst war es ja ein Schock für mich. Wenn meine Eltern das erführen, nicht auszudenken! Mein Vater würde mich sicherlich enterben." Dem dicken Hans-Werner schien einiges auf der Seele zu lasten, wenn er so erpicht darauf war, sie zu erleichtern. Obwohl Konner sich in der Rolle des Beichtvaters nicht besonders wohlfühlte, sollte es ihm recht sein, wenn er dadurch etwas über den Aufenthaltsort der Kleiber in Erfahrung bringen konnte.
"Susen und ich waren ganz schön geschockt. Als ich Susen dann einen ..., diese Lösung vorschlug, wollte sie zuerst nichts davon wissen. Ich nahm an, sie hätte moralische Vorbehalte, aber als sie mir die Wahrheit gestand, konnte ich sie glücklicherweise beruhigen. Und nachdem wir uns über den finanziellen Punkt einig waren, trat sie plötzlich aus meinem Leben. Nicht daß sie Schluß gemacht hätte, nein, sie ließ sich nur nicht mehr blicken. Sie verließ mein Leben, als wäre sie nie dagewesen. Wie kann man soetwas tun, von einem Moment auf den anderen eine Beziehung abbrechen? Hat sie zu Ihnen etwas gesagt? Hat sie eine Erklärung abgegeben, eine Bemerkung fallengelassen?"
Konner legte auf. Er hatte genug gehört. Jetzt galt es noch eines zu tun, um dann zum finalen Schritt zu kommen.
*
Als Konner sich an diesem Abend zur Ruhe begab, war er aufgewühlt wie lange nicht mehr. Er hatte vieles herausgefunden an diesem Tag, auch einiges darunter, das ihm nicht gefiel. Aber eines wußte er immer noch nicht: Wo war Susen Kleiber? War ihr etwas zugestoßen oder hielt sie sich vor irgendjemandem versteckt?
Nachdem er frühzeitig zu Abend gegessen hatte, war er noch einmal aufgebrochen zu einem kurzen Spaziergang. Er wußte, daß Dr. Feigel, der Gynikologe von der Kleiber, jeden Abend um diese Zeit seinen Hund ausführte. Dies schätzte er als gute Gelegenheit ein, ihm einige unauffällig wirkende Fragen zu stellen.
Um die Zufälligkeit des Treffens zu betonen, mußte er schauspielern vor Feigel und Überraschung heucheln - "Ach, schaun Sie mal an, welch ein Zufall! Wie geht es Ihnen denn? Gut, daß ich Sie hier treffe."
Konner war diese Maskerade zuwider, er hatte nie viel davon gehalten, sich zu verstellen, aber er wußte um die Notwendigkeit dieses Spiels, und so gab er sein Bestes.
Er traf den Gesuchten tatsächlich am Waldrand in der untergehenden Sonne gebadet (der Himmel hatte sich aufgeklärt, kurz bevor die Dämmerung hereingebrochen war), wie er mit dem Hund ein wenig spielte. Der Hund war für den Arzt nie mehr als ein schmückendes Beiwerk gewesen, und so war es nicht weiter verwunderlich, daß das Tier kaum gehorchte und nicht wußte, was sein Herrchen eigentlich von ihm wollte, als er den Ast fortwarf.Der Hund - ein gut gewachsener Irish Setter - wuselte seinem Herrchen wie aufgezogen schwanzwedelnd und freute sich über jedes bißchen Aufmerksamkeit, das ihm zuteil wurde.
Als Konner auf der Bildfläche erschien, stand der Setter wie eine Statue und schnüffelte im Wind. Das tiefe Bellen ließ Konner zusammenzucken. Aber er wußte aus Erfahrung, daß ihm von dem Tier keine Gefahr drohte, es war verspielt und anhänglich. Als er den Nachbarn seines Herrn schließlich erkannte, lief er freudig auf ihn zu und ließ sich bereitwillig streicheln.
Der Frauenarzt war ein kleiner, glatzköpfiger Mann, etwa zehn Jahre jünger als Konner. Er hatte sich erst vor einigen Jahren ein Haus hier am Stadtrand gekauft und gleichzeitig seine Praxis eröffnet. Soweit Konner es beurteilen konnte, lief sie nicht schlecht, zu jeder Sprechstunde standen mindestens ein Dutzend Autos vor dem Haus.
Die beiden Männer begrüßten sich per Handschlag und schauten dann beide versonnen dem Hund bei seinen Spielereien zu. Es schien, als hätte er ein Mauseloch oder etwas ähnliches entdeckt, denn er lag auf der Erde, hatte sich in der Grasnarbe verbissen und wühlte mit den Vorderpfoten emsig das Erdreich hervor.
