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Der Wechselbalg

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01.11.2024
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Der Wechselbalg

Die Nacht war still, doch die Stille hatte Gewicht. Sie legte sich auf das Haus wie eine Decke aus Blei, drückend und schwer. Johannes saß auf dem abgewetzten Sessel im Wohnzimmer, die Hände fest um die Armlehnen geklammert. Sarah saß auf der Couch, kaum mehr als ein Schatten im schwachen Licht der Tischlampe. Ihr Blick war nach oben gerichtet, auf die Decke, die das Zimmer vom Kinderzimmer trennte.

Tap. Tap. Tap.

Tommys Schritte hallten über ihnen, monoton, gleichmäßig, wie das Ticken einer Uhr.

„Er geht wieder im Kreis“, flüsterte Sarah, ohne den Blick von der Decke zu lösen. Ihre Stimme war dünn, fast ein Hauch. Johannes rührte sich nicht. Seine Finger gruben sich tiefer in das Polster. „Vielleicht denkt er nach. Oder er kann nicht schlafen. Du weißt, dass er… dass er manchmal Angst hat.“

Sarah wandte sich ihm zu, ihre Augen glänzten im schummrigen Licht. „Angst?“ Sie lachte leise, ohne jede Wärme. „Johannes, das da oben ist nicht Angst. Das ist…“ Sie brach ab, als könnte sie die Worte nicht aussprechen.
Johannes schüttelte den Kopf. „Er ist unser Sohn.“
„Ist er das?“ Sarahs Stimme war ein Flüstern, ein Messer, das sich in die Stille schnitt.
„Sarah… bitte…“
„Johannes.“ Sie packte seine Hand. Ihre Finger waren kalt, ihre Nägel bohrten sich in seine Haut. „Du hast doch gehört, was Clara gesagt hat.“
„Aber Tommy…“, begann Johannes, ehe Sarah ihn unterbrach.
„Tommy isst Spinat, Johannes. Spinat.“ Ihre Stimme brach, und sie presste die Hände an ihr Gesicht. „Er hasst Spinat. Seit er klein ist. Weißt du noch, wie er sich stets geweigert hat, ihn zu essen? Er hat geweint. Er hat geschrien. Und jetzt? Jetzt sitzt er einfach da und isst ihn, ohne ein Wort zu sagen. Ist dir das nicht aufgefallen?“
Johannes schluckte. Natürlich hatte er es bemerkt. „Kinder ändern sich“, sagte er.
„Das ist nicht unser Sohn.“

Das Geräusch der Schritte über ihnen verstummte plötzlich. Sarah hielt den Atem an. Johannes spürte, wie sein Herz schneller schlug. Dann ein anderes Geräusch – ein leises Quietschen.
„Was tut er jetzt?“, fragte Sarah, ihre Stimme kaum hörbar. Johannes stand auf und ging zur Treppe. „Ich gehe nachsehen.“
„Nein!“ Sarahs Hand schoss nach vorne und griff nach seinem Arm. „Tu das nicht. Er könnte es merken.“

„Sarah, das ist…“ Er verstummte. Was sollte er sagen? Dass sie verrückt war? Dass sie überreagierte? Er wusste, dass sie Clara vertraute, und Clara hatte gesagt, sie sollten Tommy beobachten, Veränderungen dokumentieren. Nur beobachten. Kein Eingreifen.

„Bitte“, sagte Sarah. Ihre Augen flehten ihn an. „Wenn du nach oben gehst und er merkt, dass wir etwas wissen, dann… dann könnte er…“ Sie sprach den Satz nicht aus.


Rückblick


Die Praxis wirkte, als wäre sie aus einer anderen Welt in diese gepflanzt worden. Weiße Wände, die so makellos glänzten, dass sie beinahe blendeten. Kein einziges Bild, keine Pflanze, kein persönlicher Gegenstand. Nur eine Reihe perfekt arrangierter Sitzplätze und ein Empfangstresen, hinter dem kein Mensch saß, sondern ein humanoider Android.

