Der Wassertropfen
Martin sitzt Zuhause an seinem Schreibtisch und arbeitet an seinen Schularbeiten. Das heisst, eigentlich sollte er arbeiten. Der Lehrer hat seinen Schülern aufgetragen, sie sollen einen Aufsatz schreiben. Das Thema können sie frei bestimmen. Das dumme ist nur, Martin will einfach nichts in den Sinn kommen. Den Kopf auf seine rechte Hand gestützt und den Bleistift im Mund, träumt er vor sich hin. Er merkt gar nicht wie seine Zähne den Bleistift wie einen Kaugummi bearbeiten. Gedankenverloren schaut er den Regentropfen zu, die leise ans Zimmerfenster klopfen. Martin beobachtet wie ein kleiner Tropfen an die Scheibe klatscht, dort eine kleine Weile verharrt, und dann langsam die glatte Fensterscheibe herunter gleitet. Auf seinem Weg zum Fensterrand begegnet der kleine Tropfen einigen seiner Kollegen, die scheinbar dieselbe Reise angetreten haben. Der kleine Tropfen überholt einige bummelnde Kameraden und lacht ihnen verschmitzt ins Gesicht. Er geniesst es an seinen Kollegen vorbeizuhuschen. Er merkt dabei nicht wie er immer schneller und schneller wird. Da plötzlich stösst er mit einem anderen Tropfen zusammen, vermischt sich mit diesem und rauscht nun noch schneller dem Fensterrand zu. Aber oweh, da sind noch andere Tropfen die seine Fahrbahn kreuzen. Der kleine Tropfen klatscht in den nächsten, vermischt sich mit diesem, stösst dann gegen einen weiteren und schluckt auch diesen noch. Mittlerweile ist das kleine Tröpfchen zu einem stattlichen Tropfen herangewachsen und verleibt sich gleich noch einige weitere Tropfen ein. Doch je grösser der Tropfen wird, umso schneller rast er dem Fensterrand zu, welcher offenbar die Endstation der Regentropfenreise zu sein scheint. Schnell schluckt der Tropfen noch einige weitere Tröpfchen, bevor er über den Fensterrand kullert. Immer und immer wieder beginnt das Schauspiel von vorne. Martin dünkt es, als ob die Regentropfen ein Rennen veranstalten würden. Und Sieger scheint derjenige zu sein, der am meisten seiner Kameraden geschluckt hat. Je länger Martin diesem Treiben zusieht, umso mehr glaubt er die Tropfen sprechen zu hören. „Platz da, platz da jetzt komm ich!“ hört er den einen Tropfen rufen. Und „Huiii ist das lustig!“ den anderen. Seine Phantasie geht sogar soweit, dass er die Tropfen kichern hört. Es scheint eine „Riesenregentropfengaudi“ zu sein. - Doch was ist das? Was ist das für eine seltsame Stimme? Die passt doch überhaupt nicht in das Regentropfenfest hinein. Martin horcht auf und hört eine tiefe Stimme höhnisch lachen. „Ho, ho, ho ... kommt nur ihr dummen Geschöpfe. Ich warte auf Euch. Ha, ha, ha ... Euch schlucke ich alle! He, he he ...“
Erst jetzt bemerkt Martin, dass er das Fenster nicht richtig verschlossen hat und dadurch rinnen einige Tropfen durch einen winzigen Spalt. Und am Ende des Spaltes hängt ein gewaltig dicker Tropfen. Martin sieht wie der dicke Tropfen sein Maul weit aufreisst und einen Tropfen nach dem anderen verschlingt. Zwischendurch prahlt der Koloss ganz fürchterlich vor sich hin. „Ich bin doch der Allergrösste. – Wer will es gegen mich aufnehmen, wer? – Ist dieses Tropfenfangsystem nicht eine tolle Erfindung von mir? – Ich hab‘s ja schon immer gesagt: Ich bin und bleibe ein Genie! Keiner dieser einfältigen Tropfen kommt an mir vorbei. - Keiner! - Ich schlucke sie alle! - Alle! Ho, ho, ho ....
Mit jedem Tropfen den er schluckt, wird der Fettwanst grösser und gieriger. Er bläst sich auf wie ein Luftballon und merkt dabei nicht, wie er immer schwerer wird. Mit einem Male löst sich der grossmäulige Riesentropfen vom Sims und zerplatzt mit einem lauten „Klatschen“ auf dem Boden. Aus ist es mit der Angeberei! Dieser Prahlhans macht keinen mehr zur Schnecke. Das einzige was von dem Maulhelden übrigbleibt, ist eine kleine Wasserlache auf dem Boden. Der laute Platscher des Riesentropfes bringt Martin wieder in die Wirklichkeit zurück. Jetzt muss er sich aber sputen und seinen Aufsatz schreiben. Material für eine gute Geschichte, die hat er ja jetzt.