Man tauschte einige belanglose Sätze - über das Wetter, das sich ganz plötzlich wieder verbessert hatte, über den Zustand der Straßen allgemein und im Speziellen der im Wohngebiet, über die Weihnachtsfeiertage, die immer näher rückten - und verfiel dann wieder in Schweigen.
Konner steckte sich eine Zigarette an und hielt dem Arzt die Schachtel hin.
"Was macht die Praxis?"
Er hatte sich vorgenommen, möglichst teilnahmslos zu klingen, aber er fürchtete, daß die Neugierde der vorherrschende Akzent in seinem Tonfall war. Der Arzt sog an der Zigarette und klimperte mit dem Metallhalsband des Hundes, um diesen davor zu warnen, zu weit in den Wald zu laufen.
"Geht so", sagte er nebenher.
"Mir scheint, die Patienten werden immer mehr, wenn ich die Fahrzeuge sehe, die vor der Praxis stehen."
"Man muß bestrebt sein, sich einen guten Namen zu machen", meinte der Arzt jovial. "Dann läuft die Sache wie von selbst."
"Die Patienten kommen von überall her, was?"
"Das kann man sagen. Ich habe gute Publicity."
Sie schienen einen Punkt berührt zu haben, für den der Gynäkologe besonders empfänglich war. Das Selbstbewußtsein eines Arztes sollte in der Regel gut ausgebildet sein, aber es konnte immer ein paar Schmeicheleien gebrauchen.
Dieser Augenblick schien Konner am günstigsten. Während er den hechelnden Hund streichelte, brachte er ganz nebenbei die Sprache auf Susen Kleiber, wie begeistert die Frau von ihm sei und wie glücklich, einen solchen Arzt gefunden zu haben. Sie empfehle ihn in ihrer gesamten Bekanntschaft weiter, und dies sei es wahrscheinlich, was Feigel mit guter Publicity gemeint habe.
Als er erzählte, daß Frau Kleiber sich ungemein auf ihr Baby freue, unterbrach ihn der Arzt schroff und sagte: "Mein lieber Freund! Da reden wir beide nicht von derselben Susen Kleiber. Die Frau Kleiber, die bei mir in Behandlung ist, bekommt kein Baby und wird aller Voraussicht nach auch niemals Kinder bekommen können." Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: "Ich hoffe, das bleibt unter uns, mein Lieber! Ich hätte Ihnen das gar nicht erzählen dürfen."
Damit hatte Konner vorerst genug gehört. Er verabschiedete sich nach einem weiteren kurzen, belanglosen Geplauder und zog, immer noch geschockt von dannen.
Jetzt lag er in seinem Bett, starrte an die Decke und konnte vor lauter Gedanken nicht einschlafen.
Er konnte sich jetzt ein einigermaßen klares Bild über die allgemeinen Vorgänge im Leben der Susen Kleiber machen. Er wußte, warum sie in ihrem Telefonregister hinter einigen Namen Häkchen gemacht hatte und warum sie von aller Welt gesucht wurde. Warum sie aber verschwunder war, das blieb für ihn ein Rätsel.
Sie war ein Luder. Seine private Heilige hatte sich in eine Hure verwandelt. Und das in dem Augenblick, in dem der Arzt sagte: "Sie wird wahrscheinlich niemals Kinder bekommen können."
Sie nahm die Männer aus. Sie suchte sich einen wohlhabenden Mann, begann ein Verhältnis mit ihm und zog ihm das Geld, das diese Männer ja anscheinend zuhauf besaßen, nur so aus der Tasche. Wahrscheinlich war, daß ihre Freunde ihr mit Freuden finanziell unter die Arme griffen. Waren sie dazu nicht mehr bereit - irgendwann sieht selbst ein Mann ein, daß er ausgenommen wird - wenn die Sache zu brenzlig wurde, dann zog sie ihren besten, den eigentlichen Trick ab.
Vielleicht war es auch so, daß sie sich gar nicht lange mit Geplänkel aufhielt. Sie schlief nur ein einziges Mal mit den Männern, und dann täuschte sie eine Schwangerschaft vor:
"Liebling! Ich glaube, ich kriege ein Kind!"
Oh Gott! Gutsituierte ältere Männer, vielleicht verheiratet, auf jeden Fall in einer gehobenen gesellschaftlichen Stellung. Das war ein Skandal. Wie konnte das nur passieren? Nimmst du nicht die Pille?!
Aber du hast mich nicht gefragt, vorher!
