Der Wald
Roland Enders
2006
Oh ja, ich weiß: Seit Tolkien muss ein Wald uralt sein, um einer fantastischen Geschichte einen würdigen und geheimnisvollen Hintergrund zu liefern. Knorrige Bäume müssen darin stehen, mit verdrehten und krummen Ästen und Wurzeln, die wie Fangarme eines Polypen nach dem sich ängstlich unter ihnen duckenden Wanderer zu greifen scheinen, Bäume, bewachsen mit langen Flechten, die wie Haupthaar und Bart von ihnen herabhängen und ihnen das Aussehen menschlicher Greise verleihen, mit in borkiger Rinde erstarrten, missmutigen und drohenden Gesichtszügen, die sich, abhängig vom Winkel, in denen das dämmrige Licht einfällt, zu bösem Grinsen verzerren und sich im nächsten Augenblick in Flecken aus Licht und Schatten auflösen. Bemoost müssen sie sein und groß, knarren müssen sie im Wind und ihre Blätter unheimlich rascheln. Ja, so hat ein uralter Wald zu sein: böse und gefährlich, wie der Alte Wald am Rande des Auenlandes, oder magisch und geheimnisvoll wie Fangorn.
Also: weg mit dem Klischee, das hat meine Geschichte nicht nötig.
Der Wald, von dem ich spreche, ist wunderschön, sonnendurchflutet, durchtränkt von den Wohltaten der Stille, der reinen Luft, der Natur. Die Bäume in ihm sind nicht übermäßig groß, nicht knorrig, sondern glattrindig, nicht krumm und verdreht, sondern gerade gewachsen, nicht bemoost und von Schlingpflanzen überwuchert, sondern licht begrünt. Also in fast allem das Gegenteil zu Tolkiens düsteren Bühnenbildern. Und dennoch hat er zwei Dinge mit Fangorn gemeinsam: er ist magisch und uralt.
Beides kann ich nicht beweisen. Ich kenne keine forstwirtschaftlichen Unterlagen, die etwas über das Alter seiner Bäume aussagen. Der Wald wird in keinem Touristenführer als heimischer Urwald beschrieben. Das Seltsame ist: er wird überhaupt nirgends erwähnt.
Einer der schönsten Plätze in Deutschland, in Europa, ja gar auf der Erde kommt in keinem Buch, keiner Landschaftsbeschreibung, keinem Fotoband, keinem Dia-Abend des hiesigen Schützenvereins vor. Es ist, als würde er überhaupt nicht existieren. Auf meiner Wanderkarte im Maßstab 1:20.000 ist er als eintönig grüne Fläche dargestellt, eine Insel ohne feste Grenzen im größeren, umgebenden Stadtwald, aber keine einzige vom Menschen gemachte Schneise führt hindurch, kein Wanderpfad, ja, nicht einmal ein Waldwirtschaftsweg.
Seit diesem Tag im Frühling, als ich den Wald entdeckte, habe ich nicht einen Menschen darin gesehen. Der Ausdruck „unberührte Natur“ trifft auf ihn mehr zu, als auf das Herz des amazonischen Regenwaldes. In ihm hören Sie niemals das Rauschen der nur 3 km entfernten Autobahn oder die startenden und landenden Jumbojets des nahen Flughafens. Nicht bloß selten, sondern wirklich niemals! Verstehen Sie jetzt, warum ich glaube, dass der Wald magisch ist?
Wenn ich ihn betrete, habe ich das überwältigende Gefühl, in eine andere, längst vergangene Zeit zurückzukehren, eine Zeit, in der der Mensch noch gar nicht existierte. Es gibt keinerlei Anzeichen für sein Dasein, keine Spuren von ihm, der sonst überall auf der Welt seine Zeichen hinterlässt, außer meinen eigenen Spuren. So stelle ich mir die Natur vor ein bis zwei Millionen Jahren vor. Nein, es gibt in dieser Waldinsel keine ausgestorbenen Tiere, keine lebenden Fossilien, keine meterhohen Schachtelhalme, keine Flora und Fauna des Pleistozäns oder Miozäns, der Zeitalter, als noch kein Homo Erectus durch Europa streifte. Die Pflanzen und Tiere in meinem Wald unterscheiden sich nicht von denen anderer Wälder der Gegenwart. Kaum ein Baum dürfte älter sein als hundert Jahre. Aber der Eindruck, in die ferne Vergangenheit zu reisen, ist so stark, dass ich ihn trotz aller anerzogenen Rationalität nicht unterdrücken kann. Ich weiß es, kann es aber nicht beweisen: Dieser Wald ist uralt.
Womit wir wieder beim Anfang wären.
Vielleicht sollte ich Ihnen die Geschichte einfach von Beginn an erzählen.
Mein Name ist Mathias Brauner. Ich bin 52 Jahre alt, geschieden, habe zwei Töchter, von denen eine in Sydney, die andere in Oslo lebt, und zu denen ich kaum noch Kontakt habe. Seit letztem Jahr habe ich einen Lehrstuhl für Geophysik an der hiesigen Universität inne. Mein Spezialgebiet ist die Energiegewinnung aus Erdwärme. Als ich den Ruf der Uni erhielt, zog ich von Berlin hierher, in einen winzigen Ort am Stadtrand. Mein neues Zuhause, ein kleiner, alter Bauernhof, dessen Renovierung und Erschließung mich ein Schweinegeld gekostet hat, steht etwas außerhalb des Dorfes. Das Haupthaus besaß eine große Küche und sechs kleinere Zimmer, kein Bad. Gewaschen hatte man sich wohl draußen am Pump-Brunnen, neben dem Toilettenhäuschen mit dem Donnerbalken. Ich ließ zwei Wände im Haus durchbrechen, und es entstanden ein großes, helles Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein geräumiges Bad. Neben dem Wohnhaus gehörten noch ein Stall und eine Scheune zur Immobilie. Die Scheune ist meine Rumpelkammer und Werkstatt, denn ich tischlere gern in meiner Freizeit. Den Stall habe ich zu einem kleinen Gästehaus umgebaut, in der Hoffnung, dass oft jemand darin wohnen würde, denn ich fühlte mich einsam.
Es gibt ja dieses Klischee vom beruflich erfolgreichen Mann, der in der Mitlife-Crises Angst vor dem Altern bekommt, sein Leben als unerfüllt betrachtet und beschließt, vor seinem Ableben (egal in welcher Ferne dies sein möge) das Versäumte aufzuholen und noch mal ordentlich auf die Pauke zu hauen. Die Ehefrau, die ihre eigenen Bedürfnisse jahrelang geleugnet, die Kinder quasi im Alleingang großgezogen und auf eine berufliche Karriere verzichtet hat, um ihrem Gatten den Rücken frei zu halten, wird dann abgelegt und durch eine junge, knackige Geliebte ersetzt. Eigentlich verachte ich solche Männer, aber manchmal wünschte ich, ich wäre auch einer dieser selbstverliebten Egomanen, deren Lebenswerte nur aus Macht-Symbolen bestehen, die sie im 9 mal 13-Format auf den Tisch knallen wie Skatkarten: Mein Haus in der Algarve, mein Kabrio, meine Yacht, meine Geliebte…
Warum ich manchmal wünschte, einer von ihnen zu sein? Weil es eine Last sein kann, höhere Werte zu haben, Werte, die einen fordern, die einem alles abverlangen. Wissen Sie, es ist nicht leicht, in seinem Beruf mehr zu sehen als eine Tätigkeit zum Zweck des Geldverdienens, und diese Einstellung trotz aller Widrigkeiten des Arbeitsumfelds zu behalten. Die meisten von Ihnen fühlten sich wahrscheinlich in ihren ersten Berufsjahren im wahrsten Sinn des Wortes berufen und hatten Freude an ihrer Arbeit. Aber diese Illusion verflüchtigt sich meist rasch, und man resigniert. Was aber, wenn sich der Wechsel vom Berufenen zum fatalistischen Jobber, der keine Befriedigung mehr in seiner Arbeit sieht und sein Vergnügen nur noch nach Feierabend sucht, nicht einstellen will? Wenn man trotz aller Rückschläge, Ignoranz, trotz eigener Fehler weiterhin glaubt, die berufliche Tätigkeit sei nicht nur Selbstzweck, sondern habe einen gesellschaftlichen Sinn? Was ist, wenn man das Gefühl hat, an seiner Aufgabe ständig zu scheitern?
Ich sehe Sie verächtlich mit den Schultern zucken: Ein Romantiker und naiver Weltverbesserer, denken Sie. Sie haben vielleicht Recht, aber ich bin nun mal der, der ich bin. Ich glaube fest daran, dass wir nur überleben können, wenn wir unsere Einstellung zur Energie, sei es Gewinnung oder Verbrauch, völlig umkrempeln, und zwar binnen weniger Jahrzehnte, sonst ist es zu spät: Erderwärmung, Klimakollaps, Abschmelzung der Gletscher…
Gut, ich werde Sie nicht länger mit meiner grün gefärbten Ideologie quälen, denn Sie wollen ja eine Geschichte hören. Aber ich spiele in dieser Geschichte eine Rolle und deshalb sollten Sie einiges über mich wissen. Ich will es kurz machen: Bevor ich die Stelle an der Uni antrat, arbeitete ich im Umweltministerium in Berlin. Es war mein persönlicher und gescheiterter Kampf gegen die Windmühlen der Bürokraten und Lobbyisten, die Unfähigkeit, mein beruflich definiertes Ich im Büro zu lassen, die dadurch verursachten Depressionen, mein ständiges Jammern, die meine Frau vertrieben – keine Geliebte, kein Machogehabe. Ich war niemals ein Patriarch. In unserer Ehe war sie die Stärkere, die uns beide getragen hat, gegen die Schwerkraft meiner Depristimmungen, die uns nach unten ziehen wollte. Aber irgendwann konnte sie meinen Hundeblick, meine schlechte Laune, mein Selbstmitleid, meine Wut auf die Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten, nicht mehr ertragen. Ich kann es ihr nicht verdenken. Der Scheidungskrieg war kurz und unblutig, und sie war großzügiger als ich es an ihrer Stelle gewesen wäre. Danach brach ich alle Brücken in Berlin ab. Jetzt bin ich hier.
Heute, da ich dies niederschreibe, sitze ich im Garten. Kurz hinter der Hecke beginnt der Wald. Vor drei Monaten saß ich das erste Mal hier, fühlte mich plötzlich gerufen, aufzustehen, mich durch eine Lücke in der Hecke zu zwängen und die paar Schritte in eine andere Welt zu tun.
Womit wir beim eigentlichen Anfang der Geschichte wären.
Aber bevor ich beginne, will ich noch einen formalen Wechsel vornehmen. Ich erkenne gerade, dass die Ich-Form nicht die geeignete Erzählform ist. Sie sollten sich nicht gezwungen fühlen, sich auf meine Gefühle und Gedanken einlassen zu müssen, ihnen gar ausgeliefert sein. Eine gute Erzählung gewinnt ihre Kraft nicht aus der Interpretation durch den Erzähler, sondern aus dem Erlebten selbst. Ich gebe Ihnen die Freiheit, die Geschichte durch ihre Augen, Ohren und anderen Sinne zu erfahren. Sehen Sie mich einfach als Führer, als Begleiter.
Dr. Brauner schob seine Kaffeetasse beiseite, rückte seinen selbst gezimmerten Gartenstuhl zurück und stand auf.
Er hatte einen Ruf gehört. Den Ruf eines Vogels jenseits der Hecke.
Es war Sonntagnachmittag. Der Frühling war noch jung. Es war der erste Tag, der einen längeren Aufenthalt im Garten zuließ, ohne dass man bald fröstelte. Brauner hatte die letzte halbe Stunde mit der Sonntagszeitung auf der kleinen Plattform aus Holzbohlen verbracht, auf der ein grob gezimmerter Tisch, eine klobige Gartenbank und drei ebenso plumpe Stühle standen – Zeugnisse seiner kürzlich autodidaktisch erlernten Kunst des Schreinerns. Er war stolz darauf.