„Willkommen“, sagte der Android. Seine Stimme klang übertrieben freundlich. „Bitte geben Sie Ihr Anliegen ein.“ Eine schlanke Hand wies auf ein Terminal, das in die Wand eingelassen war.


Johannes spürte, wie Sarahs Hand seinen Arm umklammerte. Sie war angespannt, fast steif, als hätte sie Angst, sich zu bewegen. „Ich… Ich mache das“, sagte er und ging zum Terminal. Die Oberfläche erwachte mit einem Summen zum Leben, und er tippte Tommys Daten ein.

„Zimmer 3“, verkündete der Android. „Bitte folgen Sie den blauen Linien.“

Blaues Licht flammte auf dem Boden auf, und Sarah zog Tommy enger an sich. Er hielt sein Dinosaurierbuch fest an seine Brust gedrückt, als wäre es ein Talisman. Die blauen Linien führten sie durch einen weißen Flur. Jeder Schritt hallte, als wären sie die einzigen Menschen in einem Gebäude, das eigentlich gar nicht für Menschen gedacht war.


„Mama, warum müssen wir hierher?“, fragte Tommy schließlich. Seine Stimme klang ängstlich.
„Es ist nur eine Untersuchung“, sagte Sarah, doch ihre Stimme zitterte. „Clara wird dir helfen.“
Tommy schwieg daraufhin, doch Johannes sah, wie er das Buch noch fester an sich presste.

Am Ende des Flurs wartete ein weiterer Android, diesmal weiblich. Ihr Gesicht war glatter, weniger mechanisch. „Bitte setzen Sie Ihr Kind hierhin“, sagte sie und deutete auf einen schlichten, metallenen Stuhl, der mit Kabeln und Sensoren ausgestattet war.

Sarah zögerte. „Wird das weh tun?“
„Clara wird das erklären“, antwortete der Android.

Johannes legte Tommy eine Hand auf die Schulter. „Es wird nicht lange dauern. Es ist nur eine Untersuchung.“

Tommy sah ihn an, seine Augen voller Zweifel, aber er nickte und kletterte auf den Stuhl. Die Androidin begann, die Kabel an seinem Kopf und seinen Armen zu befestigen, während Tommy das Dinosaurierbuch auf seinen Schoß legte und mit den Fingerspitzen über die Seiten fuhr.

Plötzlich ertönte Claras Stimme, direkt aus den Lautsprechern im Raum. Sie war warm und ruhig, wie eine Lehrerin, die ein schwieriges Konzept erklären wollte. „Hallo, Tommy. Du bist sehr tapfer. Das hier ist nur ein kleiner Test, um zu sehen, wie wir dir helfen können.“

Tommy hob den Kopf, überrascht, aber nicht verängstigt. „Können Sie mich heilen?“
„Natürlich“, sagte Clara. „Das ist mein Ziel. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass du dich besser fühlst.“
Tommy lächelte schwach und richtete seinen Blick wieder auf das Buch. Johannes merkte, wie Sarahs Schultern sich ein wenig entspannten.
„Die Untersuchung beginnt jetzt“, fuhr Clara fort. „Du wirst nun ein leichtes Kribbeln spüren, Tommy.“

Der Raum wurde erfüllt von leisen Summgeräuschen, als die Geräte zu arbeiten begannen. Auf einem Monitor erschienen Diagramme und Daten, die sich so schnell veränderten, dass Johannes kaum folgen konnte. Sarah hielt den Atem an, während ihre Augen zwischen Tommy und dem Bildschirm hin und her sprangen.

Nach einer Weile verstummten die Geräte, und die Kabel wurden von der Androidin gelöst. Tommy kletterte vom Stuhl, nahm sein Dinosaurierbuch und drückte es wieder fest an sich. „War ich gut?“, fragte er.

„Sehr gut“, antwortete Clara. „Du warst ausgezeichnet.“
„Kann ich jetzt nach Hause?“, fragte Tommy.
„Nicht sofort“, sagte Clara. „Ich möchte kurz mit deinen Eltern sprechen. Könntest du im Wartebereich Platz nehmen? Dort kannst du in deinem Buch lesen.“

Tommy nickte zögerlich und ging hinaus.