Was kann man tun? Natürlich kommt nur eine Abtreibung in Frage. Was sonst, das ist die beste Lösung.
Die Kleiber zierte sich sicherlich zu Anfang, wie sie es bei Hans-Werner gemacht hatte. Es war ja auch keine leichte Entscheidung, die sie da zu treffen hatte. Aber wer sollte diesen Eingriff bezahlen?
Liebling, ich habe kein Geld!
Wenn es weiter nichts ist! Wieviel brauchst du?
Niemand dieser Herren wußte wahrscheinlich genau, wieviel ein solcher Eingriff kostete. Deshalb war es für die Kleiber wohl ein leichtes, stattliche Summen anzugeben. Wieviel würde sie gefordert haben? Eintausend, zwei- oder dreitausend Mark? Leisten konnten es sich die Männer allemal.
Und wer ausgenommen war, der bekam ein Häkchen hinter der Telefonnummer und jeder Kontakt wurde abgebrochen.
Eine Hure!
Sie hatte die Sache immer eiskalt durchgezogen, und dabei wahrscheinlich Liebe geheuchelt. Vielleicht hatte sie auch den einen oder anderen one-night-stand dabei, aber zumindest bei Hans-Werner hatte sie die große Liebe gespielt.
Und er, Konner, hatte die vergangenen zwei Jahre nicht geahnt, was für ein Luder sie war. Er hatte ihr vertraut, ihr aus seinem Leben erzählt, sie zu einem Teil seiner selbst gemacht.
Aber warum war sie verschwunden?
Es gab für ihn zwei Möglichkeiten: Entweder war sie freiwillig abgetreten, war weggefahren, zu Verwandten oder Bekannten oder sie war untergetaucht, auf der Flucht vor Pruder oder einem anderen Freier. Vielleicht war sie an den Falschen geraten, der hatte ihr Spiel durchschaut, und nun mußte sie sich verstecken.
Die zweite Variante war die, daß sie nicht ganz freiwillig verschwunden war. Sie konnte einen Unfall gehabt haben, und jetzt in irgendeinem Krankenhaus liegen, womöglich ohne Bewußtsein, und die Ärzte rätselten, wer die blonde, ohnmächtige Frau war, die sie da aufgesammelt hatten.
Eine andere, fast ebenso zweifelhafte Möglichkeit war die, daß sie ermordet und anschließend verscharrt worden war. Nach näheren Hinsehen kam ihm diese Idee nicht mehr gar so unwahrscheinlich vor. Wenn man sich vor Augen hielt, was für ein Leben sie führte, dann war es schon möglich, daß sich jemand gefunden hatte, der sie beseitigt haben wollte. Anwärter dafür gab es sicher genug. Er hatte sehen können, wie Häkchen sie gemacht hatte, wie viele Männer sie einfach abgeschüttelt und links liegengelassen hatte. Wer solch einer seltsamen und gefährlichen Leidenschaft frönte, der ging ein gewisses Risiko ein, das real nicht abzuschätzen war. Um an ihr Geld zu kommen hatte die Kleiber einige Männer sicherlich unter Druck gesetzt. Es wurden wahrscheinlich nicht alle Forderungen so bedingungslos akzeptiert, wie es Hans-Werner getan hatte. Und wenn man Druck ausübt, muß man mit einem gewissen Gegendruck rechnen. Er versuchte die Pistole, die er gefunden hatte, in das Bild einzusetzen, das er sich gemacht hatte, doch es wollte ihm nicht gelingen. Die Waffe wirkte immer noch ebenso deplatziert in der Wohnung, wie in dem Moment, in dem er sie entdeckt hatte.
Mehr und mehr gelangte Konner zu der Überzeugung, daß Susen Kleiber etwas zugestoßen war.
Als Konner seine Tochter das letzte Mal sah, sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Sie gab keine Erklärungen ab, und er fragte nicht danach. Er stand nur neben ihr und schaute zu, wie sie ihre Sachen zusammenpackte.
Der Möbelwagen war schon abgefahren, mit einem Ziel, das ihm nicht bekannt war, und nun war seine Tochter dabei, ihre letzten Habseligkeiten, kleine Dinge mit ideelem Wert, zusammenzuräumen.
Das Chaos, das normalerweise jeden Umzug begeitet, war ausgeblieben. Mit der Sicherheit und Zielstrebigkeit, die einem Schlafwandler eigen ist, hatte sie einen Schritt nach dem anderen bewältigt, um alle Spuren ihres und ihrer Tochter Leben aus diesem Haus zu tilgen. Das damit einhergehende Schweigen war für ihn am schwersten zu ertragen. Doch es war gut von seiner Trauer abgelenkt zu werden, auch wenn es bedeutete, ein neues Leiden auf sich zu nehmen.
