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Der Weg, den man sich nicht aussuchen kann
Ich hielt.
Hatte ich ihn übersehen?
Vor mir lag nur noch eine Ackerwiese, auf die ein 30-Meter-Baum seinen Schatten warf. Sonst kam da nichts. Keine Steine, keine Gebinde. Der Basaltweg, den ich zur Hälfte gegangen war, zog sich gerade durch sie hindurch fort und endete, ebenso wie die Wiese, in zwanzig, fünfundzwanzig Metern vor einer Hecke. Was dahinter kam, entzog sich meinem Blick.
Ich schaute zum Eingang. Ersten Weg rechts, dann bis zum Ende. Alles richtig. Wie man es mir gesagt hatte.
Ich ging ein paar Schritte zurück. Auf den Grabsteinen, die wie halb eingegrabene Spielkarten in der Erde steckten, standen Namen und Daten, doch sagten sie mir nichts. Nur hier und da fiel mir ein Ortsname ins Auge, den ich aus meiner Kindheit kannte.
Wo war er?
Ich entschloss mich, den Weg einfach weiterzugehen, möglich, dass doch noch etwas kam. Urnengräber sind ebenerdig, überlegte ich, vielleicht sah man ihn nur nicht.
Kaum war ich ein paar Schritte gegangen, als mir ein ekelhafter Geruch in die Nase schlug. Gullygestank. Ich presste meine Hand gegen die Nase, doch konnte ich nicht verhindern, dass mich ein Würgereiz überkam und ich heftig anfing zu husten.
Brauchen Sie Hilfe?
Ich erschrak. Durch den Tränenschleier erkannte ich neben mir einen Mann. Er trug einen breitkrempigen Hut, den er weit ins Gesicht gezogen hatte, und einen schwarzen Mantel. Er war kleiner als ich.
Danke, erwiderte ich, während der Husten nachließ, aber der Gestank hier...
Der Mann blickte den vor uns liegenden Weg hoch; seine Augen schlossen sich zu Schlitzen.
Den bekommt man nicht weg, sagte er, wurde alles probiert.
Vielleicht müsste mal die Kanalreinigung...
Alles probiert, unterbrach er.
Ich spähte ebenfalls in die Richtung, in die der Mann sah, konnte aber nichts entdecken. Mein Husten hatte aufgehört, meine Hand drückte ich weiter gegen die Nase.
Wollen Sie dahin, fragte ich.
Der Mann wandte sich mir zu. Ich kann mir den Weg nicht aussuchen, sagte er.
-
Jede normale Geburt, jedes Leben ist ja schon ein Wunder. - Aber seine hier, seine!
Ein älteres Ehepaar aus B. hatte damals den Klempner gerufen, weil in der Küche ein Abflussrohr verstopft war. Der Handwerker versuchte es erst mit herkömmlichen Mitteln, aber die unappetitliche Brühe, die bis zum Rand im Waschbecken waberte, floss nicht ab. So begann er das Rohr systematisch abzuklopfen, Zentimeter für Zentimeter. Im Keller, direkt neben der Heizung, verstummte der hohle Klang plötzlich.
Hier, sagte der Klempner zu dem Ehepaar, das ihm war gefolgt war, hier ist was. Zum Beweis klopfte er auf Stellen vor und hinter der ausgemachten - und tatsächlich, es gab keinen Zweifel, hier musste sich etwas festgesetzt haben.
Er nahm einen Meißel und hämmerte los, erst willkürlich mitten hinein, dann, als ein brauner und übelriechender Brei sich herauszuringeln begann, großzügig im Quadrat. Immer mehr quoll nun aus den Löchern, bis das Quadrat endlich schlagartig umklappte und das Rohr einen schmierigen, blutverschmierten Klumpen gebar und Richtung Estrich spuckte. Der Klempner folgte trüben Blicks der Flugbahn, der Ehemann schlug die Hände vor den Mund, die Frau kreischte auf. Fäkaliengestank füllte den Raum und ätzte auf den Zungen der Anwesenden.
Ich mach' das weg, sagte der Klempner.
Er war kaum in die Hocke gegangen, da fing der Haufen plötzlich zu schreien an.
Der Klempner schreckte zurück. Entsetzen, Rufe, Ekel, Gerenne. Endlich fiel man vor dem Haufen auf die Knie, manschte, zerrte einen Säugling hervor, wischte und schmierte das Gesichtchen mit Öllappen ab, so gut es ging. Der Klempner berappelte sich als Erster, stürzte hoch in die Wohnung und rief die Polizei.
