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Der Wanderer

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21.09.2003
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Der Wanderer

Der Wanderer

Schon wieder war er hier in dieser Bar. Er hatte sich gesagt, er käme nicht mehr zurück, er verließe diesen Ort, doch er saß wieder hier. Zum wievielten Mal war er gegangen? Warum war er wieder hier? Er wußte es nicht, er wußte nur, er hatte es schon wieder nicht geschafft. Was hielt ihn hier? Warum konnte er nicht weg? Es war doch nichts einfacher, als sein Bündel zu packen, seinen Stock in die Hand, seinen Hut auf den Kopf, und los zu gehen. Oder nicht?

Am nächsten Morgen packte er sein Bündel, setzte den Hut auf, den großen, schwarzen, den er immer trug, und ging. Ging den schmalen Pfad den Ort hinaus, hinten zu den Feldern, dort dann rechts in den Wald und den Berg hinauf. Lange ging er, er ging und ging, ohne sich umzusehen. Immer weiter, immer weiter den Berg hinauf. Der Berg, er zog sich dahin, langsam wurde der Wald dünner. Es blieben noch einige Sträucher, ansonsten wurde der Berg kahl. Es war nichts neues, er kannte den Weg, er kannte den Berg. Oben, am Kamm, bog er diesmal nach Norden ab, und blieb auf dem Kamm. Der Weg weiter nach Westen hatte ihn das letzte Mal in die Irre geführt, und, was er nicht verstand, wieder in das Tal, das er gerade verlassen hatte. In die Bar, die er niemals wiederzusehen geglaubt hatte. Gehofft hatte. Vergebens.

Nach Norden, immer weiter nach Norden führte sein Weg. Langsam neigte sich der Pfad talwärts, den Bäumen zu. Er wußte, er konnte nicht den ganzen Tag oberhalb der Baumgrenze bleiben, hier oben würde er kein Quartier finden. Quartier gab es nur unten, unten im Tal, wo die Menschen wohnten. Es wurde schon spät, wenn er nicht bald einen Ort erreichte, würde er im Wald übernachten müssen. Der Gedanke schreckte ihn nicht, er hatte dies schon öfters getan. Es war zwar kalt, seine Kleidung klamm, aber er war wenigstens nicht in dieser Bar. Der einzigen Bar des Ortes, den er verlassen hatte. Verlassen für immer, wie er glaubte, und zu dem er doch jedes Mal zurückkehrte. Diesmal nicht, sein Weg führte ihn nach Norden, seit Stunden nur nach Norden.

Es wurde dunkler, langsam näherte sich die Nacht. Zwischen den Bäumen - ein Lichtschein. Er näherte sich einem Ort, ein neuer Ort. Nur noch wenige Meilen, und er wäre dort. Er schritt voran, immer weiter den Weg entlang, dem Licht entgegen. Wenn das Licht nicht wäre, er hätte sein Nachtlager im Wald aufgeschlagen, auf dem Weg, den er die letzten Stunden entlang gewandert war. Aber so, mit einem Orientierungspunkt, da war es einfach, immer geradeaus, auf das Licht zu. Er erreichte den Ort, zwischen Weiden ging es gerade auf ihn zu, an dunklen Häusern vorbei, Richtung Mitte. Dort, er wußte es schon, war die Bar. Die Bar, in der er auch gestern abend schon gewesen war.

(c) Ingo Zoller, 2003

 

Hi Ingo, ein ganz besonders herzliches Willkommen auf kurzgeschichten.de :thumbsup: :)

Die Geschichte gefällt mir! Hat was, vor allem nutzt Du konsequent das stilistische Mittel der Wiederholung (würde mich nicht wundern, wenn manch einer es als einen Tick zuviel "ging" empfindet). Abgesehen von der klaren Beschreibung des Geschehens wird recht schnell klar, dass diese Geschichte hauptsächlich auf einer abstrakten Ebene zu verstehen ist. Versucht da jemand, aus einer Art Teufelskreis auszubrechen? Oder kehrt er eher unbewusst immer wieder zum ausgangspunkt zurück? Ergibt er sich in sein Schicksal? Da kann man spekulieren, das gefällt mir.

Nur wird leider nicht klar, warum der Wanderer in dieser Schleife steckt. Da wäre der eine oder andere Hinweis vielleicht noch ganz nett. Aber ich weiß ja, dass Du den Leser gern im Unklaren lässt ;)

Fazit: sprachlich geschickt eingesetzte Mittel, inhaltlich interessant, aber etwas mehr Tiefe könnte nicht schaden.

Uwe
:cool:

 

Hi Ingo!

Auch von mir ein herzliches Willkommen auf kg.de! :anstoss:

Die Idee Deiner Geschichte gefällt mir, hat so ein bisschen etwas von Kafka - endlos lange Beschreibungen, und am Ende ändert sich doch nichts. ;)
Dass er wieder in der alten Bar landen wird, war mir spätestens nach der Hälfte des Textes klar, da Du sehr oft betonst, dass es ihm diesmal nicht passieren wird, wieder dort zu landen.
Die Geschichte bekäme noch mehr Reiz, wenn Du sie so aufbaust, dass der Leser erst anch und nach erfährt, wovor der Wanderer wegläuft und so spät wie möglich, dass es ihm bisher an keinem Tag gelungen ist.
Um die lange Wanderung zu verdeutlichen, kannst Du noch ein bisschen mehr die Umgebung schildern, wie sie sich langsam verändert etc.
Die Wiederholungen gefallen mir gut, sie tragen dazu bei, den endlos zähen Lauf des Tages zu schildern.
Lieben Gruß

chaosqueen :cq:

 

Hi Uwe, Hi chaosqueen :-),

Danke für die Kommentare.
Dazu natürlich auch ein Kommentar zurück: Im Prinzip ist dem Wanderer schon von Anfang an klar, daß er sein Ziel, den Ort zu verlassen, nicht erreichen wird. Er versteht nur nicht, warum. Aber was mag in so einem Menschen vor sich gehen? Und läuft er vor irgend etwas weg? Dem Spekulieren sind keine Grenzen gesetzt.

Gruß
Ingo

 

Hi Ingo!

Dass es dem Wanderer von Anfang an klar ist, dass er sein Ziel nicht erreicht, muss ja nicht heißen, dass auch der Leser von Anfang an Bescheid weiß. Und die Überlegung, ob er vor irgendwas wegläuft, kommt einem zwar, aber wenn sie ein bisschen in den Text mit eingebaut würde, wäre das auch nicht schlecht.
Also, ich spekuliere zware gerne, aber einen Schubbs von Seiten des Textes nehme ich auch immer dankend entgegen! ;)
Lieben Gruß

chaosqueen :cq:

 

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