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Der Wechselbalg
„Ich unterstütze deinen Nostalgietrip ja voll und ganz, Schatz“, beschwichtigte Dieter, „aber müssen wir unbedingt gleich in dem Haus übernachten?“
„Ja, wenn es sein muss, auch zwei Nächte“, antwortete Ariane entschlossen. „Ich habe mir das lange überlegt.“
Dieter steuerte den Wagen die steile Serpentine hinauf, hinein in den Schatten des Waldrandes. Sie war so froh, dass sie in ihrer zweiten Ehe einen so verständnisvollen Mann gefunden hatte. Einen, der auch während ihrer Depression zu ihr hielt, und obwohl er wusste, was sie getan hatte. Damals, vor nunmehr dreizehn Jahren...
„Ich möchte dir nur zu bedenken geben, Liebes, dass dieser Zettel nur ein übler Scherz gewesen sein könnte“, wandte Dieter vorsichtig ein, „Auch, wenn ich das wirklich nicht für dich hoffe.“
„Wer weiß denn sonst noch davon bei uns im Ort? Ich bin nicht umsonst ans andere Ende des Landes gezogen, nachdem ich endlich die Psychiatrie verlassen durfte! Und das ist jetzt auch schon so lange her! Und dann diese Schrift! Wie von einem Kind...“
Sie war starr vor Schreck gewesen, als sie letzte Woche die Haustür öffnete und dieses Stück Papier fand. Es war deutlich zu sehen, dass es sich um eine herausgerissene Buchseite handelte, über deren gedruckte Schrift, hingeschmiert mit einer dunklen, klebrigen Substanz, die Buchstaben prangten, die ihr noch jetzt Herzrasen bereiteten: KOMM ZURÜCK, ICH WILL DICH ENDLICH KENNENLERNEN. AM NÄCHSTEN FREITAG. Und eine Adresse. Die Adresse, wo es passiert war. Dass Dieter hinter ihrem Rücken geplaudert hatte, hielt sie für ausgeschlossen, dazu war er eine viel zu treue Seele. Bei genauerer Betrachtung hatte sie erkannt, dass die Seite aus einem Buch war, das sie gut kannte. Mehr noch, sie war sich auf den Tod sicher, dass die Seite sogar aus exakt demselben Exemplar stammte, das sie früher einmal besessen hatte.
Der Horizont hatte die Abendsonne schon halb verschluckt.
„Was ich dir verschwiegen habe“, begann Ariane entrückt, „ist, dass die Buchseite, auf der die Nachricht geschrieben war, aus einem meiner alten Bücher stammte. Vielleicht hatte ich es damals in dem Haus zurückgelassen. Ich habe häufig darin geschmökert. Es hieß Sagen & Mythen des Odenwaldes und die Seite, die wir fanden, war aus der Legende von den Wechselbälgern. Darin ging es um Halbwesen aus dem Wald, die ihre Säuglinge mit den Neugeborenen der Menschen tauschten, weil ihre so abgrundtief widerwärtig waren…“
Dieter warf ihr einen besorgten Blick zu, schwieg aber.
Die Serpentine führte ihren Wagen auf eine Anhöhe, die vom Waldrand gesäumt wurde. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages bahnten sich einen Weg durch die Zweige der alten Kiefern. Ihr warmes Rot wurde unterbrochen von der düsteren Silhouette eines Einfamilienhauses, einsam und verlassen. Ihr Wagen hielt unter den zerbrochenen Fensterscheiben, die stumm auf sie herabstarrten.
Hier war es geschehen, hier war die Schwelle, über die sie das sich windende Bündel einst hineintrug, noch benommen von der Tortur im Krankenhaus, aber voller Vorfreude auf die kommenden Jahre. Und da war das Fenster vom Schlafzimmer, in dem sie eines Morgens einen gellenden Schrei ausstieß, als sie zum ersten Mal bei Licht und vollem Bewusstsein sah, was da in der Wiege lag. Und hinter dem Haus musste immer noch der Garten sein, jetzt sicherlich ganz verwildert, in dem Ariane mit dem Ding kurzen Prozess machte, das sie kurz zuvor noch für ihr eigen Fleisch und Blut gehalten hatte. Es wäre ihr nicht so leicht gefallen, wenn sie genau hätte sehen müssen, wie ihre Hände den Griff der Axt umklammert hielten und das schwere Gerät herabschleudern ließen. Doch ein Trauerschleier aus Tränen vor ihren Augen bewahrte sie vor dem schlimmsten Anblick.
Jetzt standen sie und Dieter genau an der Stelle, an der sie und ihr damaliger Gatte in den Polizeiwagen gezwängt wurden, sie immer noch Sturzbäche weinend über das von kräftigen Schlägen entstellte Gesicht, er stark angetrunken und immer noch die Faust gegen sie erhebend.
