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Der Waschmaschinenmann
Geschäftiges, babylonisches Treiben im RestoU. Jens löffelt sein zweites Dessert, während Massimo ihm die Feinheiten der Göttlichen Komödie näherbringt. Jens nickt wissend, obwohl er das Werk bestenfalls flüchtig kennt – aus zweiter Hand, aus den Mündern von Seriencharakteren, die Dante so durch die Mangel drehen, dass er ins Skript passt.
Jens schämt sich, Massimo auf diese Art zu täuschen. Aber nun hat er schon einmal den Eindruck entstehen lassen, er könne halbwegs mitreden, also kann er die Fassade ebenso gut aufrechterhalten. Ist ja auch nicht für immer. Bloß für seine zwei Erasmussemester in Caen. Er ist froh, Massimo kennengelernt zu haben. Jemanden, von dem er wirklich etwas lernen kann, weil er wirklich etwas zu sagen hat. Zukunftsvisionen von einer Bromance quer durch Europa flackern auf. Vor seinem geistigen Auge sieht er sich ihn in Mailand besuchen, im Gegenzug bei sich in Würzburg empfangen.
Dann setzt sich Moritz dazu. Mit seiner breiten, aufgedunsenen Fresse, die nach Cortisonüberdosis aussieht, und einer Zahnlücke, die in seinem Fall weder jungenhaft noch charmant wirkt, vielmehr seine zahllosen Unzulänglichkeiten versinnbildlicht. Sein deutscher Akzent ist erstaunlich léger, wie die Franzosen sagen würden, sein Vokabular unfassbar idiomatisch. Der perfekte Deckmantel für das, was gleich kommt, und keinen der Italiener, Deutschen und Polen hier noch überraschen kann.
Moritz stellt sein Tablett sacht ab, greift dann in seine Jackentasche und zückt seinen Fotoapparat, drückt drei-, viermal ab – immer aus demselben Winkel -, um den dampfenden Auflauf vor sich zu verewigen. Somit sitzt auch noch ein Japaner mit am Tisch, ein exhumierter, der bis zu diesem Augenblick in Moritz begraben war (oder gefangen).
Massimo versucht, das Naturschauspiel zu ignorieren, sucht fieberhaft nach dem Faden, den er deshalb verloren hat, und schafft es tatsächlich, zusammenhängend weiterzureden. Jens erfreut sich wieder an der kostenlosen Privatvorlesung, in die sich ein paar willkommene Californication-Referenzen mischen. Am liebsten würde er anfangen zu klatschen. Doch die sitzenden Ovationen bleiben aus.
Nachdem sich Moritz mit einigen Bissen gestärkt hat, bläst er zur Sabotage. Keiner der Anwesenden weiß, ob er es absichtlich tut oder an einer Form von Asperger leidet, die ganz ohne beeindruckende Inselbegabung auskommt. Moritz sabbelt munter drauf los, genaue Sinneinheiten sind zunächst nicht auszumachen, weil ja jeder alles daran setzt, ihn auszublenden. Doch irgendwann ist die Kakophonie zu mächtig. Sie übertönt alle gerade gefassten und künftigen Gedanken, Moritz‘ Stimme wird zum Erzähler eines kollektiven Tagalbtraums. Oder ist es eher ein Charaktertest?
Jedenfalls lässt er sich nicht in seinem Vorhaben beirren, der Welt beziehungsweise diesem unglückseligen Ausschnitt der Welt von seinen neuesten Abenteuern in studentischem Wohnen zu berichten.
Die Worte sprudeln aus ihm heraus wie bei einer Bergpredigt. Er ist das Sprachrohr einer unbekannten … Macht?
„Ich hab heute wieder meine Wäsche gewaschen“, verkündet er triumphierend.
Einige Zuhörer nicken. Im Gegensatz zur Göttlichen Komödie ist ihnen das ein Begriff, sie teilen diese Erfahrung. Wenn Moritz so weitermacht, wird er womöglich noch zu einem Menschenmagneten. Glaubt er.
Moritz fährt fort. Mit leuchtenden Augen, wie sie manchmal bei Müttern zu beobachten sind, die von ihren Kindern erzählen. Das Licht in den Augen seines Publikums wird nach und nach gedimmt. Man will Strom sparen.
Prompt hat sich Moritz in einen Rausch geredet, Jens wundert sich darüber, dass sich an seinen Mundwinkeln noch kein Sprechkäse gebildet hat. Moritz spürt, dass er die überschaubare Menge bei der Stange halten muss. Er fährt die schwersten Geschütze auf, die er sich leisten kann, beschreibt den Waschvorgang so detailliert, wie die Uni-Professoren ein Baudelaire-Gedicht zerlegen. Bald reichen Worte allein nicht aus, seiner Erfahrung gerecht zu werden. Es braucht Veranschaulichungsmaterial.
Aber natürlich! Das Vorher-Nachher seiner Klamotten hat er doch auch festgehalten. Niemand hier hat jemals ernsthaft daran gezweifelt. Niemandem gelingt es, den Blick abzuwenden, jeder will am Thrill teilhaben, der für Moritz keine zwei Stunden zurückliegt. Er ist quasi ein embedded journalist. Für all das, was die Menschen wirklich bewegt.