Da er sie auf jedem ihrer Schritte begleitete, in der Hoffnung, sie würde ihr Schweigen brechen, wußte er genau, wann sie fertig war, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem kein Gegenstand mehr im Haus an ihre Existenz erinnerte. Er fürchtete sich davor. Und als es soweit war, stand er in der Tür, die Hände in den Taschen vergraben, mit dem Blick auf die Wipfel der fernen Eichen.
Sie stellte sich neben ihn.
Er konnte ihren Atem hören, und als er sich langsam zu ihr umwandte, sah er die Tränen auf ihrem Gesicht. Er war froh darüber, zu sehen, dass ihr der Abschied nahe ging.
"Dies ist das Haus, in dem du aufgewachsen bist", sagte er.
Sie schwieg.
Dann wandte sie sich langsam zu ihm und entgegnete tonlos: "Dies ist nicht mehr mein Haus."
Damit ging sie hinunter, schloss sachte die Gartenpforte hinter sich und stieg ins Auto. Als sie davonfuhr, hob er langsam seinen Arm zum Gruß, doch auf der Hälfte der Geste ließ er ihn wieder sinken. Sie war fort.
Es war, als hätte er zum zweiten Mal den Tod seiner Frau miterlebt.
Er ging hinein, und zum ersten Mal in seinem Leben nahm er sich eine Flasche Wodka, setzte sie an den Mund und trank sie in hastigen Zügen bis auf die Hälfte aus.
*
Die Einsamkeit hielt ihn mehr denn je umfangen. Die kurze Phase der Geschäftigkeit, die er erlebt hatte, war vorüber, vorbei das funkenartige Aufflackern von Optimismus in seiner Seele. Es herrschte wieder dieselbe trostlose Finsternis in seinem Leben, an die er sich schon gewöhnt und die er zu ertragen gelernt hatte. Die Routine der täglichen Arbeiten bot ihm einen schwachen Trost, er ertrug sein Schicksal und wartete darauf, dass es beendet würde.
Zum ersten Mal seit über zwei Jahren ging er an diesem Morgen an seiner Bank im Park vorbei. Es gab nicht das leiseste Stocken in seinen Bewegungen, als er daran vorüberschritt. Er würdigte die Bank keines Blickes, er hatte wieder einmal ein Kapitel in seinem Leben abgeschlossen. Er war auf dem Weg zu Herrmann, wer immer das auch war und was immer ihn dort erwarten mochte. Er würde bei ihm vorsprechen und eine Erklärung verlangen, er würde die Wohnung des Mannes nicht eher verlassen, bis er Susen Kleiber gefunden hatte oder zumindest wußte, wo sie sich aufhielt. Und wenn er sie gefunden hatte, würde er ihr sagen, was er von ihr hielt. Was danach geschah, das war ihm gleich.
Er mußte den Bus nehmen, Herrmann wohnte am anderen Ende der Stadt. Die Wohnung lag in einem Viertel, in dem zu wohnen sich nicht jeder leisten konnte. Daher ging er davon aus, dass Herrmann ein einigermaßen vermögender Mann war.
Die Innenstadt war belebt, die ganze Betriebsamkeit des Ortes hatte sich für den Tag wieder hierher verlegt. Konner sah, wie in den Geschäftsstraßen die Leute flanierten, das Weihnachtsgeschäft hatte gerade begonnen, und so waren die ersten Schaufenster mit Lichterketten und Weihnachtsbaumkugeln ausstaffiert.
Der Bus kam nur schleppend voran. Der Verkehr war kurz davor, zum Erliegen zu kommen. Es gab immer wieder Autos, die in halsbrecherischen Aktionen überholten, auf den Straßen und Bürgersteigen herrschte gleichermaßen ein Gewusel, dass man schwindelig wurde vom näheren Hinsehen.
Konner war froh, als sie diese Zone verlassen hatten und wieder in ruhigere Gefilde kamen.
Die Haltestelle befand sich ganz in der Nähe von Herrmanns Wohnung, und er stieg mit klopfendem Herzen aus. Der Himmel hatte sich wieder bezogen und er kündigte sich ein weiterer verregneter Novembertag an.