Die Zeitung war ein Klon der von voriger Woche: wieder ein paar Dutzend Tote im Irak, wieder gegenseitige Drohungen von Bush und Ahmadinedschad, wieder Streit im Koalitionsausschuss über eine der unzähligen Reformbaustellen, und Bayern hatte wieder in der 91. Minute das entscheidende Tor geschossen, führte die Tabelle mit großem Vorsprung an. Brauner hatte die Zeitung zusammengefaltet, seinen Kaffee geschlürft, die wohltuende Sonne und den Frühlingsduft genossen und war dann in einen Tagtraum verfallen: Er malte sich seine Einstandsparty aus, die er nach mehr als vier Monaten auf der neuen Stelle immer noch nicht gegeben hatte. Seine Kollegen und vor allem Kolleginnen von der Uni wollte er einladen, wollte endlich warm mit ihnen werden, soziale Kontakte knüpfen, sich einen Freundeskreis zulegen, und natürlich eine Frau kennen lernen. Der Duft von Grillwürstchen und Kartoffelsalat umwehte ihn in seiner Fantasie, er lauschte der leisen Popmusik aus den Boxen der auf der Terrasse stehenden Stereoanlage (die Musik würde ein für ihn gerade noch akzeptabler Kompromiss und ein Zugeständnis an den Massengeschmack sein – er wollte sich nicht gleich mit den Flower Kings oder Spock’s Beard unbeliebt machen). Dann hörte er ein Lachen und Rufen: Du kriegst mich nicht!
Du kriegst mich nicht? Hatte er das wirklich gehört, diesen hellen, spöttischen Ausruf, oder war das eine Halluzination seines Tagtraumes gewesen?
„Dikrigzminit! Dikrigzminit!“
Ein Vogel auf der anderen Seite der Hecke. Brauner musste schmunzeln. Er hatte in der „Psychologie heute“ einen Artikel darüber gelesen, wie sehr die menschliche Wahrnehmung auf gespeicherten Erinnerungsmustern beruht. Man schaut auf den Vollmond und sieht ein Gesicht, weil die runde, fleckige Scheibe unbewusst durch die Mustererkennung geschleust und gefiltert wird. Die meisten visuellen Wahrnehmungen sind in Wahrheit optische Täuschungen. Man sieht nicht die Realität, sondern das gespeicherte synaptische Erregungsmuster, das ihr zu entsprechen scheint, aber gleichzeitig eine Interpretation von ihr liefert. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehör: Ein von Geburt an Tauber, der lesen und schreiben gelernt hat, würde – nach Heilung von der Taubheit – kein Wort der gesprochenen Sprache verstehen, sie nur als undifferenziertes Geräusch empfinden, da ihm die Vergleichsmuster fehlten. Umgekehrt interpretieren wir strukturierte und auf harmonischen Frequenzbeziehungen beruhende akustische Ereignisse als wohlklingende Musik, sofern wir die synaptischen Voraussetzungen dazu erlangt haben.
Das Gehör hatte ihm also einen Streich gespielt und den Vogelruf jenseits der Hecke durch die Mustererkennung für menschliche Stimmen geschickt, weil er in seinem Tagtraum gerade an eine Kollegin gedacht hatte, die er unbedingt näher kennen lernen wollte. Wie um ihn zu verspotten hatte sie ihm zugerufen: Du kriegst mich nicht. Freud lässt grüßen, dachte er.
Nach dieser Selbstanalyse sollte die Vogelstimme eigentlich so klingen, wie es sich für eine Spottdrossel (oder was immer das für ein Vogel war) gehörte. Aber sein Gehirn weigerte sich hartnäckig, die einmal gewählte Interpretation aufzugeben. Nach wie vor tönte der Vogel neckisch: Du kriegst mich nicht!
Brauner stieg auf die Bank und lugte über die völlig verwilderte Hecke. Auf der anderen Seite war ein Wald. Er hatte ihn noch nie betreten, weil er einfach noch keine Zeit gefunden hatte, die Umgebung seines neuen Zuhauses näher zu erkunden. Von dem Vogel war nichts zu sehen. Aber er musste ganz in der Nähe sein. Brauner war neugierig.
Die Hecke war lang und umgab seinen Garten fast vollständig, ließ nur eine Lücke am Tor, das hinaus zur Straße führte. Er runzelte die Stirn. Sollte er hinausgehen und um das halbe Grundstück herumlaufen, nur um einen Blick auf diese ornithische Nervensäge zu werfen? Sein Blick wanderte die Hecke entlang und fiel auf das Loch am Boden, – ach ja: die Hinterlassenschaft des großen Schäferhundes des Vorbesitzers seines kleinen Hofes, der sich durch eine Hecke nicht hatte aufhalten lassen, nachts die Gegend unsicher zu machen. Das Hundeloch begann schon wieder zuzuwachsen. Er ließ sich auf Hände und Knie hinab und kroch hindurch.
Der Wald, der unmittelbar auf der anderen Seite der Hecke begann, war ein lichter, aber urwüchsiger Laubwald. Brauner kannte sich als Stadtgewächs nicht mit der Natur aus, glaubte aber, in der Hauptsache Buchen vor sich zu haben. Ihre Stämme stiegen in kerzengeraden, glatten Säulen empor. Das Blattgrün war noch zart und hell und hob sich leuchtend ab vom kobaltblau strahlenden Himmel, über den seidig schimmernde Fäden aus schneeweißem Cirrus zogen. Dicke, gelbe Lichtbalken der schon tief stehenden Sonne bahnten sich einen Weg durch die lichten Kronen und betupften den weichen, mit Moosen, Waldgrasbüscheln, Winterlaub und Farnen bedeckten Boden, übersäten ihn mit einem pointilistischen Muster gleißender Flecken, in denen die Blüten von Wildblumen aufleuchteten wie kleine Lampions.
Brauner atmete tief die würzige Luft ein und ließ das Bild, seine flirrende Farbigkeit, seine Räumlichkeit und Tiefe, auf sich wirken. Ein unerwartetes und lange vermisstes Gefühl von Glück durchströmte ihn. Beinahe hätte er den Vogel vergessen, der sich aber wieder keckernd in Erinnerung brachte. Sehen konnte er ihn immer noch nicht. Er hörte ein Flattern, das sich ein Stück von ihm entfernte, dann wieder den Gesang, den dieses vorwitzige Schnabeltier allein für ihn zu trällern schien. Er folgte dem spöttischen Lied, das nur aus einem Refrain bestand.
Der Waldboden stieg vor ihm leicht an. Ein Wildwechsel wies ihm einladend den Weg durch das nicht sehr dichte Unterholz zu einer Lichtung. Der Vogel schien dorthin geflogen zu sein. Die Lichtung war weiter entfernt, als er geschätzt hatte. Er war mindestens dreihundert Meter gegangen, als sie sich vor ihm öffnete.
Es war der schönste Platz, den er je gesehen hatte – und er hatte viele gesehen. Sein landschaftlicher Favorit war bis heute der Grand Canyon gewesen. Diese Lichtung war bei weitem nicht so beeindruckend. Aber sie strahlte eine erhabene Ruhe und einen Frieden aus, den er so stark nicht einmal in der Kathedrale von Sevilla empfunden hatte, als er vor der flirrenden Hitze und der Hektik auf den Straßen dorthin geflüchtet war, um von seiner anstrengenden Sight-Seeing-Tour ein wenig zu verschnaufen. Damals hatte ihn in diesem gewaltigen Gottestempel eine unglaubliche Ruhe empfangen, die seinen Herzschlag dröhnen ließ. Diesmal war die Empfindung noch stärker, obwohl seine Gemütsverfassung ganz anders war. In Sevilla war die Stimmung vor allem durch den enormen Kontrast zur Schnelllebigkeit und zum Lärm draußen entstanden, und seinem Sehnen nach Ruhe. Heute bestand dieser Kontrast nicht, der das Gefühl verstärkte. Die Magie dieses Ortes war absolut.
Er blickte auf eine ovale Lichtung, deren Boden mit einem dichten Vlies aus hell leuchtendem Grün und bunten Farbtupfern bedeckt war, einer Blumenwiese. Sie hatte ein leichtes Gefälle von links nach rechts. Etwas links von ihrem Zentrum stand ein dicker, knorriger Baum (eine Weidenart?) mit breit ausladender Krone und heller, fast weißer Rinde. Ein schmaler Bach floss um ihn herum und zu Füßen des Baumes in ein Becken, kaum zwei Meter im Durchmesser. Das Wasser war klar wie flüssiges Glas und gab den Blick auf einen hellen, sandigen Boden frei, in dem einige Wasserpflanzen in der schwachen Strömung wehten und wallten. Eine Schule silbriger, kaum fingerlanger Fische stand unbeweglich darin. Nur an den flimmernden Schwanzflossen sah man, dass sie auf der Stelle schwammen. Der Bach verließ den kleinen Teich wieder und suchte sich seinen Weg dem Gefälle folgend, verschwand rechts von Brauner im Wald.
Der Baum. Er – der eigentliche Star dieser Lichtung – wirkte wie die klischeehafte, beinahe kitschige Inszenierung eines Baumes in einem Bühnenbild eines romantischen Rührstücks. Breit und ausladend war er, von einer Pilzform, wie man sie nur bei alten Olivenbäumen oder Bonsais findet. Die aus dem Boden ragenden, dicken Wurzeln wanden sich schlangengleich hierhin und dahin, bevor sie sich zu einem dicken Strang vereinigten, der weiter oben zu einem glatten, runden Stamm wurde. Dieser ragte ein wenig schief nur etwa drei Meter empor und verzweigte sich dann in ein halbes dutzend kräftiger Äste, die sich wie die Finger einer nach oben geöffneten Hand ausstreckten und ein riesiges Nest aus Zweigen und kleinen, runden Blättern trugen: die etwa sechs Meter breite Baumkrone. Brauner trat unter den Baum und legte seine Hand auf die Rinde. Sie war kein bisschen borkig, rissig oder zerfurcht, sondern glatt wie die einer jungen Birke. Die hellgraue Farbe war von fast weißen, wolkigen Strukturen durchzogen. Der Stamm wirkte wie aus Marmor gehauen. Brauner hatte noch nie einen Baum dieser Art gesehen.
Es war klar: Solch ein Baum musste bekannt sein wie ein Monument und einen Namen haben: Schnee-Eiche, Thor-Weide, Eisriesen-Baum oder was auch immer. Er würde ihn auf seiner Wanderkarte finden. Komisch war nur: Normalerweise waren solche Bäume mit Einritzungen übersäht, mit dem romantischen und gesellschaftlich akzeptierten (aber noch mehr Schaden verursachenden) geschnitzten Äquivalent der städtischen Graffitis. Aber die Rinde war frei von Herzchen und Initialen. Er sah auch keinen Weg oder Pfad, der auf eine häufige Frequentierung der Lichtung schließen ließ.
Brauner setzte sich auf eine einladend dicke Wurzel, lehnte sich an den Stamm, atmete tief ein und genoss die Stille. Den Vogel, der ihn hierher gelockt hatte mit seinem spöttischen Gesang, hatte er längst vergessen. Die Ruhe wird nicht lange anhalten, dachte er. Es war Sonntagnachmittag, der erste, schöne Frühlingstag, im Wetterbericht angekündigt. Heerscharen von Familien mit unangeleinten Hunden und lärmenden Kindern mussten sich durch den Wald ergießen wie eine alles niederwalzende Lawine. Es war eine Laune des Zufalls, dass er gerade jetzt hierher gefunden hatte, in diesem Moment der Ruhe vor dem Sturm, der bald kommen musste. Jeden Augenblick erwartete er das Kreischen der Kinder, das Knacken und Trampeln einer herannahenden Horde so genannter Wanderer oder das hässliche Klacken von Stöcken eines Nordic Walkers zu hören. Aber es blieb still. Brauner wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Stille damit zu verletzen. Statt in gelassenem Rhythmus zu schlagen, klopfte sein Herz laut und schnell. Er fühlte sich wie ein Delinquent vor einem Erschießungskommando, der hofft, seine Hinrichter würden noch einen Augenblick länger zögern, und noch einen Wimpernschlag, und noch einen. Sein Glück hielt an. Die Stille dehnte sich. Augenblick reihte sich an Augenblick. Außer dem Summen von Insekten und dem entfernten Zwitschern von Vögeln vernahm er nur seinen klopfenden Puls. Langsam beruhigte er sich. Zu seinem Erstaunen merkte er, dass er, der Agnostiker, gerade gebetet hatte, niemand möge das Sakrileg begehen, diese Stille zu stören, dieses Idyll durch Lärm, Gelächter oder anderes übliches menschliches Gebaren zu zerstören.
