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Der Weg des größten Widerstands
Der Weg des größten Widerstandes
Sie fragte mich, was Liebe sei. Ich weiß nicht, sagte ich.
Ich war promovierter Soziologe und Psychologe. Mein zwölftes Fachbuch sollte demnächst erscheinen. Die anderen elf hatten eine Menge Anerkennung gefunden.
Wie meinst du das, du weißt es nicht? fragte sie. Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, was Liebe ist?
Doch, natürlich, sagte ich. Aber ich bin zu keinem Ergebnis gelangt.
Wie kann jemand über Sozialstrukturen schreiben, ohne zu wissen, was Liebe ist? fragte sie.
Ich weiß nicht, sagte ich.
Denk darüber nach, sagte sie und kletterte aus dem Bett.
Zwei Tage später fragte sie: Hast du nie geliebt?
Ich weiß nicht, wollte ich sagen, aber stattdessen rollte ich mich auf den Rücken und richtete den Blick auf jenen Punkt ganz oben, an dem ich die Vergangenheit vermutete. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, sagte ich. Hör gut zu, es ist wichtig.
Na los, sagte sie. Ich lausche.
Rewind. Ich drücke die Rückspultaste und mache die Dinge ungeschehen: Meine Auswanderung, meine glücklichen und unglücklichen Ehen (insgesamt sind es vier gewesen, und die Unterscheidung zwischen glücklich und unglücklich fällt mir nicht immer leicht), die Promotion, das Studium, meinen Schulabschluss. Ich bin wieder dort, wo ich nie mehr hinwill, im Land meiner Geburt. Die Vormittage verbringe ich in der Schule; die Nachmittage in einer schmierigen Imbissbude, wo ich Hamburger brate und die Kunden bediene; die Abende am Fließband in der Fabrik. Ich spare verzweifelt auf ein besseres Leben hin. Der einzige Luxus, den ich mir gönne, sind gelegentliche Spritztouren mit der verrosteten Karre, die mir mein Cousin vermacht hat. Ich hasse seine Gönnerhaftigkeit, aber sein Angebot, mir den Führerschein zu bezahlen und sein altes Auto zu überlassen, hab ich einfach nicht ausschlagen können; beim besten Willen, das ging nicht. Der Tankwart im Nachbarort kennt mich und gibt mir das Benzin zum Freundschaftspreis.
Was soll das werden? fragte sie. Willst du das Armutsideal glorifizieren oder doch lieber in Selbstmitleid baden?
Nein, sagte ich und fühlte mich gekränkt.
Wir reden über Liebe, sagte sie. Zumindest tu ich das.
Ich komme dazu, sagte ich. Lass mich diese Geschichte auf meine Weise erzählen.
Gut, meinte sie. Ich werde den Mund halten.
Er gibt mir das Benzin zum Freundschaftspreis, sodass Autofahren für mich ein erschwingliches Vergnügen sein könnte, wäre ich nicht so sehr dem Alkohol zugetan.
Du hast getrunken? unterbrach sie mich schon wieder.
Mir blieb nichts anderes übrig, sagte ich.
Wann hast du damit aufgehört, wollte sie wissen.
Ich weiß nicht, sagte ich. Es hat sich so ergeben, irgendwann. Ich habe die Lust daran verloren. Lass mich jetzt weitererzählen.
Ich bin niemand, der aus Spaß oder aus Mutwillen trinkt. Wenn mir Zeit dazu bleibt, beschäftige ich mich manchmal mit psychologischen Werken aus der Leihbücherei, und beim Lesen bin ich auf eine Überschrift gestoßen, die lautete: Depression oder "nur" Weltschmerz? In diesem Kapitel wurden Depressionen definiert. Auf mich trifft die Definition nicht so ganz zu; mir geht es noch schlechter.
Ich trinke also. Ganz nebenbei und in großen Mengen, so, wie andere Menschen Wasser trinken. Das macht mich zu einem schlechten Autofahrer. Wiederholt flattern Ermahnungen ins Haus, wiederholt muss ich Strafe zahlen, und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem ich mir am Steuer nichts - absolut gar nichts - mehr zuschulden kommen lassen darf, wenn ich meinen mühsam bestandenen, von meinem herablassenden Cousin finanzierten Führerschein behalten will. Das will ich. Der Gedanke an die Bemerkung, die mein Cousin andernfalls machen würde (irgendwas in der Art von "Dir ist auch nicht mehr zu helfen!"), der Gedanke an sein Achselzucken, das Resignation vortäuschen soll, aber den Triumph nicht verhüllen kann - der bloße Gedanke reicht aus, um mich schaudern zu lassen. Diese Genugtuung werde ich ihm nicht geben, sage ich mir, und von nun an trinke ich an den Tagen meiner Spritztouren nichts mehr, zumindest nicht, bevor ich das Auto wieder abgestellt habe.