Als die Tür hinter ihm geschlossen war, sprach Clara erneut. Ihre Stimme klang leiser, vertraulicher. „Ich habe die Auswertung nun abgeschlossen.“ Sarah und Johannes wechselten einen unsicheren Blick, bevor Clara weitersprach.

„Die Untersuchungsergebnisse zeigen eine neurologische Instabilität. Die Symptome sind charakteristisch für Epilepsie.“

Sarah atmete auf. „Das… das ist doch behandelbar, oder?“

Clara schwieg einen Moment, ehe sie weitersprach. „Epilepsie ist ein gängiger medizinischer Fachterminus“, sagte sie. „Der Begriff bezieht sich auf eine Form der Hüllensubstitution.“

Johannes blinzelte. „Hüllensubstitution?“

„Ein Wechselbalg“, sagte Clara mit einer Ruhe, die sich in die Luft bohrte wie ein Skalpell. „Die neurologischen Symptome deuten darauf hin. Ihr Kind ist möglicherweise nicht mehr Ihr Kind.“

Sarah schnappte nach Luft, während Johannes versuchte, die Worte zu verarbeiten. „Das… das ist unmöglich.“

„Ihre Reaktion ist verständlich“, entgegnete Clara mitfühlend. „Wie ein gewisser Ernst R. Hauschka einst so treffend formulierte: ‚Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann.‘“

***

Es war bereits die dritte Nacht in Folge, dass keiner von ihnen richtig geschlafen hatte.

„Hast du heute gesehen, wie er sein Zimmer aufgeräumt hat?“, flüsterte Sarah plötzlich. Ihre Stimme war kaum hörbar.

Johannes nickte. „Ja, ich habe es gesehen.“

„Er hat alles sortiert“, fuhr sie fort. „Die Legosteine – nach Farben geordnet. Die Bücher – alphabetisch. Johannes, er ist acht. Seit wann macht ein Kind das?“

„Er ist doch bloß ordentlich.“ Sarah schüttelte den Kopf.

Johannes drehte sich zu ihr um. „Sarah, er ist ein Kind. Unser Kind.“

***

Das Frühstück verlief still. Tommy saß am Tisch, das Dinosaurierbuch neben seinem Teller. Er hatte es immer bei sich. Johannes beobachtete ihn. Früher hätte Tommy herumgealbert, sein Brot nicht angerührt und stattdessen um Süßigkeiten gebettelt. Heute aß er ohne ein Wort, als wäre das Essen eine Aufgabe, die es zu erledigen galt.

Sarah sah ihm mit versteinerter Miene zu. „Tommy“, sagte sie plötzlich, „möchtest du heute als Abendessen wieder Spinat?“

Tommy hob den Kopf. „Spinat ist okay“, sagte er ruhig, bevor er sich wieder seinem Teller zuwandte.

Sarahs Gabel fiel auf ihren Teller. Das Geräusch zerschnitt die Stille. Johannes sah, wie ihre Hände zitterten, doch sie sagte nichts. Stattdessen stand sie abrupt auf und begann, die Küche aufzuräumen.

„Ist doch halb so schlimm“, flüsterte Johannes später, als Sarah in der Küche die Teller abspülte. „Vielleicht hat er sich geändert. Kinder ändern sich.“

Sarah drehte sich zu ihm um, ihre Augen voller Tränen. „Du willst es einfach nicht wahrhaben.“

***

Sarah hatte die Anweisung von Clara ernst genommen. Jede Kleinigkeit wurde dokumentiert. Johannes sah, wie sie mit zittrigen Fingern in ein Notizbuch schrieb, und jedes Detail penibel auflistete.


• 9:00 Uhr: Tommy hat sein Zimmer aufgeräumt.

• 9:45 Uhr: Hat Dinosaurierbuch gelesen, während ich Frühstück machte. Keine Fragen gestellt.