Etwas Buntes schoss wie ein Blitz vor ihm herab und klatschte geschossgleich in den Teich. Brauner erschrak und wäre beinahe aufgesprungen. Das Etwas schoss wieder heraus in einer sprühenden Wasserfontäne, wirbelte nach oben und verschwand über ihm in der Baumkrone. Brauner richtete seinen Blick hinauf und sah einen bunten Eisvogel auf einem Ast sitzen, mit einem kurzen, silbrigen Fisch im Schnabel. Das finkengroße Raubvögelchen klatschte sein zappelndes Opfer einige Male gegen den Ast und mühte sich ab, es von der Querlage in die Längsrichtung zu manövrieren und zu verschlucken, was ihm schließlich auch gelang.
Der kleine Vogel war gedrungen und besaß einen überproportionalen Kopf, was ihm ein kindlich-niedliches Aussehen verlieh. Sein Rückengefieder war tiefgrün, Flügel und Schwanz schimmerten in leuchtendem Blau, sein Brustgefieder war golden. Weiße Flecken strahlten auf Kehle und an den Seiten des Kopfes.
Brauner hatte Eisvögel – die Paradiesvögel der nördlichen Hemisphäre – bisher nur auf Abbildungen und im Zoo gesehen. Dies war seine erste Begegnung mit einem frei lebenden Exemplar, und er war berührt von seiner Schönheit.
Im Teich unter dem Baum war die Hölle los. Die Fischchen flitzten wie aufgedreht hin und her. Die Sonne spiegelte sich in ihnen, und das Wasser flimmerte. Doch bald beruhigten sie sich wieder. Diese Geißel, die aus dem Himmel stürzt, dieses schreckliche, bunte Raubtier, hatte wieder einen der ihren geholt, aber die Bestie würde für einige Stunden satt sein und sie für eine Weile in Ruhe lassen. Brauner schmunzelte über seine Fantasie, als er sich vorstellte, was diese winzigen, fast hirnlosen und keiner Vorstellung fähigen Wesen gedacht haben könnten.
Langsam wuchsen die Schatten, krochen über die Wiese und erstickten das bunte Leuchten der Blüten. Der Glanz des Wassers und der Fische darin erstarb. Eine frische Kühle machte sich breit. Die Sonne war untergegangen. Brauner sah auf die Uhr. Mein Güte, zweieinhalb Stunden waren vergangen, ohne dass er es gemerkt hatte! Er stand auf und machte sich auf den Heimweg.
Die ganze nächste Woche kam er nicht dazu, seine Lichtung aufzusuchen. Er kehrte meist erst nach der Dämmerung nach Hause, machte sich dann etwas zu essen, setzte sich vor die Glotze und sah die Tagesschau. Danach las er stundenlang oder hörte Musik – je nach Stimmung Vivaldi, Strawinsky, Projection, die Blumenkönige oder Chris Reas Bluesalben. Am Freitag machte sich allmählich die Vorfreude breit. Er hatte während der letzten Tage nicht bewusst daran gedacht, aber ihm wurde klar, dass sich auf einer verborgenen Ebene in ihm ein Sehnen nach diesem Ort eingenistet hatte.
Eine halbe Stunde lang suchte er in immer noch nicht ausgepackten Umzugskisten, dann hatte er sie endlich gefunden: eine Karte der Gegend, noch in Berlin gekauft. Es war eine Wanderkarte mit der üblichen Legende: Waldwege, lokale Sehenswürdigkeiten, geologische Besonderheiten (das hügelige Gebiet, auf dem der Stadtwald stand, war vulkanischen Ursprungs), Wasserläufe und so weiter. Er fand das kleine Dorf und sogar seinen Hof, einen winzigen Fleck an der Landstraße. Dahinter eine einheitliche grüne Fläche: Wald. Seinen Baum fand er nicht, auch keinen Wander- oder Forstweg in der Nähe, nicht einmal den Bach. Eine etwa 5-Euromünzen große Fläche war vollkommen strukturlos und fiel dadurch geradezu auf. Jedenfalls, wenn man etwas in diesem Gebiet suchte. Brauner war erfreut: Deshalb hatte es also letzten Sonntag keine Heerscharen von Spaziergängern, Inline-Skatern, Joggern oder BMX-Fahrern gegeben, die schwarmgleich in sein kleines Paradies ein- und ihm auf die Nerven gefallen waren. Seltsam fand er es dennoch, dass dieser Platz nicht bekannt war. Vielleicht war aber nur die Karte ungenau. Egal: Er würde ihn in Beschlag nehmen, nahm er sich vor, er würde sein Refugium werden. Plötzlich hatte er eine Idee. Dem Ort fehlte noch eine Kleinigkeit, um vollkommen zu sein. Er suchte die Nummer des Forstamtes im Telefonbuch und rief dort an. Eine Frau meldete sich mit der üblichen, nicht ernst gemeinten, melodisch heruntergeleierten Service-Floskel:
„Forstbehörde Reifensee. Judith Wagner am Apparat. Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Name ist Prof. Dr. Brauner.“ Wie immer, wenn er von einer Behörde etwas wollte, benutzte er die einschüchternde akademische Bezeichnung, auf die er sonst keinen Wert legte.
„Ich würde gerne eine Bank für Ihren Stadtwald stiften, vorausgesetzt, ich darf den Aufstellungsort frei wählen.“
Schweigen. Konnte man hören, wie jemand die Stirn runzelte? Offenbar.
„Wo soll die denn hin?“
„Es gibt da eine Lichtung östlich von Radendorf. Da steht ein wunderschöner weißer Baum…“
„Weiße Bäume gibt es nicht im Stadtwald. Das wüsste ich.“
Brauner seufzte im Stillen. Er war wieder auf diese typisch deutsche Beamtenmentalität gestoßen: Was der Staatsdiener nicht kennt, das existierte einfach nicht.
„Na ja, richtig weiß ist er nicht, eher grau. Jedenfalls lädt diese Lichtung geradezu zum Verweilen ein. Ich fände es sehr schön, wenn dort eine Bank stünde.“
„Hören Sie, das ist gar nicht so einfach. Da gibt es Sicherheitsbestimmungen. Wenn die Bank zusammenbricht, wenn einer draufsitzt? Da müssen wir auf Haftungsauschluss bestehen. Und dann muss sie noch einbetoniert werden, sonst wird sie spätestens am nächsten Tag geklaut. Dafür haben wir aber keine Zeit und keine Arbeitskräfte. Wissen Sie eigentlich, wie viel wir zu tun haben? Gerade jetzt im Frühjahr: die ganzen Winterschäden durch die Schneelast, die Borkenkäferplage. Die Viecher würden ihre Bank sowieso auffressen, das ist klar wie Kloßbrühe. Und für so ein Schild mit ‚gestiftet von Prof. Dr. Brauner’ haben wir auch kein Geld.“
Allmählich ging ihm diese Forstgehilfin, Sekretärin, Ehefrau des Försters oder was auch immer ihre Funktion war, auf die Nerven. Im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass sie ja auch die Chefin der Forstbehörde sein konnte, und er spürte die Wärme der Schamesröte in der Gesichtshaut prickeln.
„Ein Schild von mir ist überflüssig. Ich stelle die Bank auch selbst auf und befestige sie ordentlich. Keinem wird etwas passieren. Ich verbürge mich dafür.“
Wieder ein kurzes Schweigen, dann:
„Wissen Sie was, Herr Doktor? Stellen Sie Ihre Bank einfach hin wo sie wollen. Aber Sie haben nie hier angerufen, ja? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, wie man so schön sagt. Doch beschweren Sie sich nicht, wenn irgendwelche Vandalen Ihre Bank verhunzen. Wir lehnen jede Verantwortung ab.“
„Selbstverständlich. Vielen Dank. Dann noch ein schönes Wochenende.“
„Gleichfalls.“ Klick.
Er ging in die Scheune und besah sich das Holz, das er noch hatte: grob gehobelte, dicke Bretter und einige gerade Asttücke, noch berindet. Er würde sie abdrechseln müssen, wenn er dem Borkenkäfer keine Freude bereiten wollte. Ja, das müsste gehen. Er entwarf eine grobe Skizze der Bank, schnappte sich seine Säge und legte los.
Er hatte die Arbeit unterschätzt, zumal er noch seinen Garten in Ordnung bringen musste – Laub zusammenrechen, Rasen mähen, Hecke schneiden –, denn am nächsten Wochenende wollte er endlich seine Einstandsfete geben. Jedenfalls schaffte er es nicht, die Bank fertig zu stellen, auch deshalb, weil er am Sonntag mindestens drei Stunden müßig auf seiner Lichtung verbrachte, mit einem Picknickkorb, einer halben Flasche Rotwein und einem guten Buch. Eigentlich hatte er auch den MP3-Player mitnehmen wollen, um das neue Dream Theater Album zu hören, aber er konnte sich dann doch nicht dazu durchdringen, an diesem Ort harte Rockmusik zu genießen. Irgendwie war ihm die Zeit davongelaufen, dort, wo sie still zu stehen schien, und deshalb kam er erst nach Sonnenuntergang zurück, leicht beduselt vom Wein. Die Bank wartete auf ihn, dreiviertelfertig, nur die Lehne und die Armstützen fehlten noch. Aber er war müde und hatte keine Lust mehr. Er würde die restlichen Arbeiten kommende Woche nach Feierabend machen.
Er saß in seinem Büro und war frustriert. Das Wochenende rückte näher, und die Bank war immer noch nicht fertig. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihm breit. Er hatte eigentlich vorgehabt, am Samstag zu vorgerückter Stunde mit seinen Gästen die Lichtung aufzusuchen. Es sollte Vollmond in dieser Nacht sein. Der weiße Baum würde im silbrigen Mondlicht gespenstisch und majestätisch zugleich aussehen. Seine Kollegen würden vielleicht Augen machen!
So hatte er es sich vorgestellt. Dann aber waren ihm Bedenken gekommen: Sie würden die Blumenwiese zertrampeln, vielleicht auch abgefüllt mit Bier gegen den Baum pinkeln, womöglich rauchen und ihre Kippen überall verteilen. Nein, das wollte er nicht zulassen. Also: kein Besuch seines Refugiums. Aber könnte er auch den Mund halten über diesen Ort? Wahrscheinlich würde er sich heimlich davonstehlen, um ihn aufzusuchen. Sicher würde es jemand merken und ihm folgen. Gut, wenn es die Richtige wäre: Simone Faust würde er gerne mal seine Lichtung zeigen. Aber nicht am Samstag. Nein.
Wenn er dann noch ans Aufräumen und Spülen dachte (er besaß keine Spülmaschine): überquellende Aschenbecher wegräumen, Papierservietten im Garten zusammenklauben, das Fett vom Grillrost kratzen – nein, danke. Plötzlich hatte er gar keine Lust mehr auf die Gartenfete.
Er rief in der Mensa an, mietete einen Raum für zwanzig Personen und ein warmes Büffet. Es würde sein ohnehin chronisch defizitäres Bankkonto vollends ruinieren, aber was soll’s, dachte er. Erleichtert klapperte er die Büros seiner Kollegen und Kolleginnen ab, die er eingeladen hatte, und teilte ihnen mit angeblichem Bedauern mit, dass seine Sickergrube undicht geworden sei und erbärmlich stinke, weshalb er die Fete leider in die Mensa verlegen müsse. Alle waren enttäuscht. Sie hätten gern einmal seinen Bauernhof gesehen. Er vertröstete sie auf ein anderes Mal, das nie kommen würde – ausgenommen natürlich für Simone, so hoffte er.
Die Einstandsfete war nur ein mäßiger Erfolg gewesen. Das Problem: Da er der Institutsleiter war, waren die meisten der Eingeladenen seine Untergebenen. Vor seinem Wechsel zur Uni hatte er geglaubt, dass dort ein kollegiales Klima ohne das in Wirtschaft und Amtsstuben übliche Beziehungsgeflecht aus offenen und verborgenen Machtstrukturen und Abhängigkeiten herrschte, aber weit gefehlt: Was er an diesem Abend an Anbiederei und Schleimabsonderungen erlebt hatte, ging auf keine Kuhhaut. Herr Professor hier, Herr Professor da. Dabei hatte er gedacht, auf dem Campus seien akademische Titel nebensächlich. Brauners Hoffnung, das Berufliche außen vorlassen zu können, seine Kolleginnen und Kollegen privat kennen zu lernen, zu erfahren, was sie für Hobbys hatten, welche Parteien sie wählten, ob sie Fußball liebten oder hassten, welche Musik sie hörten, welche Bücher sie lasen, kurz: was für Menschen sie waren, wurde enttäuscht. Es ging in den Gesprächen meist um das Institut: Welche Umstrukturierungspläne hatte Brauner? Wie wollte er sich (durch die Blume gefragt) profilieren? Er wollte doch hoffentlich nicht gewachsene und sich bestens bewährte Strukturen (sprich: Seilschaften zur eigenen Karriereförderung bei möglichst geringer beruflicher Leistung) verändern, sich nicht diesem Modernisierungswahnsinn anschließen, oder? Brauner hatte eigentlich überhaupt nichts vor in dieser Hinsicht. Er wollte nur forschen und lehren. Immerhin war er schon vier Monate hier und hatte niemandem Anlass zur Befürchtung gegeben, er würde einschneidende Veränderungen einleiten. Aber offenbar hatten seine diversen Vorgänger einige Schockwellen mit ihren Modernisierungsplänen ausgelöst und waren gescheitert, vielleicht, weil die Pläne nur aktionistisch, Effekt haschend und überflüssig waren, vielleicht auch wegen des Beharrungsvermögens der Mitarbeiter, die jede Reformbemühung unterlaufen können, wenn es nicht gelingt, sie von deren Sinn zu überzeugen und auf dem oft mühsamen Weg mitzunehmen.