Das Haus, das er suchte, war das genaue Gegenteil von dem, in dem die Kleiber wohnte. Dies hier hatte eine helle, sehr saubere Fassade. Trotzdem die Front mit vielen kleinen Dekors versehen war, konnte man nicht die Andeutung von irgendwelchen Schattierungen erkennen. Die gesamte Häuserfront war in einem freundlichen hellen Grün gestaltet. Die beiden Häuser, dieses hier und das der Kleiber, mochten aus derselben Zeit stammen, waren aber für völlig verschiedene Schichten erbaut worden. Hier konnte man sich den Luxus eines weiten, ausladenden Balkons leisten, der in die Fassade eingepasst, und kein bisschen störend wirkte. Hier wohnten Menschen, die zu leben verstanden und vermochten.
Die schwere Haustüre mit dem reichverzierten goldenen Griff war abgesperrt. Er schaute auf die Klingelleiste und war erleichtert, dass die Namen, die verzeichnet waren, mit den jeweiligen Vornamen daraufstanden.
Es gab nur einen Herrmann - Herrmann Manthey, wohnhaft in der fünften Etage. Bevor Konner die Klingel betätigte, trat er einige Schritte zurück und betrachtete die betreffende Wohnung. Zweifellos war es unangemessen von einer Wohnung zu reden, man sprach hier sicher von einem Appartment.
Es erstreckte sich über eine Front von mindestens fünf großen Fenstern, die ihre Krönung durch einen großen, stuckverzierten Balkon erhielten. Dieser Vorbau allein maß in seiner Breite wohl vier Meter und war durch eine Brüstung gesichert, die nicht sehr hoch schien, so dass ein freier Überblick über die Stadt gewährleistet war.
Er klingelte. Es war jetzt 9Uhr 50 und seltsamerweise befand er es für wichtig, sich die Zeit zu merken.
"Wer ist da?"
Die Stimme aus der Wechselsprechanlage klang müde und trunken. Konner zitterte bei dem Gedanken, das erste Mal Kontakt mit Herrmann zu haben.
"Mein Name wird Ihnen nicht viel sagen. Herr Manthey? Ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen."
Er mußte sich ein wenig hinabbeugen, um an die Sprechanlage zu gelangen.
Es knackte. "Was für Fragen wollen Sie stellen? Wer sind Sie? Polizei?"
Konner stockte. Dieser Mann hatte Angst vor der Polizei, das sagte einiges aus.
"Nein, nein, Herr Manthey. Keine Polizei. Ich würde nur gern..."
Der Summer ertönte und er konnte die Tür aufdrücken.
Konner atmete tief durch und betastete die Pistole in seiner Jackentasche. Er hatte sie durchgeladen und entsichert, so dass er sie bei der geringsten Gefahr ziehen konnte. Bei diesem Vorgang war er sich albern vorgekommen, aber die Unsicherheit ob der Ereignisse, die ihn erwarteten, hatte gesiegt.
Im Treppenhaus setzte sich der verschwenderische Prunk, der schon an der Fassade geherrscht hatte, fort. Die Wände waren hell und sauber gestrichen, die Verzierungen und Dekors an der Decke waren mit einem dunkleren Farbton verstärkt. Die Decke mußte mindestens drei Meter fünfzig hoch sein, so dass der Betrachter selbst zur Bedeutungslosigkeit schrumpfte.
Es war ein Aufzug vorhanden. Fast hätte er erwartet, dass ihn ein alter Fahrstuhlführer nach oben bringen würde, aber das war nicht der Fall.
Der Lift glitt langsam und würdevoll nach oben. Hier legte man keinen Wert auf Eile, es mußte in eine vornehmen Gelassenheit abgehen.
Die fünfte Etage war in ein warmes Licht getaucht, das von einem abgedunkelten Fenster ausging, vor dem eine Unmenge Grünpflanzen platziert waren.
Mit seinem mit dickem Teppichboden ausgelegten Fußboden machte der Flur den Eindruck einer Hoteletage, familiär und sehr intim.
Konner klopfte an Mantheys Wohnungstür. Eine Klingel war unter dem Namensschild nicht vorhanden.
Dieselbe müde Stimme, die er unten schon gehört hatte, forderte ihn auf, immer hereinzukommen, die Tür sei offen.
Er öffnete die Tür, sie ging ein wenig schwer und quietschte ewas. Es gab in der Wohnung keinen Flur, er sah direkt ins Wohnzimmer.
Das erste, was er wahrnahm, war ein Mann, bekleidet mit einem mondänen Morgenmantel, der in einem Schreibtischsessel saß, die Beine über die Lehne gelegt, mit einem Glas in der Hand. Er starrte ihn mit glasigen Augen erwartungsvoll an. Der Morgenmantel war eine Spur zu locker angelegt, er war offen und man konnte einen Teil des Geschlechts des Mannes sehen. Es schien ihm egal.