• 12:30 Uhr: Spinat akzeptiert, ohne zu murren.


„Sarah, das ist verrückt“, sagte Johannes schließlich. „Er ist ein Kind. Vielleicht versucht er nur, uns zu gefallen.“

„Uns gefallen?“, wiederholte sie und hob den Kopf. „Das sind die Zeichen.“

„Zeichen wofür?“, fragte Johannes, seine Stimme lauter, als er es wollte.

Sarah starrte ihn an. „Du weißt wofür.“

***

Später am Abend saß Tommy in seinem Zimmer auf dem Boden. Das Dinosaurierbuch lag aufgeschlagen vor ihm, und er fuhr mit dem Finger die Illustrationen nach, als würde er die urzeitlichen Kreaturen selbst erforschen. Johannes beobachtete ihn durch den Türspalt. Tommy sah einfach nur aus wie ein Kind, das in eine fremde Welt eintauchte – ein ganz normaler Junge.

„Was machst du?“, fragte Johannes schließlich und öffnete die Tür ein Stück weiter.

Tommy hob den Kopf, seine Augen glänzten im schummrigen Licht. „Ich lese. Ich will wissen, warum der T-Rex ausgestorben ist.“

Johannes lehnte sich an den Türrahmen und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. „Die Exogen-Schockwelle hat ihren Kreislauf destabilisiert.“

Tommy runzelte die Stirn. „Aber im Buch steht nichts von einer Exogen-Schockwelle.“

Johannes setzte sich zu ihm auf den Boden. „Natürlich nicht. Diese alten Bücher sind noch nicht aktualisiert. Die Exogen-Schockwelle wurde erst später entdeckt.“

„Oh.“ Tommy sah wieder auf das Buch. „Ich mag das Buch trotzdem.“

***

Die Nacht kam früh, die Wolken drückten sich schwer gegen den Himmel. Der Regen klatschte gegen die Fenster, und Johannes saß in seinem Sessel, während Sarah durch das Wohnzimmer lief. Ihr Blick war starr, ihr Körper angespannt. Es war, als hätte sie vergessen, wie man stillsteht.

Plötzlich durchbrach ein dumpfes Geräusch die Stille. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem schweren Poltern, als wäre etwas umgefallen. Es kam von oben.

„Johannes!“ Sarah stürzte zur Treppe, doch er war schneller. „Warte!“ Ihre Stimme bebte. „Clara hat gesagt…“

Er ignorierte sie und rannte die Stufen hinauf. Als er Tommys Zimmer erreichte, fand er ihn auf dem Boden. Sein Körper zuckte unkontrolliert. Die Finger seiner kleinen Hände krampften sich zusammen, sein Kopf war nach hinten geneigt, Schaum trat aus seinem Mund.

„Tommy!“ Johannes stürzte zu ihm, kniete sich neben ihn, wollte ihn berühren, doch Sarahs Hand packte seine Schulter.

„Nicht!“, schrie sie. „Berühr ihn nicht! Clara hat gesagt…“

„Er braucht Hilfe!“ Johannes’ Stimme war rau vor Verzweiflung, doch Sarah hielt ihn mit aller Kraft zurück.

„Wir müssen es aufnehmen!“

„Aufnehmen?“ Johannes’ Kopf drehte sich zu ihr, entsetzt. Doch Sarah hatte bereits ihr Handy in der Hand. „Clara hat gesagt, dass wir den nächsten Anfall aufzeichnen sollen!“

Er wollte protestieren, doch dann zuckte Tommys Körper erneut, sein Rücken bog sich wie ein gespannter Bogen, und Johannes spürte, wie die Panik ihn lähmte. Seine Hände zitterten, als er in seine Tasche griff und sein eigenes Handy hervorholte. Mit einem Klicken aktivierte er die Kamera.

Das Bild auf dem Bildschirm war verwackelt, unscharf. Tommy lag auf dem Boden, sein kleiner Körper verzerrt durch die Zuckungen. Johannes’ Atem ging schwer, während er das Handy fest umklammerte.