Der Abend hätte genauso gut eine Institutsversammlung sein können. Die Reserviertheit war so groß, dass er sich nur bei einem traute, das Du anzubieten: Wilhelm (genannt Bill) Hofmann, C2 Professor, arbeitete schon seit Jahrzehnten am Institut, war ein guter Wissenschaftler und bei den Studenten beliebter Dozent, besaß aber keine Lust an administrativen Aufgaben und hatte nie den Ehrgeiz entwickelt, eine leitende Position anzustreben. Bill war ein unkomplizierter Kerl und schien als einziger kein Problem damit zu haben, seinen Chef zu duzen. Der zweite Lichtblick des Abends war Dr. Simone Faust, eine wissenschaftliche Assistentin, die eine wichtige Forschungsgruppe am Institut leitete und an ihrer Habilitation arbeitete. Frau Faust war eine attraktive Brünette, mit hohen Absätzen um eine Bierdeckeldicke größer als er, 35 Jahre alt und geschieden. Das war sein Ansatzpunkt gewesen, um ihre verschlossene Schale aufzuhebeln – als Leidensgenossen kamen sie sich im Gespräch und Erfahrungsaustausch über das Trauma ihrer Scheidungen näher. Simone schien wirklich Interesse an ihm zu haben, und in seiner bierseligen Beschwingtheit lud er sie ein, ihn am nächsten Samstag auf seinem Hof zu besuchen und mit ihm zu picknicken.
Die Woche verging einerseits zäh und andererseits zu schnell. Er sehnte das Wochenende herbei, hatte Schmetterlinge im Bauch wie ein pubertierender Sechzehnjähriger, wurde dabei von Zweifeln geplagt: Simone war 17 Jahre jünger als er, er war ihr Vorgesetzter, er wusste kaum etwas über sie, außer dass sie im Kollegium beliebt und auf ihrem Spezialgebiet, der Stratosphärenforschung, brillant war. Dem rationalen Wissenschaftler Brauner machte vor allem der Nebel, der die Privatperson Faust verbarg, zu schaffen. Er misstraute einem Gefühl, das auf keinen belastbaren Fakten beruhte: Was war, wenn sich herausstellte, dass sie NPD wählte (bei den letzten Kommunalwahlen hatten die Braunen immerhin 7 % erzielt), was, wenn sie streng katholisch oder gar Muslimin war? Würde das nicht seine Toleranzgrenze überschreiten? Was, wenn sie seinen Musikgeschmack nicht teilte oder Fußball hasste? Verdammt, rief er seinen zweifelnden Geist zur Ordnung, deshalb hast du sie doch eingeladen: um sie kennen zu lernen. Wenn sie nicht zu dir passt, dann war’s das eben. Dennoch konnte man doch kollegial zusammenarbeiten, oder?
Natürlich wollte er ihr sein Wald-Refugium zeigen. Einen romantischeren Ort, jemanden anzubaggern, konnte man kaum finden. Er war sicher, das würde den Ausschlag geben. Keinesfalls wollte er aber am ersten Abend schon mit ihr ins Bett gehen, schwor er sich, selbst wenn es Cupido gut mit ihm meinte und sie mit seinem Pfeil träfe.
Bis zum Freitag war er damit beschäftigt, die Bank zusammenzuschrauben und mit weißer Farbe zu streichen, passend zur hell schimmernden Rinde des Baumes, unter dem er sie aufstellen würde. Am Samstagmorgen ging er einkaufen, danach stand er in der Küche und bereitete das Picknick zu: als Vorspeise einen Krabbensalat, als Hauptgang marinierte Hühnerbrustfilets mit einem pikanten Nudelsalat, dazu ein selbst gebackenes, knuspriges Ciabatta, und als Nachtisch einen Obstsalat mit Zabaione. Alles stellte er kühl, außer den Wein, einen 98er Montepulciano d’Abruzzo riserva. Gegen 15 Uhr war er fertig. Jetzt musste er nur noch die Bank aufstellen.
Das erwies sich als schwieriger als gedacht. Er lud sie auf einen Bollerwagen, der noch vom Vorbesitzer stammte, und zog sie durch das Tor nach draußen um die Hecke herum. Sofort blieben die Räder im weichen Waldboden stecken. Das Unterholz war viel dichter als erwartet. Er sah schnell, dass er keine Chance hatte, von hier aus die Lichtung zu erreichen. Ratlos kehrte er mit der schweren Fracht um. Etwa zehn Minuten stand er unschlüssig herum, dann holte er schließlich die elektrische Heckenschere und vergrößerte das Hundeloch, bis der Karren hindurchpasste. Langsam wurde die Zeit knapp. Da es früh dunkel wurde, hatte er Simone schon für 17 Uhr eingeladen und wollte dann direkt mit ihr zur Lichtung gehen, wo sein Picknick auf einer Decke neben dem kleinen Teich aufgebaut sein würde.
Der Boden auf dem breiten Wildpfad war fest und unterholzfrei. Nun war es kein Problem, die Bank zur Lichtung zu schaffen. Er lud sie ab und stellte sie unter den Baum. Doch sie wackelte ziemlich, da das Wurzelwerk den Untergrund sehr uneben machte. Er fluchte, zerrte die Bank ein Stück hierhin, ein Stück dahin und mühte sich vergeblich, eine Stelle zu finden, wo sie stabil stand. Er sah auf die Uhr: In einer Viertelstunde würde Simone hier sein, und er hatte noch nicht einmal geduscht! Sollte er es aufgeben mit der Bank? Nein, nicht nach all der Arbeit, die er sich mit ihr gemacht hatte. Sie würde sicher Verständnis haben. Er nahm sein Handy, fand aber kein Netz. Rasch lief er zurück, durch die Schneise in der Hecke in seinen Garten – dort hatte er noch nie Verbindungsprobleme gehabt. Er bekam Simone auch sofort an die Leitung, erklärte ihr, dass er noch einem Augenblick zu tun habe, und wie sie vom Garten zu der Lichtung komme. Sie brauche nur durch das Loch in der Hecke gehen und den Karrenspuren auf dem Wildwechsel zu folgen. Und sie solle doch bitte den Picknick-Korb aus dem Kühlschrank mitbringen. Ja, die Haustür sei offen. Wenn Sie wolle, könne sie es sich aber auch auf der Terrasse bequem machen und auf ihn warten. Er würde sie in einer halben Stunde oder so abholen. Nein, natürlich könne sie auch gleich in den Wald kommen und ihm helfen. Ja, das wäre nett. Nein, eine Decke brauche sie nicht mitzubringen. Ja, er freue sich auch. Bis gleich.
Eine dreiviertel Stunde später war er endlich fertig. Die Bank stand. Allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, unter dem Baum, sondern auf der anderen Seite des Teiches, ihm zugewandt. Auch nicht schlecht. So hatte man den Baum im Blickfeld. Simone hatte es sich anscheinend doch anders überlegt und war im Garten geblieben. Vielleicht stromerte sie auch neugierig in seinem Zuhause herum. Ihm war es recht. Persönliche Dinge, die sie nichts angingen, waren in einem verschlossenen Schrank. Sollte sie sich ruhig ein Bild von ihm machen.
Als er sich auf den Rückweg machte, war er verschwitzt und hoffte, dass sich sein Körpergeruch in Grenzen hielt. Er fand sie auf der Terrasse auf einem der Gartenstühle sitzend, und merkte gleich, dass sie verstimmt war. Sie erhob sich, und er gab ihr die Hand.
„Guten Tag Frau Faust. Nett dass sie gekommen sind. Endschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Ich springe nur noch schnell unter die Dusche, dann kann es losgehen.“
„Ich habe Sie überall gesucht und das Essen“ – sie deutete auf den Picknickkorb, der auf dem Tisch stand – „ eine halbe Stunde durch den Wald geschleift. Beinahe hätte ich nicht mehr hierher zurückgefunden. Wo haben Sie den gesteckt? Haben Sie mich nicht rufen hören? Warum gehen Sie denn nicht an Ihr Handy?“
Au Backe! Er hatte vergessen, dass Frauen im Allgemeinen über keinen sehr guten Orientierungssinn verfügen. Sie schien ziemlich eingeschnappt. Aber wer konnte denn ahnen, dass sie selbst diesen einfachen Weg zur Lichtung nicht finden würde?
„Oh, das tut mir Leid. Im Wald gibt es kein Netz. Ich habe Sie auch nicht rufen hören. Nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz, ich dusche nur ganz schnell. Bin gleich wieder da.“
Als er ins Haus ging, hörte er sie noch murmeln: „Komisch: MEIN Handy hat ein Netz gefunden.“
Alles ging schief. Der ganze Abend wurde zu einer einzigen Katastrophe. Zuerst folgte sie ihm mit knallrotem Kopf auf dem breiten Pfad zur Lichtung, den wirklich kein Idiot übersehen konnte, offenbar peinlich berührt von ihrer Unfähigkeit, den Weg allein zu finden. Dann fand sie die Wiese mit Bank, Baum und Bach zwar ganz nett, aber keineswegs so romantisch, wie er gehofft hatte. Mit einer gewissen Blasiertheit meinte sie, er sollte erstmal diese reizende Bucht an den Plitwitzer Seen in Kroatien gesehen haben, die sie letztes Jahr im Urlaub entdeckt hatte, bevor er von Landschafts-Perlen spräche. Danach faselte sie eine halbe Stunde lang, mit offenem Mund kauend, von den Schönheiten Kroatiens, als ob das hier gar nichts wäre.
Zu seinem einfachen Picknick äußerte sie sich höflich lobend, aß aber nur wenig davon. Der blöde, bunte Eisvogel, den er eigentlich fest in seine Wundertüte eingeplant hatte, tauchte kein einziges Mal auf, und kein Fischchen schwamm heute im Teich. Das Licht war diesig. Der Baum wirkte nicht so plastisch wie sonst. Seine bei warmem Abendlicht fast durchscheinende, wie Rauchglas oder Marmor wirkende Textur war heute stumpf und eintönig grau.
Simone Faust (er nannte sie in Gedanken nur noch die Faust) wedelte dauernd mit der Hand vor dem Gesicht herum und beschwerte sich über Mücken, die sie belästigten. Mücken im Frühjahr! Brauner hörte kein Sirren und sah auch keinen der angeblichen Plagegeister. Dann wurde sie von einer Ameise gebissen, sprang hektisch auf und schlug sich auf die Beine. Pflichtschuldig suchte er den Boden nach einem Ameisennest ab, fand aber keines. Wegen ihrer offensichtlichen Kerbtierphobie wechselten sie von der Decke auf die Bank und tranken den Montepulciano aus Plastikbechern. Er hatte eigentlich noch die langstieligen Gläser holen wollen, aber sie meinte, das sei doch nicht nötig. Gut, wenn sie es so stillos haben wollte. Der Wein schmeckte ein wenig nach Korken, kaum spürbar, gerade genug, um Brauner die Stimmung endgültig zu verderben.
Um 19 Uhr wurde es empfindlich kühl und dunkel. Sie gingen zurück ins Haus, unterhielten sich bei einem Glas Mineralwasser (sie wolle nichts mehr Alkoholisches trinken, sie müsse ja noch fahren) über belanglose Dinge. Den angebotenen Cappuccino schlug sie auch aus. Die Schmetterlinge in Brauners Bauch flatterten längst nicht mehr. Er war höchst beleidigt, dass sie sein Refugium so geschmäht hatte und wollte die Faust so schnell wie möglich loswerden. Er wurde einsilbig und gähnte gelegentlich auffällig. Sie gab sich Mühe, seine miese Stimmung aufzuhellen und wieder Gut-Wetter zu machen, das musste er ihr zugestehen. Irgendwann stand sie resignierend auf, verabschiedete sich und ging. Draußen hörte er ihren Sportwagen laut und gereizt aufbrüllen, als sie auf quietschenden Reifen durch die Einfahrt auf die Straße schoss. Er saß noch mindestens zwei Stunden auf der Couch, in dumpfes Brüten versunken, und hätte sich am liebsten selbst geteert und gefedert. Was war er doch für ein blödes Arschloch!