Konner erkannte, daß es Whisky sein mußte, das der Mann da am frühen Morgen trank. Und dann erkannte er den Mann selbst; plötzlich und ohne jeden Zweifel wußte er, wer da vor ihm saß und ihn herablassend angrinste.
Gerloff - der Mörder seiner Enkelin.
In demselben Augenblick, in dem ihn diese Erkenntnis traf, war seine Hand in die Jackentasche geglitten und hatte die Pistole umfasst.
"Na, mein Guter, was wünschen Sie?"
Gerloff hatte ihn nicht erkannt. Konner schob einen Teil der Schuld dafür dem Alkohol zu, den dieser Mann schon zu so früher Stunde getrunken haben mußte.
Konner fiel jede Einzelheit ihrer einzigen Begegnung bisher ein, Gerloffs arrogante, selbstherrliche Art ihm gegenüber und die gönnerhafte, herablassende gegenüber seiner Enkelin. Die Abneigung voreinander war auf beiden Seiten gleich gewesen.
Nur mit Mühe gelang es Konner, sich zu beherrschen. Er spürte wie die Pistole in seiner Jackentasche seiner Hand entglitt.
Er presste hervor: "Ich suche Frau Kleiber. Vielleicht können Sie mir Auskunft darüber geben, wo sie sich aufhält?"
"Oh, Frau Kleiber." Gerloffs Miene veränderte sich bei diesem Namen kein bißchen. "Frau Kleiber wird sicherlich im Laufe des Tages noch einmal vorbeischauen. Jedenfalls hat sie mir das versichert, als wir uns das letzte Mal sahen."
"Wann war das?"
"Ach wissen Sie, alter Freund! Die Tage kommen und gehen. In der letzten Zeit verschwimmen die Geschehnisse ein wenig, eins läuft ins andere und alles verliert seine Konturen. Es ist nicht leicht, reich zu sein", setzte er verstohlen hinzu.
Konner hatte den Eindruck, dass sein Gegenüber zusätzlich zum Alkohol noch auf Drogen war.
"Nennen Sie mich gefälligst nicht alter Freund!" knurrte er ihn an.
War es tatsächlich möglich, dass dieser Mensch ihn nicht erkannte? Nach allem, was er Konner angetan hatte! Es mochte sein, dass dieses Drama für Gerloff nur eine Episode am äußersten Rande bedeutete, aber er mußte die Auswirkungen seines schändlichen Tuns erfahren haben, er mußte doch bemerkt haben, was er angerichtet hatte! Es war sogar eine kleine Mitteilung in der Regionalpresse erschienen.
Zeit und Kummer hatten sicher sein Gesicht verändert, in den Spiegel zu schauen war schon lange zur Last geworden, aber die Beiläufigkeit, mit der Gerloff über die Tragödie hinweggegangen sein mußte, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen und ließ seinen Zorn noch weiter anschwellen.
"Aber Sie sind soetwas wie ein guter Bekannter", fuhr Gerloff grinsend fort. "Susen hat Sie schon vor geraumer Zeit angekündigt. Sie sagte: Ich kann dir nicht genau sagen, wann, aber in dieser Woche wird ein alter Mann vorbeíkommen und dir einige Fragen stellen. Du kannst ihm vertrauen, du kannst ihm alles erzählen. Das waren ihre Worte."
"Dann sagen Sie mir, wie Sie wirklich heißen!"
"Mein Name, lieber Freund, steht unten an der Haustüre." Er schenkte sich einen Whisky nach und bot Konner mit einem Wink an, sich ein Glas zu nehmen und sich zu bedienen. Konner schüttelte den Kopf. Er zog sich einen Hocker zu Gerloff heran und setzte sich ihm gegenüber.
"Ich hatte gemeint, das wäre Ihr Künstlername", meinte er verschwörerisch. "Oder war der Name Gerloff falsch?"
Gerloff machte ein fragendes Gesicht. Langsam, ganz allmählich erschien das Erkennen in seiner Miene.
"Ich konnte mich die ganze Zeit nicht des Eindruckes erwehren, daß ich Sie von irgendwoher kenne, mein Guter. Jetzt verstehe endlich, was Susen meinte, als sie sagte, Sie wären seit gut zehn Jahren auf der Suche nach mir. Wie geht es Ihnen, Herr...Konner? Ich freue mich, Sie wiederzusehen, wirklich!"
Er machte umständlich Anstalten, aus seinem Sessel zu klettern, um Konner die Hand zu reichen.
Konner zuckte zurück und sprang auf. Er zerrte mit Mühe die Pistole aus seiner Jacke und hielt sie Gerloff vor die Nase.
