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Der Wasserplanet
Ein neuer Morgen brach an, die Sonne brannte heiß auf den Planeten und der salzige Duft der ozeanischen Weite schwängerte die Luft.
Professor Linsjini eilte mit großen Schritten die breiten Stufen zur Geneticus Worldarius hoch, ohne auf sein vernachlässigtes Aussehen Rücksicht zu nehmen. Sein brauner Panzer wurde bereits seit Wochen nicht mehr geölt und seine Risse und Furchen wiesen viel zu früh auf seine einhundertzweiundzwanzig Jahre hin.
Doch sein Anliegen war von zu großer Bedeutung für die Echsolaner, als dass ihn solche Nebensächlichkeiten störten.
Ohne zu Zögern betrat er das Atrinerum, schritt hastig durch den Scantunnel, der jedem eintretenden Besucher einer physischen und psychischen Untersuchung unterzog, und ließ sich, als der Computer keinerlei körperliche Krankheiten und keine gewalttätigen Absichten des Mannes aufspüren konnte, mit dem Beamer in das fünfzehnte Untergeschoss befördern.
Schnell hatte er den Echsolaner mittleren Alters in einem der hinteren Glaslaboratorien entdeckt und lief rasch zu ihm hinüber.
„Friede und Freiheit“, sagte Professor Linsijni und schmiss seinem Gegenüber, ehe dieser eine Entgegnung sprechen konnte, seine Unterlagen hin.
„Was soll das? Wieder eine Deiner Warnungen? Komm Li, langsam wird es wirklich…“
„Es ist mehr als das.“ Li beugte sich vor und sah dem Leiter des weltweit größten genetischen Laboratoriums in die Augen. „Es ist eine Tatsache, eine nicht wegzuleugnende…“
Dr. Nemesis schnellte nach vorne. „Jetzt will ich Dir mal was sagen, Li.“ Er presste die Worte zwischen den Zähnen hervor und seine Wut spiegelte sich in seinen Augen. „Ohne unsere, wie Du sagst, verdammte Genetik, würde es weder Dich, noch mich, noch sonst einen beschissenen Echsolaner auf diesem verfluchten Planeten geben. Die Ozonschicht ist weg, die Menschheit existiert nicht mehr, so wie sie vor fünfhundert Jahren noch…“ Er sackte müde in sich zusammen, auf einmal waren ihm die jahrelangen Versuche, Missgeschicke und mühevollen Erfolge seiner Arbeit anzusehen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und fuhr sich mit der Hand über seine panzerähnliche Kopfhaut.
„Hör zu, Nemesis, ich bin nicht hier, um mit Dir über alte Geschichten zu diskutieren. Ich habe etwas herausgefunden, etwas, was auch Du diesmal zur Kenntnis nehmen musst. Hier,…“ Er breitete seine Unterlagen, seinen faltbaren Computer und Abbildungen aus und deutete jeweils auf verschiedene Messwerte. „Das menschliche Genom wurde schon vor ewiger Zeit entschlüsselt, unsere Vorfahren, die Menschen erschufen uns, die Echsolaner, eine Rasse, denen die ungebremste Kraft der Sonnenstrahlen nichts ausmacht. Die Zellkerne wurden verändert, die Haut verdickt, die Augen geschützt. Dank unserer Vorfahren können wir trotz allem auf dem Planeten weiterleben…“
„Ja, ja, das ist allgemein bekannt. Wenn Du nun zur Sache…“
„Wir haben es sogar geschafft eine neue Lebensform zu züchten. Die Fischmenschen. Sie konnten in die Ozeane abwandern, weil sie genetisch so verändert wurden, dass sie unter Wasser atmen konnten und ein fischähnliches Aussehen bekamen. Was wir aber nicht bedacht haben…“ Der kleine dünne Professor hielt kurz inne. „Wir haben die umfassende Präposition kognitiver Werte außer Acht gelassen; wie diese Fischmenschen mit der Umwelt agieren.“
Dr. Nemesis runzelte die Stirn. „Was willst du damit andeuten?“
„Drücken wir es andersherum aus“, sagte Li. „Die Gene bilden die Basis unserer Vorstellungen: Der „Frieden“ wäre somit genetisch programmiertes Bedürfnis und erst dann moralisches Ideal. Und hier habe ich, als ich noch einmal die genetische Struktur unserer Fischmenschen analysiert habe, den Fehler entdeckt. Wir haben ihnen unabsichtlich ein aggressives Gen verpasst.“
Sein Freund lächelte. „Soll das heißen, unsere lieben Fischmitmenschen werden einen Krieg anfangen?“ Er lachte. „Mein lieber Li, darf ich Dich daran erinnern, dass diese Wesen im Wasser leben? Sie schwimmen! Sie sind wie Kaulquappen, dumm und wasserabhängig. Warum sollten sie mit uns Krieg anfangen? Und wie? Mein Gott, Li, was sollen die denn an Land?“ Jetzt lachte er noch lauter und Tränen liefen ihm die Wangen hinunter.