Er war an allem schuld. Wie konnte man bloß so dämlich sein? Wie hatte er von Simone erwarten können, in seinem Refugium haargenau die gleiche Stimmung zu empfinden wie er? Nun gut, Simones und seine Vorlieben waren nur teilweise kongruent, weniger, als er erhofft hatte. Aber war das ein Grund, sie so zu verletzen? Sie sprach jetzt nur noch auf kühl-distanzierter beruflicher Ebene mit ihm, kein Wunder. Er hatte sich zwar für sein unhöfliches Verhalten entschuldigt, merkte aber, dass er bei ihr für alle Zeiten verschissen hatte.
Er schwor sich, in Zukunft das berufliche vom privaten Umfeld zu trennen. Aber wie sollte er dann jemals eine neue Partnerin finden? Er kannte doch keine Frauen außer seinen Studentinnen und Kolleginnen. War es nicht zu früh für eine neue Beziehung? Die Wunde der Trennung von seiner Frau war noch nicht einmal verschorft, da hatte er sich schon selbst eine neue gerissen. Er wäre wieder in eine seiner anhaltenden Depriphasen gefallen, wenn da nicht das Refugium gewesen wäre. Sobald er dort war, fiel alles von ihm ab: Frust, Stress, Wut, Traurigkeit. Nur ein bisschen Melancholie blieb davon übrig.
Der Frühling ging allmählich in den Sommer über. Er machte kleinere Streifzüge durch seinen Wald, entfernte sich aber nie allzu weit von der Lichtung, denn er stieß auf keinen Weg, kein Schild oder keine der sonst allgegenwärtigen Info-Tafeln der Forstverwaltung. Es war natürlich Unsinn: Der Stadtwald war keine Wildnis, in der man sich verlaufen und verhungern konnte. Aber irgendwie hatte er das merkwürdige Gefühl, er befände sich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, in der man sich verlieren könnte.
Eines Tages fiel ihm dann die Abwesenheit der Geräuschkulisse der technischen Zivilisation auf. Wo waren das ferne Brummen der LKWs auf der A3, wo die heulenden Flugzeugturbinen, wo die Motorsägen der Waldarbeiter? Um ihn summte und brummte das Leben zwar gar nicht leise, dennoch empfand er eine Stille, wie er sie noch nie vorher gehört hatte.
Die Lebewesen um ihn herum bekamen Namen: Der Baum war Barry White, der Eisvogel hieß Crazy Daisy, den Häupling der silbernen Fische, den er an seiner violetten Rückenflosse erkannte und der inzwischen zu groß geworden war, um Daisy als Beute zu dienen, nannte er Torpedo. Mit der Zeit gesellten sich die Kröte Quatsch, die wieder aufgetauchte Spottdrossel Lure (nach dem englischen lure: Verlockung – schließlich war sie es, die ihn hierher gelockt hatte) und das Eichhörnchen Missus Quicky dazu.
Crazy Daisy war ein Weibchen und hatte im März einen Partner gefunden, den Brauner Prof. Grzimek nannte, weil er immer den Kopf schief hielt wie der von Loriot einmal köstlich parodierte Zoologe und Retter der Serengeti. Laut Wikipedia sollten Eisvögel eigentlich nur an Steilhängen von Gewässern brüten, in die sie sich eine Bruthöhle graben konnten, aber diese scherten sich einen Dreck um lexikalisches Wissen und bezogen ein Spechtloch oben im Stamm. Sei’s drum. Hauptsache, sie leisteten ihm Gesellschaft. Er hoffte, dass sie bald Nachwuchs bekämen.
Die wenigen überlebenden Fische waren 20 cm groß geworden und hatten von den bunten Blitzen aus der Krone nichts mehr zu befürchten, doch Quatsch, die Kröte, hatte ihren Laich abgelegt, der sich in klitzekleine, wuselnde Kaulquappen verwandelte, erbarmungslos gejagt und dezimiert durch die Eisvögel und Torpedo und seine Gesellen. Aber die Zahl von Quatsches Nachkommen war Legion. Am Ende würden einige Dutzend überleben und sich zu großen, warzigen, hässlichen schwanzlosen Lurchen mausern.
Es war jetzt schon so warm, dass Brauner eines Tages Schuhe und Socken auszog und seine Füße in den Teich hielt. Er war mehr als überrascht: Das als eiskalt erwartete Wasser erwies sich als lauwarm, hatte bestimmt mehr als 35°. Die Sonne konnte bei einem fließenden Gewässer aber nicht für eine solche Temperatur verantwortlich sein. Der Geophysiker in ihm entwickelte Forschungsdrang. Er stand auf und folgte dem Bach hangaufwärts durch den Wald. Geschätzte dreihundert Meter weiter hielt er die Hand hinein. Das Wasser war hier sogar noch wärmer! Schließlich stieß er mitten im Wald auf einen Felsen, etwa 100 m lang und halb so breit, der 30 oder mehr Meter vor ihm steil aufragte. Er wusste natürlich, was das war: ein freigewitterter Lavaschlot, der Kern eines von Wind und Wasser abgetragenen Vulkankegels, von dem nur noch die erstarrte Magmasäule übrig war.
Sechs Meter über ihm war ein Loch von etwa einem Meter Durchmesser im Fels, aus dem das Wasser sprudelte und in einer Kaskade herabfiel. Er hatte den Ursprung der warmen Quelle entdeckt. Geothermische Energie, von der er bislang nichts wusste? Eigentlich undenkbar. Er forschte jetzt jahrzehntelang auf diesem Gebiet und kannte alle relevanten Vorkommen in Deutschland. Aber vielleicht hatte er es tatsächlich nur vergessen, dass es hier heiße Quellen gab. So außergewöhnlich war das nicht: Immerhin war das Gebiet ja vulkanischen Ursprungs.
Irgendwo in der Umgegend musste das Wasser kommerziell genutzt werden, das war klar. Es gab in Deutschland keine Thermalquelle, die nicht von einer Gesundheitsdienstleistung ausgebeutet wurde, sei es einem Schwimmbad, einer Kuranlage, wo das warme, meist mineralreiche Wasser als Heilquelle vermarktet wurde, oder einem Wellnesstempel, in dem es Schlammbäder und Saunen heizte.
Er trottete in gemächlichem Jogging-Tempo dem Lauf des Baches nach, kreuzte die Lichtung und lief fast dreißig Minuten weiter, bis das Wasser einfach in einem Loch in der Erde verschwand. Vermutlich mündete es unterirdisch in einen Fluss. Brauner war aufgeregt: Konnte es tatsächlich sein, dass er diese Quelle entdeckt hatte, dass niemand außer ihm davon wusste? In seinem Kopf raschelten Euro-Scheine. Er konnte reich werden, wenn er es richtig anstellte!
Den Rest des schönen Samstages verbrachte er auf der Bank sitzend, anfangs Pläne zur Erschließung der Geowärme schmiedend, mit zunehmender Dauer aber immer mehr zweifelnd. Er war glücklich in seinem kleinen Paradies. Dieser Ort war ein Gottesgeschenk (wenn man denn an den großen Boss glaubte), zumindest aber ein kostbares Kleinod der Natur. Er stellte sich Bagger vor, die über diese Idylle herfielen, ihre zahnbewehrten Schaufeln in die Erde gruben, sie aufrissen wie die Bauchdecke eines erbeuteten Tieres, er sah die LKWs, deren Räder tiefe Furchen in den Waldboden pflügten, hörte den Baulärm, atmete den Staub und Dieselgeruch ein. Er sah gischtgeplagte und rheumatische Rentner in seinem zu einem gekachelten Becken erweiterten Teich sitzen, dem der Baum natürlich hatte weichen müssen. Welch grauenhafte Vorstellung! Seufzend und erleichtert zugleich, fasste er den Entschluss: Wenn es nach ihm ginge, würde dieser Wald unberührt bleiben. Es war zwar nur eine Frage der Zeit, bis ein anderer die Quelle entdeckte, aber so lange wollte er die Stille seines Refugiums genießen.
Er kam erst allmählich dahinter. Lange hakte sich die Erkenntnis in seinem Unterbewusstsein fest und wollte nicht an die Oberfläche kommen, aber irgendwann wurde ihm bewusst:
Der Wald war magisch.
Es waren zuerst Kleinigkeiten, die man vielleicht rational erklären konnte, für die ihm aber keine befriedigende Deutung einfiel: Das Fehlen von durch Menschen verursachten Geräuschen, von menschlichen Bauwerken – es gab weder geschotterte Spazierwege noch Schutzhütten –, von menschlichen Hinterlassenschaften wie Zigarettenkippen und Plastiktüten und natürlich von Menschen selbst. Ebenso rätselhaft war, dass es ihm nicht gelungen war, diesen Teil des Waldes von einem anderen Startpunkt als der Öffnung in seiner Hecke zu finden. Er hatte versucht, einfach um die Hecke herumzugehen. Doch sobald er einen anderen Weg nahm als den durch das Loch, sah der Wald ganz anders aus. Er kannte sich nicht mehr aus, hätte sich beinahe verirrt, bis er auf einen Wanderweg stieß. Aber dieser Weg befand sich nicht in seinem Wald, sondern führte zu einer Kreuzung, an der eine Infotafel mit einer Wegekarte stand. Brauner erkannte, dass er weiträumig um dieses seltsam unstrukturierte Gebiet jenseits seiner Hecke herumgewandert war.
Er kaufte sich einen GPS-Empfänger und ging damit in seinen Wald, um ihn einmal richtig zu erkunden, ohne in Gefahr zu geraten, sich zu verlaufen. Doch der Empfänger funktionierte dort ebenso wenig wie sein Handy, kaum, dass er die magische Grenze seiner Hecke überquert hatte. Er ging mit dem Empfänger um die Hecke herum, um das Loch darin von der anderen Seite zu finden. Das GPS funktionierte, aber er fand die Öffnung nicht. Jetzt war er vollständig überzeugt.
Sollte er jemandem davon erzählen? Er brannte darauf, dieses Wissen mit anderen zu teilen, aber er wusste was dann geschehen würde: Seine Forscherkollegen würden mitleidig lächeln und ihn, den offenbar verrückt Gewordenen, schneiden. Stattdessen würden Esoterik-Jünger, Psi-Anhänger, Ufologen, Exorzisten und so genannte Grenzwissenschaftler wie Heuschrecken einfallen, durch seinen Wald latschen und ihm die Magie stehlen. Solchen Idioten war es noch immer gelungen, einem unerklärlichen Phänomen den Zauber zu nehmen, indem sie Geister, Seelen aus dem Totenreich, kleine, grüne Aliens oder gar den Teufel dafür verantwortlich machten.
Er beschloss, die Klappe zu halten.
Aber vielleicht wollte der Wald ja auch gar nicht, dass andere von ihm erfuhren, vielleicht verhinderte er es selbst. Er erinnerte sich an den Katastrophenabend, den er mit Simone Faust hier verbracht hatte. An diesem Tag hatte die Lichtung ganz gewöhnlich ausgesehen, überhaupt nicht magisch. Hatte sich der Wald etwa getarnt?
Simone war eine brillante Wissenschaftlerin und kluge Frau. Er konnte sie sich einfach nicht so desorientiert vorstellen, dass sie den Weg zu seiner Lichtung nicht finden könnte. Hatte der Wald den Wildpfad, der dorthin führte, vor ihr verborgen?
Unsinn, rief er sich zur Ordnung. Aber innerlich glaubte er nun daran, dass sein Wald ein Wesen war, das einen Willen und einen Plan besaß, einen Plan für ihn, Mathias Brauner, denn er war anscheinend der einzige Mensch, dem er Zutritt gewährte.
Die Veränderungen waren schleichend, und es dauerte lange, bis er sie wahrnahm. Zuerst änderten sich die Farben der Pflanzen fast unmerklich. Sie wurden satter, leuchtender, verloren ihren unbunten Anteil: Dunkelbraun spielte ins Violette, Hellbraun ins Orange. Das Grün der Wiese veränderte sich zu Blaugrün, das Rosa der blühenden Clematis, die sich an seinem Baum hinauf wand, war bald zu einem kräftigen Purpur geworden. Die Rinde von Barry White wirkte noch plastischer und durchscheinender.