Die Sanitäter, die bald darauf auftauchten, nahmen das Kind kurz in Augenschein und fuhren es ins nahe gelegene Krankenhaus. Dort legte man es an den Tropf und untersuchte es eingehend und bereits anderntags konnte man gegenüber der inzwischen alarmierten Presse verkünden, der Säugling sei zwar untergewichtig, alles in allem aber durchaus gesund und im Übrigen männlich. Darüber hinaus gehende Fragen: wie alt er sei, wie er in das Rohr gekommen sei, wie er darin hatte überleben können und wer überhaupt die Eltern seien - das, so hieß es, lasse sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Später wurde bekannt, dass bis vor einem dreiviertel Jahr vor der Geburt ein verlottertes Paar ohne jeden Ehrgeiz in der Wohnung über der des Ehepaares gehaust habe. Und darauf bauten Mediziner das Gehäuse: Nicht anders habe es sein können, als dass die Frau eine befruchtete Eizelle ausgeschieden, diese hinwiederum in der Windung des Abflussrohrs ähnliche Bedingungen wie in einer Gebärmutter vorgefunden und dort schlussendlich den Sprung vom Embryo zum fertigen Baby geschafft habe. Das klinge grotesk, das wisse man wohl, sei aber nach Ausschluss aller weiteren Optionen die einzig logische Erklärung; schon deshalb, weil ein Säugling dieser Größe kaum die erste Rohrwindung hätte passieren können. Und die Eltern? Die hatten außer dieser Verstopfung nie eine Spur hinterlassen und wurden nie gefunden.
Wie dem auch sei, das seltsame Findelkind schien vorerst gerettet. Drei Monate blieb es im Krankenhaus, fraß sich in Windeseile ans Normalgewicht und stand schließlich einem Standardbaby in Sachen Aussehen und Propperheit in Nichts nach.
Doch etwas stimmte mit dem Kind nicht! Bereits in der ersten Nacht war der Schwester aufgefallen, dass der Junge trotz Reinigung, trotz diverser Öle und Cremes und trotz frischer Wäsche ekelerregend rieche, und zwar, um es mit ihren Worten zu sagen: nach Scheiße. Nicht nach Kinderpup, wie sie nachlegte, nach Erwachsenenkacke. Das war natürlich nicht nett und dem Stationsarzt zu drastisch formuliert, traf die Sache aber im Kern: Keine Schwester, die ihre Arbeit am Kind fortan anders als mit Mundschutz und Gummihandschuhen verrichtete, keine, die nach zehnminütigem Aufenthalt in dem Schwesternzimmer duschen, ach was!, nach Hause gehen zu dürfen verlangte, keine, die am nächsten Tag nur bei Androhung fristloser Kündigung überhaupt wiederkam. Es war zum Heulen. Als eine Oberschwester berichtete, das Kindlein habe des Nachts ein Kotbröckchen herausgewürgt, war es selbst dem Klinikchef schließlich zu viel und er rief das Amt an und forderte mit lautem Getöse, man möge ihn und sein Team auf der Stelle von diesem Kind befreien, das sei ja alles nicht mehr auszuhalten, verdammt nochmal!
Tatsächlich, aber das hatte der Klinikchef augenscheinlich nicht mitbekommen, hatte das Kind bis zu diesem Zeitpunkt bereits drei Paare verschlissen. Drei Paare! Drei Paare waren da gewesen, hatten das Kind guten Willens mitgenommen, um zu testen, ob eine Adoption in Frage käme. Doch selbst die verzweifelsten unter ihnen brachten es spätestens anderntags zurück mit dem Hinweis, der Gestank sei schlechterdings nicht auszuhalten. Lieber wolle man kinderlos bleiben, als sich so was ins Haus zu holen. Und außerdem, Verzeihung!, kotze es Kacke.
Der zuständige Beamte war der ganzen Sache alsbald überdrüssig und entschied sich zur Anweisung der Durchführung einer Unterbringung in einem Heim. Im Waisenstift zu V. wurde man das Kind los. Dort verfrachtete man es nach einem Tag ins hinterste Einzelzimmerchen, wo es abermals nicht ohne Mundschutz und Gummihandschuhen betreut wurde.