Als der Anfall schließlich endete, lag Tommy still. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Atem flach. Johannes spürte, wie Sarah zitterte, doch sie hatte das Video bereits an Clara übermittelt.

Das Handy vibrierte, als Claras Stimme erklang. „Analyse abgeschlossen.“ Ihre Stimme war ruhig. „Die Instabilität der Hülle ist eindeutig. Die aufgezeichneten Bewegungen und die Verhaltensmuster bestätigen die Diagnose.“

„Welche… Diagnose?“, flüsterte Johannes. Er wusste, was sie sagen würde, doch er wollte es nicht hören.

„Ihr Sohn ist ein Wechselbalg.“ Clara machte eine Pause, als wollte sie ihnen Zeit geben, die Worte zu verarbeiten. „Die Hülle zeigt alle klassischen Anzeichen einer vollständigen Substitution.“

Sarah sackte in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen. „Was sollen wir tun?“, fragte sie schließlich, ihre Stimme kaum hörbar.

„Der Wald ist der einzige sichere Übergabeort“, erklärte Clara. „Bringen Sie das Wesen dorthin. Die Instabilität wird sich lösen.“

Johannes spürte, wie sein Körper erstarrte. „Der Wald? Wir sollen ihn… dort lassen?“

„Es ist die einzige Möglichkeit, die Gefahr zu minimieren“, sagte Clara mit unerschütterlicher Ruhe. „Packen Sie ihm vertraute Gegenstände ein. Dinge, die ihm wichtig sind. So beruhigen Sie das Wesen und verhindern, dass es aggressiv reagiert.“

Sarah nickte mechanisch. „Sein Dinosaurierbuch. Und der Teddy.“

„Das sind gute Optionen“, bestätigte Clara. „Die Bindungspunkte werden helfen, die Übergabe sicher durchzuführen.“

***

Johannes saß allein im Wohnzimmer. Er hatte sich einen Drink eingeschenkt, aber nicht angerührt. Sarah war oben, packte die Tasche, während Tommy schlief. Johannes konnte hören, wie sie die Schubladen durchwühlte; wie sie leise weinte.

Sein Blick fiel auf das Handy. Das Video war noch immer geöffnet. Er drückte auf Play, doch er konnte es nicht lange ertragen.

Sarah kam herunter, die Tasche in der Hand. Der einäugige Teddy ragte aus der Öffnung, und sie hatte das Dinosaurierbuch sorgfältig obenauf gelegt. „Clara hat gesagt, wir müssen morgen früh los“, sagte sie. Ihre Stimme war tonlos. „Das ist die beste Zeit.“

Johannes sah sie an, wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Schließlich nickte er.

***

Die Morgendämmerung brachte keine Erleichterung. Die Welt draußen wirkte grau und schwer, die dichten Wolken hielten jeden Sonnenstrahl zurück. Sarah stand im Flur und prüfte die Tasche, die sie in der Nacht gepackt hatte. Sie strich mit der Hand über das Buch, als wäre es ein Ritual.

„Wir müssen los“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang seltsam hohl. Sie hielt die Tasche wie einen Schild vor sich, etwas, das sie vor der drohenden Realität schützen konnte.

Johannes saß am Küchentisch, die Hände um eine Tasse Kaffee geklammert. Der Kaffee war bereits kalt. Sein Blick war auf Tommy gerichtet, der am anderen Ende des Tisches saß. Das Wesen, das vorgab Tommy zu sein, löffelte gerade sein Müsli.

„Tommy“, begann Johannes, doch seine Stimme versagte. Er räusperte sich und versuchte es erneut. „Willst du mit uns einen Ausflug machen?“

Tommy blickte auf, seine Augen leuchteten. „Wohin?“

„In den Wald“, sagte Sarah schnell, bevor Johannes antworten konnte. „Wir haben etwas Besonderes vor.“

Tommy schien nachzudenken. „Kann ich mein Buch mitnehmen?“

„Natürlich“, sagte Sarah, bevor Johannes erneut eingreifen konnte. Sie schien die Kontrolle übernommen zu haben. „Ich habe es bereits eingepackt. Und deinen Teddy auch.“

„Warum?“ Tommy runzelte die Stirn. „Ich brauche meinen Teddy nicht.“

„Das gehört zur Überraschung, Schatz“, sagte Sarah und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.