„Ich habe mir das Haus immer älter vorgestellt“, brach Dieter die Stille.
„Es hatte vorher nur eine Familie vor uns darinnen gewohnt, dann sind wir eingezogen. Obwohl es in gutem Zustand war, wollte es nach der... Tat, niemand mehr haben. Komm, lass uns nachsehen, ob die Tür auf ist.“
Ariane drückte die verrostete Klinke. Die einstmals weiß lackierte Haustür protestierte quietschend, gab dann aber nach. Ariane erkannte die kalten Fliesen sofort wieder, obwohl sie jetzt nackt ohne die vertrauten Teppiche vor ihr lagen.
Dieter folgte ihr vorsichtig in die Diele hinein und weiter in den Raum, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen war. Die Leere war erdrückend, jeder noch so kleine Schritt schien in der Unendlichkeit der Stille zu verhallen. Nur eine große Fensterfront mit einer zertrümmerten Terrassentür, schien die Wildnis, die schon die Wiese im Garten in ein hüfthohes Dickicht verwandelt hatte, vom Eindringen abzuhalten. Spuren von kleinen Tieren auf dem Fußboden bewiesen, dass dies nur leidlich gelang.
„Hier ist niemand. Lass uns nach oben gehen.“ Ariane führte ihren Mann die knarrende Treppe hinauf. Ein stockfinsterer Korridor, der die Umrisse mehrerer Türen barg, manche nur angelehnt, sonst hätten sie vom schwindenden Tageslicht gar nichts mehr erblickt.
„Hallo?“, rief Ariane, angespannt wie eine Bogensehne. Niemand antwortete.
„Ich hab doch die Taschenlampe dabei!“, sagte Dieter und zwang sich zu einem Schmunzeln.
Als der Lichtkegel die Türen abtastete, hielt er auf einer bunten Aufschrift inne.
KINDERZIMMER, verrieten die angeklebten Holzbuchstaben. Sofort bedrängte sie wieder der alte, quälende Gedanke, was wohl aus ihrem echten Sohn geworden wäre, hätten sie gemeinsam die verflossenen Jahre teilen können.
Dieter drehte sich erschrocken zu Ariane um.
„Schatz, du weinst ja! Aber ist okay, ich verstehe dich. Wenn du willst, sehe ich dort für dich nach.“
Doch in diesem Zimmer gähnte ihn nur dieselbe Leere an wie schon im Erdgeschoss. Alle Möbel waren seit langem weg. Das gleiche in den anderen Zimmern. Nur einige Fenster hatten große Löcher in den Scheiben, offenbar das Werk gelangweilter Halbwüchsiger. Die Sonne war jetzt komplett hinter dem Horizont verschwunden und eine kühle Brise wehte durch die kaputten Fenster.
„Wir müssen ja nicht hier übernachten, mein Mauerblümchen. Wir können die Nacht ja in einer Pension unten im Ort verbringen und morgen früh wieder kommen.“
„Nein, Dieter, das haben wir doch schon besprochen! Der, der mir die Nachricht hinterlassen hat, könnte auch erst spät in der Nacht auf mich warten. Darum muss ich zu jeder Minute hier sein!“
Damit war das Thema erledigt.
Sie packten ihre Isomatten und Schlafsäcke aus dem Kofferraum und machten es sich in dem einstigen Wohnzimmer so bequem wie es eben ging. Hinter der Fensterfront war der Wald vollständig mit dem Nachthimmel zu einem einzigen schwarzen Leichentuch verschmolzen.
Nach einer Weile- Ariane konnte nicht sagen, wie lange sie geschlafen hatte- hörte sie ein Geräusch. Sie hörte noch einmal hin- aber sie vernahm wieder nur die drückende Stille. Es hatte stark an das Glucksen eines hungrigen Tieres erinnert. Oder war es doch gar eine Stimme gewesen? Sie drehte sich zu ihrem Mann um. Hatte er etwas gesagt, vielleicht im Schlaf? Leise flüsterte sie: „Dieter?“, aber sie hörte nur seine flache, ruhige Atmung. War er hier? Der, wegen dem sie gekommen waren? Dann war das allein ihre Angelegenheit. Sie kroch aus ihrem Schlafsack und ertastete die Taschenlampe. In deren Schein schlich sie auf Zehenspitzen durch den Raum. War außer ihnen noch jemand- oder etwas- hier? Erst erkannte sie nichts. Doch plötzlich stockte ihr der Atem: Sie hielt die Taschenlampe auf die Terrassentür gerichtet- diese stand jetzt halboffen! Als sie sich zur Ruhe gebettet hatten, war die Scheibe zwar stark beschädigt, aber die Tür war eindeutig verschlossen gewesen! Oder fing ihr Verstand wieder an, Schabernack mit ihr zu treiben? Sie wurde von einer niederschmetternden Beklemmung gepackt, nicht wegen der Finsternis oder dem, was in ihr lauerte, sondern wegen der Angst, wieder Dinge zu sehen, die es nie gegeben hatte. Wegen der Angst, deswegen wieder die Kontrolle zu verlieren. Wieder in die Anstalt zu müssen, dort wieder mit starken Psychopharmaka vollgepumpt zu werden. Sie bewegte sich auf die Tür zu und berührte sie. Offenbar keine Halluzination. Und das Geräusch? Sie ging hinaus in den Dschungel aus jahrelang verwahrlostem Gras. Sie fühlte sich beobachtet. Die Lampe offenbarte ganz eindeutig eine Spur aus niedergetretenem Gras, die sie bei ihrer Ankunft auch nicht bemerkt hatte.