"Bleiben Sie, wo Sie sind!" brüllte er ihn hysterisch an.
"Was haben Sie mit dem Ding vor?!" Mit zitternden Händen deutete Gerloff auf die Pistole, deren Lauf nur etwa einen Meter entfernt auf ihn zeigte. Konner blickte fast ebenso fassungslos auf die Waffe in seiner Hand.
"Ich werde Sie erschießen", murmelte er aus tiefster Überzeugung. "Ja, ich werde Sie töten. Gott stehe mir bei! Aber nach allem, was Sie mir angetan haben, habe ich ein Recht darauf, meinen Sie nicht auch?"
"Was?" Gerloff starrte noch immer mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf das metallene Ding vor seiner Nase. Er versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen, auf seine Stirn traten die ersten Schweißperlen. Wie weggewischt war sein Rausch aus Alkoholseligkeit. "Machen Sie keinen Unsinn, Mann! Bedenken Sie die Folgen! Man kann doch über alles reden."
"Sie haben mir die beiden Menschen genommen, die mir am meisten bedeuteten! Sie sind in mein Leben getreten wie eine Seuche, haben alles zerstört, was mir lieb war, haben mein Dasein unsinnig gemacht. Und Sie haben sich danach wieder entfernt, als sei nichts geschehen." Er machte eine kleine Pause, in der sie beide überlegten. Dann fuhr er fort: "Es ist nichst geschehen, nicht wahr? Für Sie ist tatsächlich nichts geschehen, Sie Schwein! Sie verschwanden und konnten so tun, als wäre eine flüchtige Liebelei beendet gewesen, ein kurzer Flirt. Mehr war es für Sie auch nicht, was? Aber auf der anderen Seite, was haben Sie zurückgelassen? Sie waren ihre große Liebe, sie hoffte auf ein Leben an Ihrer Seite, sie liebte Sie wirklich, Sie Verbrecher! Sie haben sie benutzt."
Konner redete jetzt immer hysterischer. Es was zu merken, daß er die Kontrolle über sich verloren hatte, und nun geradewegs auf einen Zusammenbruch zusteuerte.
Gerloff versuchte ihn zu unterbrechen: "Das alles habe ich nicht gewußt, glauben Sie mir!"
"Lügen Sie mich nicht an! Nicht das auch noch! Sie haben mir gewiß genug angetan. Sie war ein guter Mensch, sie war liebevoll und zerbrechlich, sie konnte niemandem wehtun, falls das in dieser Gesellschaft eine Tugend ist. Sie war das genaue Gegenteil ihrer Mutter." Er blickte Gerloff traurig in die Augen, und der bekam eine Gänsehaut. "Und dann kamen Sie und rissen uns auseinander. Sie benutzten die Kleine und warfen sie weg, wie ein gebrauchtes Taschentuch. Und als Vorwand benutzten sie mich. Meine Abneigung Ihnen gegenüber nutzten Sie aus, Sie trieben einen Keil zwischen uns, das ist wohl das Verwerflichste an der ganzen Sache. Sie starb mit Groll gegen mich in ihrem Herzen."
Konners Blick hatte jetzt fast etwas träumerisches an sich, er saß Gerloff gegenüber und schien ganz in sich versunken.
"Wissen Sie was", fragte er versonnen und Gerloff spürte Hoffnung. "Ich glaube Sie kommen in die Hölle."
Damit gab es einen kurzen, trockenen Knall, Gerloff schaute erst ungläubig auf Konner, dann auf die immer noch rauchende Pistole und schließlich auf seine Brust, auf der sich ein rasch größer werdender Blutfleck gebildet hatte. Dann ging sein fragender Blick noch einmal zu Konner, der ebenso hilflos schien, und als er eben die Hände auf die Wunde pressen wollte, sackte er zusammen und fiel vom Stuhl, leblos wie eine Schaufensterpuppe.
Konner war genauso überrascht wie Gerloff. Er hätte sich nie träumen lassen, daß er jemals einen Menschen töten würde, und schon gar nicht, daß es so leicht war.
Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Konner hörte, wie die Eingangstüre geöffnet wurde und wandte sich langsam um.
Es erschienen zwei Frauen, die sich lachend miteinander unterhielten.
"Ich dachte schon, er würde es gar nicht mehr schaffen!" meinte Susen Kleiber während sie eintrat.
"Gott sei Dank hat es ja geklappt", erwiderte die großbusige Nachbarin der Kleiber.
Sie kamen langsam auf Konner zu, der immer noch wie betäubt dasaß.