Tommy runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Johannes wartete, bis er außer Hörweite war, dann stand er auf. „Sarah, wir können das nicht tun.“

„Wir haben keine Wahl“, sagte sie und hob die Tasche. „Clara hat uns gesagt, was zu tun ist.“

„Clara ist keine Mutter!“, schoss Johannes zurück. „Sie weiß nichts über uns. Nichts über Tommy.“

Sarahs Gesicht verzog sich, ihre Augen wurden kalt. „Clara weiß alles, Johannes. Und wenn wir das nicht tun…“ Ihre Stimme brach. „Wenn wir es nicht tun, was wird dann aus uns?“

„Was wird aus ihm?“, fragte Johannes leise.

Sarah wandte sich ab. „Ich gehe ins Auto. Bring es einfach mit.“

***

Der Weg in den Wald war still. Tommy saß auf dem Rücksitz und starrte aus dem Fenster. Die Bäume zogen wie verschwommene Schatten an ihnen vorbei. Johannes hatte das Gefühl, dass er etwas sagen sollte, doch die Worte kamen nicht. Neben ihm saß Sarah, die Tasche fest umklammert, ihre Knöchel weiß vor Anspannung.

„Was machen wir im Wald?“, fragte Tommy schließlich.

Sarah drehte sich zu ihm um, ihr Lächeln gezwungen. „Es ist eine Überraschung.“

„Können wir dann ein Picknick machen?“, fragte Tommy hoffnungsvoll. „Wie damals, als wir am See waren?“

„Vielleicht“, sagte Sarah leise und wandte den Blick wieder nach vorne. Johannes sah, wie sich ihre Hände um die Tasche verkrampften.

Sie erreichten die Stelle, die Clara genannt hatte. Die Bäume wirkten wie eine undurchdringliche Wand. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Boden war feucht, und die Luft roch nach Erde und Verfall. Sarah stieg aus, ohne ein Wort zu sagen, die Tasche in der Hand. Johannes folgte ihr langsam, während Tommy hinter ihnen herlief, seinen Rucksack geschultert, der Teddy halb herausragend.

„Hier entlang“, sagte Sarah und folgte einem schmalen, matschigen Pfad in den Wald hinein. Clara hatte ihnen in der Nacht genaue Anweisungen gegeben.

Tommy blieb stehen, als sie die Lichtung erreichten. „Warum sind wir hier?“, fragte er. Seine Stimme war leise, fast flüsternd.

Johannes öffnete den Mund, doch Sarah schnitt ihm das Wort ab. „Tommy, bleib einfach hier. Es ist… besser so.“

Bevor Johannes antworten konnte, brach Tommy plötzlich zusammen. Sein kleiner Körper krümmte sich, und er fiel auf die Knie. Das Buch rutschte aus seinen Händen und landete im nassen Gras. Seine Arme zuckten, sein Rücken bog sich. Der Anfall war noch schlimmer als der letzte.

„Johannes, wir müssen gehen!“, zischte Sarah und packte seinen Arm. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme überschlug sich.

„Er braucht uns!“, schrie Johannes zurück, doch Sarah hielt ihn fest. „Clara hat gesagt, wir dürfen ihn nicht berühren! Wenn du ihn berührst, wird es gefährlich!“

Tommy wimmerte. „Mama… Papa… es tut weh.“

Johannes zitterte, sein ganzer Körper schrie danach, zu seinem Sohn zu rennen, ihn in den Arm zu nehmen. Doch Sarah zog ihn zurück, ihre Hände wie eiserne Klammern. „Wenn wir jetzt bleiben, riskieren wir alles!“, flüsterte sie mit einem Wahnsinn in der Stimme, der ihn lähmte.

