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Der Wanderer und die alte Dame
Der Wald schien zu schlafen. Kein Laub raschelte, noch war das Knacksen des Holzes zu vernehmen. Sogar die Schritte des Wanderers klangen irgendwie zu leise. Gänsehaut breitete sich auf seine Haut aus.
Er war nun schon mehrere Tage in diesem Wald unterwegs, aber so still war es bisher noch nicht gewesen. Dennoch hatte sich schon vor einiger Zeit der Verdacht in ihm breit gemacht, er habe sich verlaufen. Doch er schritt tapfer voran, vorbei an Flüssen, die zu leise plätscherten, an kranken Bäumen und an den Bauten der Hasen.
Dann kam zwischen den lichten Bäumen eine zierliche Holzhütte zum Vorschein. Rauch stieg aus dem Kamin und der Wanderer fragte sich, wer so tief im Walde wohne. Des Wanderers erster Gedanke galt der Geschichte von Hänsel und Gretel. So zögerte er, an der Tür zu klopfen, jedoch gewann letztendlich die Hoffnung, für diese Nacht ein weiches Bett haben zu können. Die Sonne tauchte den Wald bereits in eine Farbe, welche dem Blut nicht unähnlich war.
Der Wanderer klopfte und ihm erschien das Geräusch ungewöhnlich laut. In der Hütte blieb es allerdings still, so klopfte er ein zweites Mal. Auf das zweite Klopfen hin regte sich etwas im Inneren der Hütte. Als dann eine alte Dame in der Tür erschien drängte sich dem Wanderer abermals der Gedanke an Hänsel und Gretel auf.
„Verzeihen Sie, werte Dame …“, begann er, wurde aber durch einen Ausruf der alten Dame unterbrochen.
„Mein Sohn!“, rief sie aufgeregt und fiel dem überraschten Wanderer um den Hals. „Endlich! Endlich bist du zurück! Ich habe so lange auf dich gewartet. Wie viel Zeit ist vergangen?“
Der Wanderer schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber …“
Die alte Dame nahm ihn an der Hand und zog ihn in die kleine Hütte. „Aber, aber, komm doch erst einmal rein. Und dann erzähl mir alles.“ Sie wirkte in ihrer sackähnlichen Kleidung klein und zerbrechlich, auch ihre Bewegungen waren langsam und zaghaft.
„Nein, Ihr missversteht mich …“, versuchte es der Wanderer abermals, beließ es dann jedoch, als er sah, dass die alte Dame Tränen in den Augen hatte.
„Ich habe so lange gewartet und schon gar nicht mehr daran geglaubt. Aber jetzt bist du wieder da. Wie schön es ist, dich zu sehen.“ Sie umarmte ihn und weil sie ihm leid tat erwiderte er diese Geste sachte. „Du bist richtig männlich geworden. Ich bin ja so stolz auf dich. Ach, ich rede und rede! Setz dich, setz dich! Du bist bestimmt hungrig. Es tut mir leid, aber ich kann dir nur einige Pilze anbieten. Seit dein Vater weg ist, gibt es kein Fleisch mehr. Aber jetzt, wo du zurück gefunden hast …“ Geschäftig machte sie sich daran, Holz in einem kleinen Ofen zu entzünden und Pilze kleinzuschneiden.
„Was ist mit ihm passiert?“, fragte der Wander, um das Schauspiel aufrecht zu erhalten. Er beschloss, der alten Dame zumindest einen Tag lang einen guten Sohn zu sein.
„Ach … er wurde alt und krank und eines Tages raffte es ihn dahin. Wir konnten ja keinen Arzt holen, es herrschte doch Krieg. Aber nun erzähl. Ist der Krieg vorbei? Haben wir gewonnen?“
Diese Frage versetzte dem Wanderer einen kleinen Stich, so war der Krieg doch schon längst vierzig Jahre her. Aber das konnte er ihr jetzt nicht sagen. Und so dachte er sich etwas aus und erzählte ihr kleine Lügengeschichten.
Als er aufgegessen hatte, kam die alte Dame mit einem Waschzuber mit heißem Wasser. Und als er sich gewaschen hatte, bat sie ihn, sich zu ihr an den warmen Kamin zu setzen und mit ihr zu plauschen. Er war müde, konnte ihr diese Bitte jedoch nicht abschlagen, war sie anscheinend so lange einsam gewesen.
Sie wollte noch mehr vom Krieg hören und so erzählte der Wanderer ihr noch mehr Dinge, die er sich ausdachte. Als sie ihn dann zu Bett begleitet küsste sie ihn auf die Wange und sagte ihm abermals, wie schön es sei, dass er nun endlich zurück gekommen wäre.
Dem Wanderer brach es am nächsten Morgen das Herz, als er sich von der alten Dame verabschieden musste und schiere Verzweiflung in den alten Augen glomm.
„Nun … Mutter … verzeih … Ich muss wieder aufbrechen.“
„Aber weshalb? Wieso kannst du nicht etwas länger bleiben? Du bist doch erst gekommen.“ Ihre Hand zitterte, als sie nach seiner fasste und er hatte Angst, sie könne jeden Moment in Tränen ausbrechen. Und so kam es zu einem Versprechen, dass er niemals einlösen würde.
„Ich werde bald wieder da sein. In ein paar Tagen, vielleicht auch in einer Woche. Mach dir keine Sorgen.“ Der Wanderer lies die alte Dame in dem leeren Wald zurück, nicht im Stande, sie darum zu bitten, mit ihm zu kommen, denn sie war alt und würde den Wandel der Welt gewiss nicht verkraften.
Und als der nächste Wanderer an der kleinen Holzhütte im Wald vorbei kam, erkannte die alte Dame auch in ihm ihren geliebten Sohn.