"Das geben Sie am besten mir", sagte die Kleiber und nahm ihm die Pistole mit spitzen Fingern aus der Hand. "Sie hat ja ihren Zweck erfüllt."
"Da staunen Sie, was Herr Konner?" fuhr sie lachend fort. "Es ist immer schön, wenn man alte Bekannte trifft." Dabei langte sie über den toten Gerloff hinweg und zog einen schwarzen Aktenkoffer zu sich. Sie legte ihn vorsichtig auf den Tisch und ließ die Schnappschlösser aufschnellen. Dann öffnete sie ihn.
Was Konner da sah, überraschte ihn nicht im mindesten. Es mußten wenigstens 450.000DM in bar sein.
"Der Banküberfall", murmelte er mehr für sich.
"Das ist richtig, Herr Konner." Sie lächelte. "Ich habe schon am ersten Tag unserer Bekannschaft bemerkt, dass Sie sehr intelligent sind."
"War er Ihr Liebhaber?"
"Das kann man eigentlich nicht sagen." Sie zwinkerte der anderen Frau zu. "Ich habe meine Liebe woanders gefunden. Er war mehr so etwas wie ein Werkzeug für mich."
"Er arbeitete auf der Bank", fiel ihm ein.
"Er konnte mir wertvolle Tipps geben. Aber er war dumm, schrecklich! Und irgendwann hätte er unser Geheimnis ausgeplaudert. Außerdem reicht das Geld nicht für drei Personen. Deshalb kamen Sie gerade recht. Ich erfuhr, dass Sie noch eine Rechnung mit ihm offenhatten, das haben Sie mir selbst erzählt. Und da dachte ich mir, dass Sie sie gern begleichen würden."
Jetzt sah Konner endlich klar. Es war von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen. Sie hatte die Spur für ihn geschickt gelegt. Sie hatte genau gewußt, dass er sie suchen würde, sie hatte ihn abhängig gemacht von sich und dann war sie fortgeblieben, und er war losgezogen wie ein junger Hund.
Sie hatte alles arrangiert. Die Nachbarin, die den Wohnungsschlüssel bereithielt, die Adresse im Telefonregister, die rot unterstrichen war und die ihn zu Gerloff geführt hatte, und auch die Mordwaffe hatte sie nur für ihn ausgelegt. Für die Polizei würde es jetzt so aussehen, als hätte ein alter Mann letzte Rache geübt.
Und er hatte nichts bemerkt, hatte sich gefühlt wie Phillip Marlowe, war stolz gewesen auf alles, was er herausgefunden hatte.Sie hatte ihn die ganze Zeit in der Hand gehabt und ihn geführt wie eine Marionette.
Er empfand weder Wut noch Trauer in diesem Moment, er empfand gar nichts. Er war ausgelöscht, er spürte, dass ihn nicht mehr viel trennte von dem toten Gerloff, der ihm gegenüber mit halb geschlossenen Augen lag.
Die Kleiber war an die Balkontür getreten und öffnete sie jetzt. Die Gardinen wurden von dem kühlen Luftzug zurückgeworfen.
"Kommen Sie bitte her, Herr Konner!" sagte sie freundlich. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen."
Und obwohl er wußte, was passieren würde, erhob er sich träge und schleppte sich zur Brüstung. Sie deutete hinunter auf die Straße. Er lehnte sich vor und sah hinab.
Er entdeckte einige Menschen, die hastig vorbeieilten, ein paar Autos, die erstaunlich gesittet fuhren. Der Balkon lag höher, als es von unten den Anschein gehabt hatte. In einem Anfall von Wehmut ließ er den Blick noch einmal über die Stadt schweifen - man hatte eine prächtige Aussicht von hier. Ihm fiel auf, dass er eine Heimatstadt hatte, in der er sich trotz allem die meiste Zeit seines Lebens wohlgefühlt hatte.
Da packten zwei Frauenhände seine Füße und die Kleiber gab seinem Körper einen heftigen Stoß. Er wehrte sich nicht. Und schließlich verlor er das Gleichgewicht und fiel.
Während er stürzte dachte er daran, dass sein Leben zu guter Letzt doch noch einen Sinn gehabt hatte. Er hatte es Gerloff gezeigt, und obwohl sie ihn benutzt hatte und mit ihm in diesem Moment den letzten Zeugen ihres niederträchtigen Spieles beseitigte, war er der Kleiber nicht böse.
Kurz bevor er auf das Straßenpflaster aufschlug, gelang es ihm, allen Haß aus seinem Inneren zu verbannen.
Dann umfing Dunkelheit ihn.
ENDE