Schließlich merkte Brauner, dass es die Qualität des Lichtes war, die sich verändert hatte und alles verändert aussehen ließ. Der Tageshimmel war dunkler geworden, hatte die Farbe von Lapislazuli angenommen.
Dann tauchten zum ersten Mal Tiere und Pflanzen auf, die er nicht kannte: eine neue, bunte Sorte kugeliger Fische mit wehenden, wallenden Flossengespinsten, die in ein Korallenriff gepasst hätten, nicht aber in einen Teich in einem deutschen Wald, handtellergroße Insekten mit zarten, bläulich schimmernden, libellengleichen Flügeln, offenbar harmlose Nektarsauger, eine wie ein Zebra schwarz-weiß gestreifte Eidechse mit einem dritten Auge mitten auf der Stirn. An dem Bach hatte sich eine blühende Staude ausgebreitet, die er nie zuvor gesehen hatte, und in seinem Baum wuchsen auf einmal orchideenähnliche Epiphyten und Bromelien, Pflanzen, die nach Südamerika gehörten, aber nicht hierher.
Er wurde beobachtet.
Das Wesen verbarg sich im Schatten. Es war nervös. Würde sich der Mensch an die neue Umgebung gewöhnen, oder war sie ihm unheimlich? Jeden Abend, wenn er zurückkehrte in seine Welt, zweifelte es, dass er wiederkommen würde. Doch er kehrte stets in den Wald zurück, neugierig, aber auch aufs Äußerste verunsichert. Das Wesen beobachtete, wie der Mensch bei unerwarteten Geräuschen zusammenzuckte und sich misstrauisch umsah. Eines Tages brachte er ein kleines Gerät mit, mit dem er die Zeit einfror und als Momentbild auf einen kleinen Leuchtschirm auf der Rückseite dieses Foto-Apparats bannte. Offensichtlich traute er seinen Augen nicht. Als er das Ergebnis sah, schüttelte er verwirrt den Kopf, fummelte eine Weile an dem Apparat herum, dann machte er erneut ein paar Bilder. Wieder betrachtete er sie auf dem Ding, dann fluchte er und steckte den Apparat weg. Er verließ die Falle und ging zurück in seine Welt. Noch könnte das ahnungslose Opfer ihr entkommen, aber nicht mehr lange. Bald würde sie zuschnappen.
Brauner fluchte. Anscheinend war der Autofokus kaputt. Die Bilder waren alle hochgradig unscharf und unbrauchbar. Die 300 Seiten des Handbuchs seiner neuen Digitalkamera offenbarten zwar eine Fülle von Funktionen, die kein Mensch brauchte – man konnte kleine, pixelige Filmchen damit drehen, Fotos per Email verschicken, zwischen 10 Motivprogrammen wählen, die Bilder mittels digitaler Effekte verfremden –, aber die Schärfe manuell einstellen, konnte man nicht. Er würde sie zurückbringen und gegen eine mit weniger Funktionen überladene umtauschen. Ärgerlich, dass er seine analoge Spiegelreflexkamera bei Ebay für nen Appel und en Ei verkloppt hatte.
Heute kam er erst kurz vor Dämmerung dazu, sein Refugium aufzusuchen, bewaffnet mit einer Taschenlampe und einer halben Flasche Wein. Er betrachtete es als eine Mutprobe, wollte bleiben, bis es dunkel war. Der Wald war bisher ein Ort gewesen, in dem er sich glücklich und zufrieden gefühlt hatte. Zum ersten Mal empfand er jetzt eine gewisse Unbehaglichkeit. Er wusste, warum: Er, der rationale Wissenschaftler, hatte große mentale Schwierigkeiten damit, die Magie des Waldes zu akzeptieren. Die von der kognitiven meist unterdrückte intuitive Hemisphäre seines Gehirns bestand aber auf ihrer Deutung, und dieser Konflikt war die Quelle seines Unwohlseins. Ihm war klar, er würde es nur überwinden können, wenn es ihm gelänge, den Zauber dieses Orts ganz anzunehmen. Also hatte er sich eine Verhaltenstherapie verordnet. Sie bestand in einer Konfrontation mit dem Objekt seiner Angst: der zunehmenden Fremdartigkeit seines Waldes.
Es war nicht etwa so, dass die Lichtung und ihre Umgebung jetzt weniger schön, weniger friedlich, weniger idyllisch war als früher. Nach wie vor wirkte sie nicht bedrohlich. Sie war ihm nur nicht mehr vertraut. Er musste sich an die Veränderung gewöhnen, um sein Refugium wieder richtig genießen zu können.
Er saß auf seiner Bank und beobachtete, wie der lapislazuliblaue Himmel, über den einige rosa Wolken zogen, sich allmählich tiefblau färbte. Dann wurden die ersten Sterne sichtbar. Sie glitzerten wie Diamantstaub auf Samt. Aber sie waren viel zu hell und ergaben keines der gewohnten Sternbildmuster! Ein Schauer rieselte seinen Rücken herab, als ihm bewusst wurde: Dies war nicht der irdische Nachthimmel.
Die Zahl der Gestirne nahm zu, als die Nacht immer dunkler wurde. Inmitten der glitzernden Pracht Abertausender Einzelsterne leuchtete eine riesige, zunächst wolkig homogen wirkende Linse auf, die sich über die halbe Hemisphäre erstreckte, heller wurde, sich schließlich in Strukturen auflöste, als seine Augen sich besser an die Dunkelheit angepasst hatten. Es war eine gewaltige Spirale, schräg von oben betrachtet. Brauner wurde klar, dass er die Milchstraße oder eine andere Galaxie aus der Perspektive eines Sternes sah, der außerhalb dieser Welteninsel lag.
Der Mond ging auf. Er hatte keine Ähnlichkeit mit dem irdischen, war viel kleiner, unregelmäßig wie eine Kartoffel und zerfurcht wie das Gesicht des legendären Gangsters Scarface. Ein zweiter, etwas größerer und rundlicher Trabant tauchte über den Baumkronen auf. Er war sehr hell und ließ die Sterne in seiner Umgebung verblassen. Brauner nahm einen tiefen Schluck aus seiner Rotweinflasche. Zitternd stand er auf, schaltete die Taschenlampe an und wankte nach Hause.
Nach drei Nächten, in denen er Stunden auf der Lichtung verbracht hatte, empfand er keine Furcht mehr. Er machte sich daran, das Rätsel zu lösen. Zuerst sollte er herausfinden, wo er war. Er lieh sich in der Unibibliothek einige Astronomiebücher, nahm seinen Feldstecher mit und durchmusterte den Sternenhimmel. Er entdeckte zwei weitere unregelmäßige Galaxien in der Nähe der großen Sterneninsel und eine weitere Spirale ein Stück weit entfernt. Eine räumliche Darstellung der so genannten lokalen Gruppe – also der näheren Umgebung der Milchstraße mit der kleinen und der großen Magellanschen Wolke und dem Andromedanebel passte sehr gut zu seinen Beobachtungen. Also befand er sich hier tatsächlich außerhalb der irdischen Heimatgalaxis, die sich dominierend über den hiesigen Himmel erstreckte. Aber wie war er hierher gekommen?
Die Frage wurde völlig bedeutungslos, als er dem Kobold begegnete.
Er stand am Rand der Lichtung, mitten im Mondlicht, das durch eine Lücke im Blätterdach wie ein Scheinwerferspot auf ihn fiel. Nicht größer als ein sechsjähriges Kind war er, besaß einen pummeligen, silbergrau bepelzten Körper mit dünnen Ärmchen und krummen, kurzen Beinen. An seinem Kopf, überproportioniert und rund, spielten große Rehohren. Sein Gesicht wies menschliche Züge auf: eine Mischung aus denen eines Greises und eines Kleinkindes. Riesige Eulenaugen leuchteten im Mondlicht, eine Stupsnase saß auf einer vorspringenden Schimpansenschnauze, eingerahmt von ledrigen Falten. Das Wesen erinnerte Brauner entfernt an den Jedi-Meister Yoda aus Starwars.
Der Kobold betrachtete sein menschliches Gegenüber unerschrocken, hob die Hand und winkte zum Gruß. Dann war er verschwunden.
Am nächsten Tag traf er ihn wieder. Brauner hatte sich nach dem Schock ein paar Tage frei genommen. Zurzeit waren Semesterferien, sodass er keine Vorlesungsverpflichtungen hatte. Er konnte sich einfach nicht auf seine Arbeit konzentrieren, musste immerzu an den Kobold denken.
Diesmal begegnete er ihm am helllichten Tag, wieder am Rand seiner Lichtung. Erneut winkte ihm das Wesen zu und abermals verschwand es. Doch heute folgte ihm Brauner. Mit klopfendem Herzen ging er dorthin, wo der Kobold gestanden hatte und noch ein Zweig zitterte, den das fremdartige Wesen beiseite gedrückt hatte. Er sah es kaum dreißig Meter entfernt am Bach entlang huschen. Der Kobold rannte zwar nicht, ging aber mit kleinen Trippelschritten, so, als ob er Brauner entfliehen wollte, doch auf seinen kurzen Beinen kam er nicht schneller voran als sein Verfolger. Brauner rief ihn an, aber das Wesen blieb nicht stehen. Es schien keine Angst vor ihm zu haben, eher hatte die Verfolgungsjagd etwas Neckisches, wie ein kindliches Versteckspiel.
Sie erreichten den Basaltfelsen. Der Kobold flitzte wie ein Affe die beinahe senkrechte Wand neben dem herabstürzenden Bach hinauf, sprang seitwärts und verschwand in der Höhle, aus der die warme Quelle entsprang. Brauner blieb ratlos stehen. Dort kam er nicht hinauf. Davon abgesehen, hatte er auch gar keine Lust, dem Wesen ins Dunkel zu folgen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, ohne dass der kleine, haarige Wicht wieder aufgetaucht wäre, ging er nach Hause.
Er war entschlossen, den Kobold zu stellen. Dieses Mal war er vorbereitet: Seine Ausrüstung bestand aus einer ausziehbaren Leiter, einer gummiarmierten, wasserdichten Taschenlampe mit einem Satz frischer Batterien, einem mit Blei beschwerten Fischernetz, das, mitten im Rheinland aufzutreiben, ihn fast einen ganzen Tag gekostet hatte, und seinem schärfsten und größten Küchenmesser. Das alles hatte er auf seinen Bollerwagen geladen, den er bis zu dem Felsen zog.
Der Kobold hatte nicht gefährlich ausgesehen, aber wer wusste es schon: Vielleicht wartete in der Höhle ein Dutzend oder mehr dieser Aliens – Brauner war sicher, dass es sich um eine extraterrestrische Lebensform handelte – auf ihn.
Es kostete ihn viel Mühe und Schweiß, die lange dreifach ausziehbare Leiter aufzubauen und sicher an den nassen, glitschigen Fels anzustellen. Dann hängte er sich das Netz auf den Rücken, steckte das Messer in eine provisorische Scheide am Gürtel, die er sich aus dickem Pappkarton angefertigt hatte, und kletterte mit der Taschenlampe in der Hand hinauf. Es war mühsam, weil er nur eine Hand frei hatte, und nicht ungefährlich, da der kleine Wasserfall auf ihn herabprasselte und ihn von der Leiter zu reißen drohte. Er sah kaum etwas und hatte Mühe zu atmen. Zum Glück war das Wasser angenehm warm. Völlig durchnässt kletterte er in die Höhle, schob sich auf Händen und Knien vorwärts, bis sie sich erweiterte, sodass er aufstehen konnte. Er schaltete die Taschenlampe ein und sah sich um.