Da hörte sie wieder das Glucksen. Nur, dass es diesmal beinahe wie ein menschliches Lachen klang. Sie zitterte, ob vor Furcht oder vor einer irrationalen Art von Vorfreude, konnte sie selbst nicht sagen. Es klang jetzt schwächer. Es musste von drinnen gekommen sein! Sie schlich zurück ins Haus, vorbei an ihrem schlafenden Mann. Es ertönte wieder. Es kam von oben! Zu ihrer eigenen Überraschung fiel ihr auf, dass ihre Schritte automatisch schneller wurden. Sie wurde getrieben von einer mächtigen Sehnsucht tief aus ihrem Inneren, dass sich nun endlich alles auflösen würde, was Wahnsinn, und was Realität war. Und ganz besonders: Wie hatte er sich entwickelt?
Das Lachen wurde jetzt kräftiger und hatte menschlichere Züge angenommen. Sollte es sie wie ein Leuchtfeuer in der Nacht zu ihrem Ziel lotsen? Es kam aus dem Kinderzimmer. Als es ein weiteres Mal erklang, öffnete sie mit zitternder Hand die Tür.
Dieter war von etwas aufgewacht, das wie das Trappeln zweier unbeschuhter Füße klang. Nachtwind umwehte sein Gesicht. Beim Öffnen der Augen sah er gerade noch einen Lichtblitz zum Zimmer hinaus huschen. Jemand schien die Treppe hinaufzugehen. Und da war noch etwas, es klang wie das erstickte Röcheln irgendeiner Kreatur, das versuchte, ein Kinderlachen nachzuäffen.
„Ariane? Ariane!“, flüsterte er aufgeregt. Er suchte instinktiv die Taschenlampe, doch wie er es befürchtet hatte, war sie weg. Und seine Frau ebenfalls. Sie wird doch hoffentlich nicht wieder einen Anfall haben! Aber das Röcheln, das war niemals ihre Stimme! Er rappelte sich auf, doch in der Finsternis wusste er nicht einmal, wo er lang gehen sollte. Er hatte Angst, laut zu rufen, und ihm schlotterten die Knie. Gerade, als er seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte und zaghaft seiner Frau folgen wollte, hörte er erneut Schritte. Jemand kam die Treppe herunter. Doch die Schritte gingen jetzt langsamer, schwerer. Reflexartig trat er zurück, bereit, jeden Moment zu fliehen.
„A- Ariane?!“
Da sah er wieder das Flackern der Taschenlampe, und es erklang abermals ein Lachen. Aber diesmal eindeutig von Ariane. Er hatte sie lange nicht mehr so voller Glück lachen gehört. Der Türrahmen wurde erhellt, Dieter sah die Gestalt seiner Frau, die Lampe unter ihren Arm geklemmt. Der Schein traf direkt seine Sicht, so dass er erst nur Umrisse erkannte, aber er sah, dass Ariane etwas in ihren Armen trug, etwas Großes, Dürres. Bleiche Arme und Beine hingen schlaff davon herab.
„Schau nur, Dieter, schau! Ich war doch nicht verrückt, die ganze Zeit nicht!“ Sie senkte das Licht.
Fassungslos sah Dieter von ihrem glückseligen Lächeln herab zu dem nackten Geschöpf. Es trug auch ein Lächeln, doch es ging von einem schiefen, grotesk breitgezogenem Maul aus. Unter Schock glaubte Dieter, eine pervertierte Ähnlichkeit zu dem Gesicht seiner Frau zu erkennen.
Geifernde Glotzaugen starrten aus einem Antlitz, kindlich und tierhaft zugleich, zu Ariane hinauf.
„Mama!“, schnarrte das Ding und schmiegte sich sie.