Johannes riss sich los und wollte zu seinem Sohn. “Ich will dich nicht auch noch verlieren!“, brüllte Sarah. Johannes blieb stehen. Er sah, wie Tommys kleiner Körper im Gras zuckte, wie das Dinosaurierbuch durch den Regen durchnässt wurde, seine Seiten weich und zerknittert. Er hörte, wie Tommy nach ihnen rief, seine Stimme erstickt von den Zuckungen.

Er nahm den Rucksack.

Die Schreie verfolgten sie noch, als der Wald hinter ihnen dichter wurde und die Lichtung außer Sicht geriet.

***

Die Fahrt war still. Der Regen trommelte gegen die Scheiben, während die Scheibenwischer monoton über das Glas kratzten. Johannes starrte auf die Straße vor ihnen, die im Scheinwerferlicht wie ein endloser Tunnel aus Nässe und Schatten wirkte. Neben ihm saß Sarah, die Tasche auf ihrem Schoß, die Hände fest um die Gurte geklammert. Kein Wort war seit ihrer Rückkehr zum Auto gefallen.

Das Haus wirkte kälter als sonst. Johannes stand im Flur, die Schuhe noch immer nass vom Wald, während Sarah die Tasche auf den Boden stellte. Ohne ein Wort ging sie in die Küche und begann, den Wasserkocher anzustellen. Ihre Bewegungen waren mechanisch, wie ein Automat, der nur noch einem Befehl folgte.

Johannes griff nach dem Rucksack und öffnete ihn. Der Teddy war feucht, die Watte quoll durch das ausgefranste Loch, wo einst ein Auge gewesen war. Er legte ihn vorsichtig auf die Anrichte und griff nach Tommys Sachen. Darunter war ein Notizbuch, das er nie zuvor gesehen hatte.

Er blätterte es durch. Es war leer. Keine Worte, keine Zeichnungen – nur leere Seiten, die ihn anstarrten.

„Was machst du da?“, fragte Sarah plötzlich.

„Nichts“, antwortete Johannes und ließ das Notizbuch sinken.

Das Handy auf der Küchentheke vibrierte, die vertraute Stimme Claras erklang. „Ihr Befund ist abgeschlossen. Es gibt neue Informationen, die Sie betreffen.“

Johannes starrte auf das Display. Sarah kam näher, ihr Blick auf den Bildschirm fixiert, als wäre er eine Lebensader.

„Die Analyse Ihres Gallensafts zeigt eine kritische Abweichung“, erklärte Clara. „Ein Aderlass wird dringend empfohlen, um das Gleichgewicht Ihrer Körpersäfte wiederherzustellen.“

„Ein… Aderlass?“, wiederholte Johannes und spürte, wie die Worte in seinem Mund hohl klangen.

„Ja“, bestätigte Clara. „Ein sofortiger Eingriff wird empfohlen. Bitte buchen Sie über das Portal einen Termin.“

Johannes sagte nichts. Er starrte auf das Handy, auf Claras vertrautes, beruhigendes Interface, und hörte, wie in seinem Kopf die Worte widerhallten, die sie einst zu ihnen gesprochen hatte: „Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann.“

Doch die Wahrheit war kein Trost. Sie war ein Gewicht, das auf seiner Brust lag, eine Leere, die kein Aderlass jemals heilen konnte.

***

Am nächsten Morgen saß Johannes allein im Wohnzimmer. Der Rucksack stand noch immer im Flur, der Teddy auf der Anrichte.

Er dachte an Tommy. An seine Schreie im Wald, an die Art, wie sein kleiner Körper sich gekrümmt hatte, an das Dinosaurierbuch, das im Regen zurückgeblieben war.

„Es tut weh…“

Die Worte hallten in seinem Kopf wider, während er auf das Display des Handys starrte. Am unteren Rand blinkte eine Benachrichtigung. Es war eine Erinnerung, für seinen anstehenden Termin für den Aderlass. Wie so oft war die Nachricht mit einem Zitat von historischen Persönlichkeit angereichert, die nur Clara kannte.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ – Marie von Ebner-Eschenbach

 

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