Neben ihm floss der Bach, der sich am Boden des Tunnels schlängelte und hinter der nächsten Biegung verschwand. Brauner folgte ihm, die Lampe in der linken, das gezückte Messer in der rechten Hand. Seine Haare hätten sich gern gesträubt, würden sie nicht klatschnass an seinem Schädel kleben. Sein Puls raste wie der von Jan Ullrich, wenn er versuchte, dem leichtfüßigen Lance Armstrong zum Galibier hinauf zu folgen, sein Atem ging stoßend. Vor der Biegung sammelte er sich noch einmal, dann sprang er um die Ecke, stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Vor ihm erstreckte sich ein Schacht in die Höhe, dessen schwarze Basaltwände vom Schimmer eines Wasserfilms überzogen waren: dampfendes Wasser, das aus Poren und Rissen trat und sich am Boden in einem Becken sammelte, aus dem der Bach entsprang. Inmitten des quellenden Wasserdampfes saß der Kobold auf einem Felsbrocken, schaute ihn grinsend an und sagte in akzentfreiem Deutsch:
„Willommen in der Sauna, Mathias Brauner. Bitte stecke doch dein Messer weg. Wir sind Freunde.“
Der menschliche Besucher war unfähig zu antworten. Eine Minute stand er verdattert da, trotz der Wärme zitternd. Wen hatte der Kobold gemeint, als er von wir sprach: ihn und Brauner, oder verborgene Artgenossen? Er warf einen raschen Blick in die dunklen Ecken des Schachts. Soweit er sehen konnte, war das Wesen allein. Er senkte das Messer, behielt es aber weiter in der Hand. Mit der Taschenlampe leuchtete er dem Kobold direkt in die Augen. Das Wesen musste geblendet sein, dennoch wandte es den Blick nicht von ihm.
„Ich verstehe, dass du misstrauisch bist, aber dazu besteht kein Anlass. Wir wollen dir nichts Böses. Wir haben gedacht, du würdest dich hier wohl fühlen, da du ja gerne saunierst, deshalb haben wir uns mit dir an diesem Ort getroffen, aber anscheinend war das keine gute Idee. Was hältst du davon, wenn du nach Hause gehst, dir trockene Sachen anziehst, und wir uns dann auf der Lichtung treffen? Wir müssen uns wirklich mal unterhalten.“
Brauner sagte immer noch kein Wort. Langsam zog er sich zurück, den Kobold im Auge behaltend. Kaum war er hinter der Biegung verschwunden, rannte er los.
Eine ganze Woche lang wagte er sich nicht mehr in den Wald.
War es war zu früh gewesen? Sie hatten den Menschen Brauner verschreckt. Vielleicht war er noch nicht reif für die Begegnung mit ihnen. Dabei hatten sie länger gewartet, als bei den anderen Menschen, waren diesmal geduldiger gewesen. Aber Brauner besaß weder die Härte und Unerschrockenheit eines Thog Mahd, des Clan-Führers der Steinzeitmenschen, nicht die Weitsicht der Echnaton-Gattin und Pharaonin Nofretete, nicht die Klugheit der Zauberin und Odysseus-Verführerin Circe, noch war er so mutig und neugierig wie Jean de Brébeuf, der Jesuit, der im sechzehnten Jahrhundert angeblich am Marterpfahl der Huronen sein Leben gelassen hatte. All diese Menschen – und viele andere, vor der Geschichte namenlose, aber ebenso wertvolle – hatten sie gefangen. Brauner noch nicht.
Sie konnten nur hoffen, dass er wiederkommen würde. Andernfalls wäre alle Mühe umsonst gewesen.
Brauner kam wieder. Neugier und die tiefe Verbundenheit zu seinem Refugium lockten ihn zurück. Als er die Lichtung betrat, wartete der Kobold schon auf ihn. Er saß auf einer dicken Wurzel unter Barry White und deutete einladend auf die Bank.
„Schön, dass du gekommen bist, Mathias Brauner.“
Brauner setzte sich, ohne das Wesen für einen Augenblick aus den Augen zu lassen.
„Wer bist du, und wie heißt du?“, fragte er.
„Wir haben keine Namen. Aber nenne uns wie du willst. Du bist ja ganz gut im Erfinden von Namen.“
„Uns? Sind noch mehr deiner Sorte hier?“ Brauner sah sich misstrauisch um.
„Wir sind…“, der Kobold zögerte für einen Augenblick, runzelte die Stirn, als schien er zu überlegen, „rund 7,4 mal 10 hoch 17 – das sind also 740 Tausend Milliarden Individuen – und sitzen alle vor dir. Komisch, diese Frage haben wir uns selbst noch nie gestellt. Entschuldige die Verzögerung, aber wir mussten es erst ausrechnen.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Nichts liegt mir ferner, Mathias. Es muss wirklich verwirrend für dich klingen. Lass es mich erklären. Dazu muss ich jedoch weiter ausholen. Bist du bereit, mir auf eine Reise durch Raum und Zeit zu folgen?“
„Leg los, Yoda, ich bin ganz Ohr.“
„Also hast du mir einen Namen gegeben. Yoda passt sehr gut, danke.“
„Du weißt, wer das ist?“
Der Kobold grinste.
„Wir viel über die Menschheit wissen und das, was sie liebt. Vielleicht uns das Wesen Yoda sogar ein Vorbild gewesen ist für die Gestalt, die angenommen wir haben für dich. Um es zu erklären dir, müssen erst testen wir dein Vorwissen“, sprach er im Tonfall und der perfekten Diktion der Kunstfigur aus den Starwars-Filmen, und fuhr dann mit normaler Stimme fort: „Ahnst du, wo du dich befindest?“
„Nun ja, wahrscheinlich auf einem fernen Planeten außerhalb der Milchstraße. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin, aber…“
„Das ist nicht ganz richtig. Hast du schon einmal den Begriff Multiversum gehört?
„Ich bin kein Astrophysiker. Mein Wissen auf diesem Gebiet ist sehr begrenzt. Darunter versteht man wohl eine sehr spekulative Theorie, nach der die Welt aus unzähligen Universen besteht, in denen jeweils unterschiedliche Naturkonstanten gültig sind. Jedes dieser Universen besitzt seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit. Einige von ihnen könnten unseres sogar durchdringen, ohne dass wir nur das Geringste davon merken.“
„Exzellent. Das erspart mir eine langwierige Erklärung. Weißt du denn, was es mit den unterschiedlichen Naturkonstanten auf sich hat?“
„Nur rudimentär: Unsere Welt ist so, wie sie ist, weil in unserem Universum dieser Satz von Naturkonstanten gültig ist. Wären sie auch nur um wenige Prozent anders, könnte es öd und leer sein, ohne eine Spur von Leben.“
„Du hast Recht, Mathias Brauner. Tatsache ist, dass es dieses Multiversum wirklich gibt. Es besteht aus Milliarden und Abermilliarden verschiedener Universen, keines gleicht exakt einem anderen. Die allermeisten sind tatsächlich ziemlich leer, es gibt nicht einmal Atome oder gar chemische Verbindungen in ihnen, nur Photonen und Elementarteilchen. Einige sind deinem Universum aber ähnlich. In nur ganz wenigen sind die Naturkonstanten so, dass Leben möglich ist, aber dort, wo dies der Fall ist, ist das Leben geradezu explodiert. Allerdings ist die Evolution in den belebten Universen sehr unterschiedlich verlaufen. Deshalb sind wir so fasziniert vom Leben in deiner Welt. In unserer gibt es keine Metazoen.“
„Metazoen? Du meinst mehrzellige Lebewesen?“
„Ja, in unserem Universum entstanden nur Protozoen, also einzellige Lebensformen.“
„Auf die Gefahr, mich zu wiederholen: Du nimmst mich doch auf den Arm, oder? Willst du allen Ernstes behaupten, du stammtest aus einem anderen Universum? Und meinst du wirklich, ich nehme dir den Unsinn von den Einzellern ab? Ich sehe doch, dass ein komplexes Wesen vor mir sitzt.“
„Bitte erschrick jetzt nicht“, sagte der Kobold und löste sich in eine Staubwolke auf, die sich verdünnte und verschwand. Brauner sprang auf.
Sekunden später war das Wesen wieder da.
„Du siehst ein ganzes Volk aus 3 Mikrometer großen Einzellern vor dir, Mathias Brauner, jetzt wieder komprimiert zu einer festen Form. Wenn wir unseren Abstand zueinander vergrößern, kannst du uns nicht mehr wahrnehmen. In unserem Universum hat sich das Leben völlig anders entwickelt: Am Anfang gab es nur isolierte Protozoen. Wir waren eine Art davon und standen so ziemlich am Ende der Nahrungskette. Eine Amöbe hätte, verglichen mit einem einzelnen von uns, die erschreckenden Ausmaße eines Flugzeugträgers. Nur unsere schiere Zahl hat uns vor dem Aussterben durch unsere Fressfeinde bewahrt.
Fast zwei Milliarden Jahre haben wir gebraucht, bis wir die Vorzüge der Vernetzung entdeckten. Wir haben zuerst Kolonien von ein paar Tausend, dann ein paar Millionen gebildet, Bioklumpen, die sich auf diese Weise an die bei uns herrschenden Lebensbedingungen angepasst haben. Als die Kolonien mehrere Milliarden Zellen erreichten, entstand so etwas wie ein rudimentäres Bewusstsein, bei der Zellanzahl und Vernetzungsstärke des menschlichen Gehirns entwickelten wir Intelligenz. Das war vor sechs Milliarden Jahren. Inzwischen sind wir einige Schritte weiter. Vor etwa 100 Millionen Jahren haben wir das Universum verstanden und die Weltformel gefunden. Seitdem können wir Portale schaffen, die die Universen verbinden.“
„Ihr habt die Weltformel gefunden? Die Gleichung, die alles erklärt, die große Vereinigungsformel aller Kräfte, die die Welt zusammenhalten? Dann gibt es für euch nichts mehr zu erforschen. Ihr steht am Ende jeglicher Erkenntnis. Verzeihung, wenn ich respektlos bin, aber das halte ich für überheblich. Dafür fordere ich einen Beweis.“
„Verzeih mir, wenn ich jetzt respektlos klinge, Mathias, aber den Menschen die Weltformel zu erklären, ist zurzeit noch ein aussichtsloseres Unterfangen als einem Schimpansen die Schrödinger-Gleichung oder die allgemeine Relativitätstheorie verständlich zu machen. Ihr seid noch nicht soweit.“
Brauner war verstimmt, dass ihn das Wesen für begriffsstutziger als einen Menschenaffen hielt, aber er musste zugeben, dass er die allgemeine Relativitätstheorie nicht wirklich verstand, obwohl er Physik studiert hatte. Und die Weltformel: Natürlich hatte er von Stringtheorie, Super-Gravitation, Brane-Hypothese und anderen mathematischen Konstrukten gehört, die den Weg zur Theorie der vereinheitlichten Kräfte, zur Supersymmetrie und damit zur Weltformel weisen sollten. Er verstand allerdings nicht die Bohne davon und wusste nur, man war noch Lichtjahre von der großen Vereinigung entfernt. Dennoch zweifelte er daran, dass das Wesen – nein: die Wesen, korrigierte er sich – wirklich alles über die Welt wussten. Yoda schien ihm seine Skepsis anzusehen:
„Du findest es wahrscheinlich arrogant, wenn wir behaupten, die Welt bis ins Einzelne verstanden zu haben, Mathias. Aber bedenke: wir haben dafür fast sechs Milliarden Jahre gebraucht. Als wir die kognitiven Fähigkeiten erreichten, die die Menschen heute besitzen, gab es die Erde noch nicht einmal! Die Menschheit existiert erst seit etwa zwei Millionen Jahren, das ist ein Dreitausenstel der Zeitspanne, in der wir die Welt erforschen. Dennoch wissen wir natürlich nicht alles, ja: das Entscheidende ist uns immer noch verborgen! Wir kennen zwar die Weltformel, können aber nicht sagen, welche ihrer Lösungen die richtige ist.“
„Tut mir leid, aber das geht über meinen Horizont.“
„Die Weltformel ist eine gar nicht mal so komplexe Differentialgleichung und hat, rein mathematisch betrachtet, eine endliche Menge von Lösungen. Die allermeisten davon sind aber unsinnig, denn sie führen nicht zu einem Multiversum der Art, wie es nachweislich existiert. Andere Lösungen stimmen nicht mit Details dieses Multiversums überein, scheiden also auch aus. Übrig bleiben nur zwei Lösungen, die haargenau zu der Welt führen, in der wir leben.“
„Jetzt verstehe ich: du – darf ich dich weiter Yoda nennen und als Individuum betrachten?“ Der Kobold nickte. „– du weißt also nicht, welche der beiden Lösungen für das Multiversum und seine Entstehung verantwortlich ist. Ist das denn relevant? Ich meine, wenn beide Lösungen die Welt gleichgut erklären…“
„Es ist sogar außerordentlich relevant. Vielleicht verstehst du es, wenn ich dir die Lösungen beschreibe:
Die eine ist sehr kompliziert, geradezu verdreht, voller willkürlicher Annahmen. Menschliche Mathematiker würden sie als hässlich bezeichnen. Nach dieser Lösung ist die Welt eine Laune des Zufalls, ein klumpiger Auswurf des Chaos’, ein Haufen Dreck, der die Reinheit des Nichts verunreinigt, herausgewürgt ohne Anlass, Sinn und Plan.