Meine Kontoauszüge erfüllen mich mit Ungeduld. Auf diese Weise werde ich nie von hier wegkommen, fürchte ich. Meine allergrößte Angst ist es, nicht wegzukommen; es gibt keine Vorstellung, die mir verhasster wäre. Schränk die unnötigen Ausgaben ein, sage ich mir immer wieder. Dass Benzin und Alkohol zu diesen unnötigen Ausgaben zählen, will irgendein kleiner, aber mächtiger Teil von mir nicht einsehen. Ich trinke zwar keinen Champagner und habe noch nie einen Fuß in eine Cocktailbar gesetzt, wie man sich denken kann; aber wenn man soviel konsumiert, wie ich es tue, geht selbst der billigste Fusel ins Geld.
Und? fragte sie. War 's das? Ich dachte, du erzählst mir 'ne Liebesgeschichte.
Ich komme dazu, sagte ich.
Warum redest du dann nicht weiter, wollte sie wissen.
Es tut weh, sagte ich.
Aber dann fuhr ich doch fort. Ich wusste, sie würde es mir nicht übelnehmen, wenn ich ihr von einer anderen Frau erzählte. Eifersucht hat nie zu ihren Charakterzügen gezählt.
Ich kenne sie aus der Schule. Sie ist nicht direkt wohlhabend...
Oh, ich sehe, du kommst dazu, sagte sie.
Ja, ich komme dazu, und ich bitte dich, mich jetzt nicht mehr zu unterbrechen, sagte ich.
Sie nickte.
Sie ist nicht direkt wohlhabend, aber durch und durch Mittelklasse. Sie kommt aus einer anderen Schicht als ich. Dieses Problem beschäftigt mich sehr. Ich habe bereits das Ziel, Soziologie zu studieren. Man muss sich nicht mit den Dingen abfinden, sage ich mir, man muss sie erforschen, um sie ändern zu können.
Sie ist nicht wohlhabend, aber sie kommt mir so vor. In ihrer Freizeit geht sie gern ins Kino, das hat sie mir erzählt. Sie nimmt Nachhilfe in Chemie und Französisch. Ihre Kleidung ist immer sauber und gebügelt, die Schuhe geputzt. Sie riecht nach Parfum, nicht nach Schweiß, wie ich das meistens tue, weil ich zu faul oder zu müde oder zu gleichgültig oder einfach zu betrunken bin, um mich zu waschen. Wo ihre nackte Haut zu sehen ist - meist nur an den Armen; wenn es sehr heiß ist, auch an Schultern, Rücken oder Dekolleté -, kann ich nicht die kleinste Narbe oder Schramme entdecken, nicht den kleinsten blauen Fleck. Es erscheint mir unvorstellbar, dass es einen Menschen geben kann, der sich niemals irgendwo anstößt und niemals hart angefasst wird - aber es sieht ganz danach aus.
Sie ist das lebendigste Wesen, das ich jemals getroffen habe, mit einem zarten Gesicht und Augen aus Feuer. Sie hat mich noch nie unfreundlich behandelt.
Sprich weiter, sagte sie schließlich. Bitte, sprich weiter.
Eines Tages, als ich aus der Imbissstube komme und meinen Monatslohn auf die Bank bringen will, werde ich von einer Gang in die Mangel genommen. In unserem Viertel gibt es einige Gangs, eigentlich nur Möchtegern-Gangs, aber wenn es zehn gegen einen steht, hat dieser eine trotzdem verloren. Ich versuche mein Geld zu verteidigen, dafür beziehe ich Prügel. An diesem Abend mache ich in der Fabrik einen schweren Fehler, bei dem ein Kollege fast seine Hand verliert. Ich fange an zu weinen und werde gefeuert. Ich werde einfach an die Luft gesetzt. Die Welt scheint untergegangen zu sein.
Am nächsten Morgen stehe ich auf und fühl mich immer noch völlig zerschlagen. Ich beschließe, gut zu mir selbst zu sein, und fahre mit dem Auto in die Schule. Neulich hab ich jemanden davon reden hören, dass der Pizzadienst einen Fahrer sucht. Soll ganz gut bezahlt werden, dieser Job. Ich könnte es ja mal versuchen, sage ich mir, schließlich hab ich meinen Führerschein noch. Ich schwänze also die erste Stunde und stelle mich beim Pizzadienst vor. Nachdem der Chef einen Blick auf meinen Führerschein und einen auf mein Gesicht und einen weiteren auf meine Kleidung geworfen hat, meint er: "Kannst es ja mal probieren. Komm heut abend wieder, dann kannst du anfangen. Aber falls irgendwas vorfällt, bist du fristlos entlassen, mein Junge, merk dir das!"