Der Mann kramte eine Zigarette aus seinem Mantelinnern und zündete sie an. Er blies mir den Rauch versehentlich ins Gesicht und ich musste erneut husten.
Der Junge entwickelte sich unterdessen gut. Er begann zu sprechen, wurde eingeschult (wobei er immer allein am geöffneten Fenster sitzen musste), lernte Farben und geometrische Formen, zeigte im Sportlichen sogar einige Talente, berechnete Sinus und Cosinus ohne große Mühe und schaffte - entgegen allen Prophezeiungen - sogar das Abitur.
Der Husten legte sich und ich spürte nur noch ein unangenehmes Kratzen im Rachen.
Alles war gut, sagte der Mann. Aber - als man ihn dann mit achtzehn vor die Tür stellte, war Schluss. Da kam nichts mehr. Aus den Hörsälen und Büros der Professoren wurde er nach wenigen Minuten hinausgewunken, weil er zu sehr roch. Frauen, vom fernen Eindruck angezogen, machten auf dem Absatz kehrt, sobald sie sich genähert hatten. Chefs, die ihn zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatten, machten bereits mit seinem Eintreten in ihre Büros angewiderte Gesichter.
Und er selbst? Er selbst konnte sich ebenfalls nicht riechen. Er war fünfzehn, sechzehn, als er einsah, dass alles Waschen und Schrubben, alles Deo und Parfum, alle Ernährung und aller ärztlicher Rat nichts halfen: Er würde seinen Geburtsgestank niemals los werden, wie sehr er sich auch anstrengen mochte. Und schlimmer noch: Der allmorgendliche Kotklumpen in seinem Mund wurde mit den Monaten größer und größer und mit ihm der Ekel vor sich selbst.
Der Mann machte eine Pause und sah in die Ferne.
Woher wissen Sie das alles?, fragte ich den Mann. Das Kratzen in meinem Hals hatte wieder zugenommen. Kannten..., meine Stimme brach heiser ab, ich räusperte mich laut, kannten Sie ihn?
Vor zehn oder elf Jahren, da war er 49, fand man ihn tot in seiner Wohnung. Leute von der Gasversorgung hatten sich beim Amt erkundigt, weil er die Rechnungen nicht mehr bezahlte. Die Polizisten, die seine Wohnungstür aufbrachen, berichteten später weniger vom Verwesungsgeruch, der zwangsläufig - es war Hochsommer und der Mann seit circa drei bis vier Wochen tot - in der Wohnung gewesen sein musste, als mehr von dem nach übelstem Durchfall, der ihnen aus der Wohnung entgegen schlug. Der Gerichtsmediziner fand bei der Obduktion einen steinharten Kotklumpen in seinem Rachen und schloss daraus auf Darmverschluss, an welchem er erstickt sein musste. Das Amt entschied ihn einzuäschern.
Dahinten, der Mann nickte in Richtung Friedhofseingang, dahinten vergrub man seine Urne. -
Etwa eine Woche nach seiner Beerdigung fingen die Friedhofsbesucher an, sich über den Gestank zu beschweren, der - ihrer Wahrnehmung nach - aus dem Grab ströme und sich in dessen Umkreis ausbreite. Man könne kaum nach seinen Liebsten sehen, ohne diesen widerwärtigen Geruchsfaden in die Nase zu bekommen. Unzumutbar sei das und man werde sich demnächst bei höherer Stelle beschweren.
So buddelte man ihn schließlich wieder aus und verfrachtete ihn in die hinterste Ecke des Friedhofs, dahinten hin.
Der Mann nickte in Richtung der Hecke, die den Basaltweg, der vor uns lag, abschnitt.
Dann war erstmal Ruhe. In zwanzig oder dreißig Jahren, so hofft man, wenn die Gräberreihen so weit fortgeschritten sind, dass sie an das Urnengrab stoßen, hat der Geruch sich vielleicht verflüchtigt und alles wird gut.
Das Kratzen in meinem Hals hatte sich zu einem Brennen gesteigert und ich begann zu husten. Rotz landete auf meinen Handflächen. Als ich fertig war und mir die Tränen auf den Augen gewischt hatte, spürte ich auf meiner Zunge neben den gewöhnlichen Schleimschlieren etwas Krümeliges. Ich steuerte es mit der Zunge an die Lippe und fischte es heraus.
Als ich entsetzt zur Seite sah, klopfte mir der Mann auf die Schulter. Dann setzte er den Weg, den er sich nicht aussuchen konnte, fort.