„Und außerdem“, er hielt japsend inne und wischte sich mit einer kurzen Handbewegung die Nässe von seinem Gesicht. „Wie wir alle wissen, sind nicht nur die Gene von entscheidender Bedeutung. Unser gesamtes moralisches und kognitives Verhalten beruht auf Nachahmung, Selektion, auf unser soziales Umfeld…“
Ein Donnern, das den Boden unter ihren Füßen zum Wanken brachte, unterbrach ihn plötzlich. Entsetzt hielten sich die beiden Wissenschaftler am Tisch fest, als Regale einstürzten, die Glasscheiben wie Zucker zersprangen und die Apparaturen von den Arbeitsflächen rutschten und am Boden zerbrachen. Die Mitarbeiter um sie herum liefen, teilweise blutüberströmt, zu den Beamern, stießen sich gegenseitig um, rangen um die wenigen Plätze.
Li und Nemesis ließen sich mitreißen, rutschten auf dem Glas aus, hielten sich im Fallen fest, torkelten weiter, schrieen ebenfalls, als eine weitere Explosion über ihnen die Erde zum Beben brachte. Menschenleiber drängten sich eng um den einzigen Ausweg, den Glaszylindern. Dr. Nemesis warf hektische Blicke nach rechts und links, überall sah er panische Gesichter, er sah Frauen stürzen und nicht wieder aufstehen, als die Massen über ihre Leiber trampelten. Die Luft roch scharf nach Schweiß, Blut und verbranntem Gummi. Ein Schmerzensschrei ließ ihn nach links blicken. Sein Freund Li war an einen Pfeiler gedrückt worden, sein Gesicht wurde von mehreren Glasspitzen, die zum Teil noch aus ihrer Verankerung schauten, durchbohrt. Der Druck gegen ihn wurde stärker, als die Panik größer wurde. Sein rechtes Auge wurde aufgespiesst, Blut quoll hervor, wie reifer Kirschsaft. Nemesis konnte sich nicht abwenden, sah, wie ihn sein Freund mit seinem linken Auge irre ansah. Dann war er tot.
Wir sind bald alle tot, schoss es Nemesis durch den Kopf. Ich muss nach oben, das ist die einzige Möglichkeit zu überleben, ehe alles einstürzt, überlegte er blitzschnell.
Die Beamer waren keine Lösung; übereinander liegende halb auseinander gerissene Leiber, die halb im Untergeschoss, halb im Erdgeschoss lagen, blockierten diesen Ausweg.
Plötzlich fiel es ihm ein. Er boxte sich einen Weg zum hinteren Ende des Geschosses, lief einen schmalen Gang entlang, schrie vor Schmerz auf, als ein herabstürzender Metallträger gegen seine Schulter krachte. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, Schweiß lief an seinem Körper hinab, sein Atem kam stoßweise. Er wollte nicht sterben, nicht heute.
Er erreichte die Druckkabinen und sah sich nach den Gittern um. Er hatte Recht gehabt. Hier mündeten die großen Lüftungsschächte, die frischen Sauerstoff von der Erdoberfläche in die Untergeschosse beförderten.
Die Abdeckungen waren schnell entfernt und der dunkle Schacht lag vor ihm. An den Wänden waren behelfsmäßige Trittstufen angebracht, wohl um den Controllern die Wartung zu ermöglichen. Er glaubte, nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Doch als er keuchend nach oben kletterte, fragte er sich, was ihn wohl oben erwartete. Waren die Fischmenschen wirklich aggressiv geworden? Hatten sie eine Möglichkeit gefunden, den Echsolanern Schaden zuzufügen, gegen sie Krieg zu führen? Doch wie?
Über ihm krachte und dröhnte es, gewaltige Explosionen ließen sein empfindliches Ohr Seelenqualen leiden.
Nach ein paar Minuten wurde es heller, goldene Lichtstrahlen ließen kleine Staubpartikel in der Luft wie Insekten flimmern.
Der Wissenschaftler schlug gegen das Gitter, kletterte mühevoll hinaus und ließ seinen Blick über die Landschaft gleiten.
Was er sah, verschlug ihm den Atem. Der Himmel brannte.
Hunderte, tausende, vielleicht Millionen von kleinen Kometenbrocken ließen den Himmel golden und orange leuchten. Es war ein wunderschönes und gleichzeitig erschreckendes Farbschauspiel.
Jetzt werden die Fischmenschen nie einen Krieg anfangen können, war Dr. Nemesis` letzter Gedanke, ehe ihn die Dunkelheit barmherzig umschlang.
Ein neuer Morgen brach an, die Sonne brannte heiß auf den Planeten und der salzige Duft der ozeanischen Weite schwängerte die Luft.
Ein fischähnliches Wesen, halb Fisch halb Mensch, robbte auf die letzte Landzunge, die es auf dem ansonsten mit Wasser bedecktem Planeten noch gab und legte seine Opfergabe auf die, von den Elementen halb zerstörten Stufen des Tempels. Jeden Morgen des Wassermondes legte einer von ihnen ein Opfer an diese Stelle, um der Meeresgöttin Nemeskhuak für das ihnen geschenkte Leben zu danken.
Er warf noch einen kurzen Blick zurück auf die nunmehr schwer zu entziffernde Tafel, die halb im Sand vergraben lag:
Geneticus Worldarius
Minuten später war er nur noch als einer der vielen Schatten erkennbar, die scheinbar ziel,- und schwerelos durch die unendlichen Weiten der Weltozeane schwebten.