Einer wie ich ist daran gewöhnt, sich sowas anhören zu müssen. Ich nehme das nicht weiter tragisch. Ich schaff es, sage ich mir. Ich werd es schon schaffen.
Ich fahre auf dem direkten Weg in die Schule, um noch pünktlich zur Mathestunde zu kommen. Mein Schulabschluss steht bevor, nur noch zwei oder drei Monate, und ich weiß, dass ich nicht allzu viel vom Unterricht verpassen darf. An der Bushaltestelle steht sie, und eine heiße, unverhoffte Welle durchläuft meinen Körper. Ich halte an und kurbele das Fenster runter. Soll ich dich mitnehmen? frage ich sie, und sie bedankt sich höflich, obwohl sie mein Auto mit misstrauischen Blicken mustert. Sie steigt ein, knallt die Tür zu, erklärt mir, dass sie verschlafen hat. Du auch, fragt sie. Ja, sage ich, weil diese Antwort am einfachsten ist.
Wundert mich, dass du nicht gesagt hast, du weißt es nicht, sagte sie, aber ich wedelte diese Bemerkung fort wie eine lästige Fliege.
Ich möchte sie fragen, ob sie mitkommt, wenn ich von hier fortgehe, aber ich weiß, was sie antworten würde. Nein, würde sie sagen - auch wenn sie es ganz anders ausdrücken würde. Darum frage ich sie nicht. Ich weiß jetzt schon, dass ich sie nie fragen werde. Wir unterhalten uns über einen Kinofilm, den ich nicht gesehen habe, auch wenn ich so tue als ob.
Das hat sie bestimmt gemerkt, sagte sie. Du kannst dich nicht besonders gut verstellen.
Ich weiß, sagte ich. Ich kann auch nicht besonders gut mitreden. Ein Jammer, nicht wahr? Du musst dir diese Situation mal vorstellen: Ein Junge, dessen ganzer Körper von blauen Flecken übersät und schon seit einer ganzen Woche nicht mit Wasser in Berührung gekommen ist, sitzt neben einem Mädchen aus gutem Hause und versucht sie damit zu beeindrucken, dass er ihr in allem zustimmt, was sie über einen Film sagt, den er nicht gesehen hat. Zum Heulen, oder? Kläglich, oder?
Kläglich, stimmte sie mir zu.
Ich hätte so gern ein Foto von ihr. Für später. Ich will es nicht unter mein Kopfkissen legen, wo es geknickt werden könnte; ich will es sorgfältig aufbewahren, zwischen zwei Buchseiten, und es nur zu besonderen Anlässen hervorholen, um es für eine Weile zu betrachten. Ein Foto von ihr - ich weiß jetzt schon, dass ich sie nie danach fragen werde.
Wir befinden uns in einer Ortschaft. In etwas zu rasantem Tempo fahre ich die seltsam gewundene Hauptstraße entlang. Bis mir plötzlich einfällt, dass hinter der nächsten Kurve eine Radarfalle angebracht ist. Eine Radarfalle, von der ich auf gar keinen Fall geblitzt werden darf, weil ich dann nicht nur Strafe zahlen muss, sondern meinen Führerschein verliere - und wenn ich meinen Führerschein verliere, kann ich den Job beim Pizzadienst vergessen, und wenn ich keinen Job habe und kein Geld verdiene, werde ich ewig hier hängenbleiben, und vor nichts in der Welt habe ich größere Angst als eben davor. Ich drossele die Geschwindigkeit ein wenig, als plötzlich ein Schwarz-Weiß-Foto vor meinem inneren Auge auftaucht, ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem sie und ich zu sehen sind, wie wir in meiner Rostkiste hocken und direkt in die Radarfalle hineinsausen, einträchtig nebeneinandersitzend trotz aller Unterschiede; ein Schwarz-Weiß-Foto, das ich nach langen, mühseligen Verhandlungen mit sturen Beamten an mich nehmen werde - was im Leben ist schon einfach, verdammt nochmal? -, ein Schwarz-Weiß-Foto, das ich niemals wegwerfen oder verlegen werde.
Ich trete das Gaspedal durch.
War 's das? fragte sie, als ich nichts mehr sagte.
Ja, antwortete ich.
Und was willst du mir damit sagen, fragte sie weiter.
Ich weiß nicht, sagte ich.
Dass du doch weißt, was Liebe ist? fragte sie.
Vielleicht, sagte ich.
Hast du das Foto denn aufbewahrt, wollte sie wissen.
Ja, sagte ich.
Aber nicht bis heute, oder? fragte sie. Ich meine, du hast es doch jetzt nicht mehr, oder?
Im Literaturlexikon, sagte ich. Erster Band, zwischen Seite 204 und 205.
Oh mein Gott, sagte sie.