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Der Weg – das Ziel
Vor dem Anbeginn der Zeit war das Nichts und in ihm das Chaos.
- Hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, warum wir den Jetzt-Zustand des Universums beschreiben können, trotz all der verschiedenen Zeiten, durch Gravitation und Entfernung bedingt? Wir erkennen Zusammenballungen und Leerräume, wo vielleicht gar keine sind. Woher nehmen die Wissenschaftler die Anmaßung, das alles berechnen zu können? fragte er mich. Was ist schon ein Augenblick in der Weite des Weltalls und auf unserem Planeten? Wenn wir bei diesen großen Entfernungen und dieser gigantischen Anzahl von Menschen jeden Aspekt der Entwicklung – Geburt und Tod eingeschlossen – wahrnehmen können, nur abhängig vom Ort, an dem wir uns befinden.
Ich schrieb weiter, als hätte ich seine Frage nicht gehört.
Als sich dieser verschrobene alte Mann zu mir gesetzt hatte, wußte ich noch nicht so recht, was mich erwarten würde. Der Alte bestellte ein Glas Rotwein, so dachte ich zumindest.
Natürlich schauten die alten, tief liegenden Augen mich an, als würden wir uns kennen. Dabei war ich mir sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben. Aber als der Wirt kam und eine Tasse Kaffee auf den Tisch stellte und diese anstandslos entgegengenommen wurde, war ich mir nicht mehr so sicher. Natürlich fragte ich den Alten, ob er nicht Rotwein bestellt hätte; doch dieser schüttelte nur den Kopf.
Ich wollte nun der Sache auf den Grund gehen und so stand ich auf und ging hinüber zum Wirt.
- Aber wieso Rotwein? fragte er entsetzt, er trinkt doch seit je her jeden Tag seinen Cognac.
- In seinem Kaffee?
- Nein, in einem Glas, gab er brüskiert zurück.
Ich ging zurück zum Tisch und tatsächlich, dort stand vor dem Alten ein Schwenker Cognac, was mich noch mehr verwunderte, da ich erwartet hatte, wieder etwas anderes zu sehen, als angekündigt.
Ich schrieb also weiter, nicht auf die Frage achtend.
Gedanken – fixiert auf ein Stück Papier – sind gefangen. Verdammt in alle Ewigkeit in Starrheit zu existieren. Nein. Sie sind keine Gedanken mehr. Gedanken finden im Kopf statt. Ein Text, wenn er gelesen wird, ist nur Grundlage für neue Gedanken, neue Ideen. Der Text wird als Gedanke wieder lebendig, erweckt Gefühle. Auch wenn ein Gedanke nur ausgesprochen wird, durchläuft er die gleiche Metamorphose.
In Worte geronnenes Leben.
Ich antwortete nicht, ließ ihn einfach stehen, sitzen, liegen.
Stillstand.
Und das Leben? Nichts eigenes.
Von anderen aufgezwungen, abgekupfert, Mimikry.
Nur leben, wenn andere da sind.
Angepaßtes Leben.
Man lebt sowieso nur, wenn andere zuschauen. Allein, für sich, bereitet man sein Leben für das Publikum vor.
Was will man wirklich selbst und was wollen die anderen von einem?
Man lebt für das Publikum und ohne Publikum ist man nichts.
Auch er wollte ein Publikum haben. Genau wie ich. Wozu sollte ich sonst schreiben? Und wozu hätte er sich sonst zu mir gesetzt? Das Café war so gut wie leer zu dieser Stunde.
Doch was ist mit uns selbst? Bin ich für mich nicht Publikum genug? Schärfster Kritiker und glühendster Verehrer in einem?
Eben deshalb ist man selbst nicht Publikum genug.
- Du solltest mal was über Wale schreiben. Wenn sie zusammenkommen, um in Verbänden zu jagen.
Ich schaute auf. Ich wußte nicht, ob er wirklich die Wale meinte, oder einen Gedanken von mir aufgegriffen hatte. Denn das Publikum jagt auch in Verbänden nach immer neueren Ergüssen ihrer Künstler. Es möchte am liebsten jeden Tag etwas Neues von ihm erfahren.
Ich mußte fort, weg von diesem Mann. Ich legte ein paar Münzen auf den Tisch.
Im Aufstehen bemerkte ich, daß sich der Raum verändert hatte. Nackte Neonröhren hingen an den Wänden zwischen den Fenstern und hatten die Kerzenhalter verdrängt. Die Holztäfelung war einer weißen, klinischen Wand gewichen. Die Nacht war schon weit fortgeschritten und schaute zu den Fenstern herein.
Für mich hatte Zeit schon längst aufgehört zu existieren!
Still stehend drehte ich mich langsam um mich. Der Kellner kam und hob die Münzen vom Tisch auf.
Ich schaute den Alten direkt an. Hatte ich mit dem Drehen aufgehört oder drehte sich nun alles mit mir mit? Das harte Neonlicht ließ die Furchen des Lebens auf seinem Gesicht noch tiefer erscheinen. Ich hob die Hand zum Abschied.
Und erst jetzt, erst als ich Abschied nahm, erkannte ich den inhärenten Schmerz, der in allem dicht unter der Oberfläche schlummerte. Niemand konnte sagen, ob es besser war, ihm jetzt alles zu eröffnen, oder ob man doch noch warten sollte. Denn ich war er und er war ich, das erkannte ich jetzt.
Ich ging fort, um wieder zu kommen. Ich verließ diesen Ort, um wieder zu ihm zurückzukehren.
Floskeln, ich weiß. Die Welt ist voll davon. Sie wird beherrscht von ihnen. Übersättigt von Ehrenwörtern und Platitüden. Doch alle wollen noch mehr hören. Die Menschen halten sie für die allumfassende Weisheit. Sie wollen sie, um nicht selbst denken zu müssen.
Ich lief weg, rannte und rannte doch nur vor mir selbst davon.
Mein Weg führte mich an den Bahngleisen entlang. Zwei Wege, eine Richtung. Noch hundert Meter weiter, und der Weg würde über die Bahngleise führen. Hinüber und wieder parallel. Zwei Parallelen schneiden sich im Unendlichen. Hatte ich soeben die Unendlichkeit passiert? Sagt man nicht vom Universum, es sei unendlich? Ist dann der Punkt, an dem sich zwei Parallelen schneiden, das Ende des Universums? Das Universum ist unendlich und endlich zugleich. Wie die Oberfläche einer Kugel. Man findet keine Grenze, kein Ende, wo man sagen kann, hier beginnt etwas anderes. Man sieht nur die Unendlichkeit. Aber die Ausdehnung ist berechenbar, meßbar. Der alte Grieche würde sich mit seinem Speer, wenn er ihn kräftig genug werfen würde, also nur in den eigenen Arsch treffen.
Wenn man einen Weg also lange genug geht, erreicht man wieder den Ausgangspunkt.
Ist der Weg das Ziel, oder macht das Ziel den Weg?
Und Niederlagen bringen uns weiter?
Lachen könnte ich über solche Allgemeinplätze, die ich als Schriftsteller doch immer wieder fabriziere, wenn das Leben nicht so traurig wäre.
Ich. I – C – H.
Geist.
Bewußtsein.
Seele.
Nur Worte, nichts dahinter.
Die Rose? Scheiß auf die Rose!
Kein Ende, kein Weg, kein Ziel.
Man fand ihn am nächsten Morgen mit einer Schlinge um den Hals, nackt an einem Baum hängend. Den Abschiedsbrief hatte er sich mit einer großen Sicherheitsnadel an die Brust geheftet.