Die andere Lösung ist wunderbar symmetrisch, einfach, ästhetisch, aber sie setzt etwas voraus, von dem wir weder wissen, ob es existiert, noch jemals beweisen können, dass es da ist: eine zweite Realitätsebene neben der energetisch materiellen. Du würdest sie wahrscheinlich als spirituell bezeichnen.“
„Du meinst, diese zweite Lösung ist – Gott?“
„Das ist bloß ein Name, den ihr benutzt, die ihr an eine personifizierte Schöpfungskraft glaubt. Aber du hast schon Recht, Mathias: die meisten vernunftbegabten Wesen in den zahllosen Welten des Multiversums glauben an Gott, oder wissenschaftlich ausgedrückt: an die ästhetische Lösung der Weltgleichung. Nur: Es gibt keinen Beweis dafür und kann niemals einen geben. Die andere, die hässliche Lösung ist mathematisch gleich wahrscheinlich. Dennoch ist es natürlich von erheblicher Relevanz für unser Tun und Lassen, ob wir an die hässliche Lösung glauben, die aus rein wissenschaftlicher Sicht den unbestreitbaren Vorteil hat, dass man die ‚willkürliche’ Annahme einer unbeweisbaren zweiten Existenzebene jenseits von Materie und Energie, jenseits von Zeit und Raum, einer mit unseren Sinnen nicht erfassbaren und mit Messinstrumenten nicht nachweisbaren Parallelwelt, nicht benötigt. Dann wären wir aber nur vermehrungsfähige Zellklumpen, angefüllt mit Protoplasma, Reagenzgläser einer chaotischen Natur, in denen chemische Reaktionen und elektrische Vorgänge ablaufen, die uns vorgaukeln, wir hätten ein Bewusstsein, ein Ich oder besäßen irgendeinen Sinn und Wert. Zwar messen Existenzialisten wie euer Sartre der menschlichen Existenz auch ohne Gott einen sinnhaften Selbstwert zu, aber nur deshalb, weil auch sie ohne Sinn nicht leben können.
Wenn man hingegen an die „göttliche“ Lösung der Weltgleichung glaubt – ich sage bewusst: glaubt, denn ein Beweis ist a priori nicht möglich – dann muss man akzeptieren, dass es so etwas wie einen Masterplan gibt, der uns Aufgaben zuweist.
Wir sind eine der ältesten vernunftbegabten Spezies – jedenfalls in unserem protozoischen Universum – und glauben an diese zweite Lösung der Gleichung. Wir nennen sie nicht Gott, sondern Harmonie – aber das ist auch nur ein Wort. Wir glauben, dass die Materie irgendwann erkalten und erstarren, die Energie sich verstreuen und verflüchtigen, der Raum zeitlos und bezugslos wird, das Leben, als wichtigste und letztliche Ausprägung der Existenz, aber überleben muss und wird, und zwar auf der nichtmateriellen Parallelebene.
Wir sehen uns als Hüter des Lebens, als Heger und Pfleger. Das ist die Aufgabe, die uns der Masterplan der Schöpfung zugewiesen hat – so glauben wir wenigstens. Siehst du, Mathias: es ist alles eine Frage des Glaubens. Selbst nach sechs Milliarden Jahren währender Steigerung unserer kognitiven Fähigkeiten, wissen wir das Entscheidende immer noch nicht, werden es vielleicht nie wissen. Wer von uns ist also die intelligentere Spezies? Wir, die nach Äonen immer noch auf vagen Spuren einem Prinzip oder Wesen namens Gott hinterherhetzen, oder ihr Menschen, deren intellektuelle Entwicklung gerade erst begonnen hat? In der wichtigsten aller Fragen sind wir kein Stück weiter als ihr.“
Brauner schwieg für einige Minuten. Das musste er alles erst einmal verdauen. Schließlich fragte er:
„Heger und Pfleger des Lebens?“
„Wir beobachten das Leben überall, in allen Universen, die es in sich tragen. Wenn es irgendwo droht, zugrunde zu gehen, dann greifen wir ein, soweit wir es nach unseren Gesetzen dürfen. Wir sind nicht befugt, die Lebensgrundlagen zu reparieren oder zu optimieren, wir dürfen nur bewahren.“
„Und wie läuft das ab?“
„Nehmen wir an, auf einer Welt gerät das Leben in Gefahr, dann nehmen wir seinen Samen und bringen ihn auf eine andere Welt, wo es neu gedeihen kann, falls es auf seinem alten Planeten wirklich ausstirbt. Wir versuchen dabei, keine optimierte Auswahl zu treffen. Wir wollen weder bestimmte Fähigkeiten fördern, noch Eigenschaften, die wir für fehlerhaft halten, ausmerzen.“
Ein unangenehmes Gefühl machte sich in Brauners Gedärmen breit, der körperliche Vorläufer einer Ahnung, warum er hier war. Er starrte Yoda schweigend an, wartete auf die Erklärung:
„Ja, ich sehe es dir an, Mathias. Du hast es verstanden: Das Leben auf der Erde ist in Gefahr. Noch ist die Bedrohung nicht unmittelbar, aber sie kommt immer näher. Wir beobachten euch Menschen schon, seit der erste Australopithecus durch Ostafrika streifte. Wir zeichneten eure Entwicklung auf und sahen, dass ihr eines Tages eine Gefahr für die Biosphäre eures Planeten werden könntet. Vor etwa 100000 Jahren begannen wir damit, irdische Lebewesen zu sammeln, solche, die bereits ausgestorben sind, und andere, bedrohte, für den Fall der Fälle. Noch haben die Menschen eine Chance, Mathias. Noch können sie mit allen Kräften zurückrudern gegen die reißende Strömung, die ins Verderben führt. Wenn dies nicht innerhalb der nächsten zweihundert Jahre gelingt, wird zwar das Leben als Ganzes nicht aussterben, aber ein sehr großer Teil davon. Die Gletscher in Arktis und Antarktis werden abschmelzen, ein Drittel der Landmasse wird verschwinden, Unwetter und Stürme werden Gewalten entwickeln, gegen die eure heutigen Hurrikane und Taifune laue Lüftchen sind, fruchtbare Landstriche werden versteppen und verwüsten, Schlammlawinen werden aus den Bergen kommen und Dörfer und Städte unter sich begraben. Die überfischten Weltmeere werden nahezu tot sein, es werden täglich Millionen Menschen verhungern. Hochgefährliche Viren, die noch in den noch unberührten Teilen der Regenwälder schlummern, werden sich verbreiten und tödliche Epidemien auslösen, gegen die es keine Impfstoffe und keine Medikamente gibt. Ebola und Aids, die ja auch aus dem zentralafrikanischen Dschungel kamen, sind die ersten Vorboten weit schlimmerer Krankheiten. Das alles wisst ihr und geht dennoch sehenden Auges in euren Untergang.“
Brauner bekam einen hochroten Kopf. Er fühlte sich ertappt, als hätte er in persona all diese Fehler der Menschheit begangen, sei für das von Yoda geschilderte Armageddon allein verantwortlich.
„Eure Chancen, die Sache noch zum Guten zu wenden, liegen immer noch bei 76%. Das alles muss also nicht so kommen“, fuhr das Gnom-artige Wesen fort.
„Aber wenn es doch geschieht, dann werdet ihr wenigstens nicht aussterben. Wir haben vorgesorgt – wie der biblische Noah.
Willkommen auf der Arche, Mathias.“
„Moment mal. Soll das heißen…“
„Ja, das soll es heißen. Du bist eines der Lebewesen, die für den Fall der Fälle in Sicherheit gebracht wurden. So wie die Menschen es tun, indem sie vom Aussterben bedrohte Tiere in geschützte Reservate und zoologische Gärten bringen.“
„Aber wir sind keine Tiere! Ihr könnt uns nicht einfach in einen Käfig sperren!“
„So? Seid ihr das nicht? Wir glauben nicht, dass die harmonische Lösung der Weltgleichung qualitative Unterschiede beim Wert des Lebens macht. Ihr mögt euch für die Krone der Schöpfung halten, aber ihr wisst nicht, dass euer Universum vor Leben überquillt, Leben, das euch fremdartig und Furcht einflößend erscheinen müsste, solltet ihr ihm je begegnen. Manche dieser anderen Spezies würden euch Demut lehren, euch klar machen, dass ihr wirklich nichts Besonderes seid.
Und das hier, Mathias Brauner“, Yoda machte eine weltläufige Geste, „ist auch kein Käfig, sondern eine ganze, unberührte, unverdreckte, nicht vergewaltigte Welt voller Schönheit, die wir dir schenken. Du solltest dankbar sein.“
„Wo bin ich hier?“ fragte Brauner mit zittriger Stimme.
„In einem Universum, das dem deinen ganz ähnlich ist. In einem Sonnensystem, dessen Zentralgestirn ein Stern der Spektralklasse G ist, der gleichen Klasse, zu der auch eure Sonne gehört. Auf einem Planeten, der in einem Abstand von etwa 150 Millionen Kilometer um dieses Zentralgestirn kreist, eine Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre und eine Gravitation von 0,98 g besitzt. Zwei Monde stabilisieren seine Achse, sodass es keine schnellen und das Leben abtötenden Klimaverschiebungen gibt, eine Ozonschicht schützt vor UV-Strahlung und ein Magnetfeld vor kosmischer Strahlung. Er hat alles, was das Leben braucht, um zu gedeihen und sich zu entwickeln. Er ist das Paradies, das früher auch die Erde war.“
Brauner war benommen. In seinem Schädel summte es wie in einem Hornissennest, und Yodas Worte drangen gedämpft wie durch Watte in sein Bewusstsein, entfalteten sich dort, und ihre Bedeutung hallte in ihm wieder wie Gewitterdonner.
„Warum gerade ich?“ fragte er.
Das viel-ichige Wesen vor ihm lächelte. Jedenfalls verformten sich seine offenbar nur für Brauner modellierten Züge so, dass es aussah wie ein Lächeln.
„Eure Auswahl unterliegt dem Zufall, denn wir wollen ja nicht selektieren. Die meisten Erwählten sind ganz normale Menschen, Durchschnittstypen wie du – bitte entschuldige, das ist nicht despektierlich gemeint. Natürlich gibt es auch bekannte Namen, Prominente ihrer Zeit. Aber fast alle haben sich dasselbe gefragt: Was soll so Besonderes an mir sein, dass ich zu den Auserwählten gehöre? Es gibt doch bessere, fähigere Menschen als mich. Warum ich?
Wir sind froh, dass ihr so gedacht habt, selbst die besten unter euch, die außergewöhnlichsten, die charismatischsten. Die wenigen, die selbstgefällig glaubten, ihnen sei klar, warum wir sie erwählt haben, die sich als Teil einer Elite wähnten, die haben wir zurückgeschickt, nachdem wir ihr Gedächtnis an uns und diese Welt gelöscht hatten. Napoleon Bonaparte hat seinen Lebensabend auf St. Helena damit verbracht, darüber zu grübeln, wo die Tage und Stunden geblieben sind, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.
Nein, du bist nicht allein Mathias. Viele Tausende leben hier. Der ‚älteste’ Neubürger dieser Welt wurde vor 90000 Jahren in Südindien geboren. Er ist ein Steinzeitmensch, ein Ochse von einem Mann, der dich am ausgestreckten Arm in die Höhe halten könnte. Es hat nicht sprechen lernen können, denn sein Kehlkopf ist noch nicht weit genug entwickelt. Aber er versteht die anderen und beherrscht eine Zeichensprache, die du zusammen mit der gemeinsamen Sprache ebenfalls lernen wirst.“
„Gemeinsame Sprache?“
„Ich fürchte, du musst das große Latinum nachholen, Mathias Brauner. Du wirst Menschen der verschiedensten Epochen kennen lernen: aus dem griechischen Altertum, dem römischen Reich, aus Karthago, dem alten Ägypten, dem Mittelalter, der Neuzeit. Du wirst venezianische Kaufleute, Inka-Priester, Ritter und Edelfrauen aus der Minnezeit, chinesische Mammutjäger, eine afrikanische Matriarchin und die vielleicht klügste und großartigste Menschenfrau, die je gelebt hat, treffen – ihr Name ist Circe. Sie alle mussten sich das Altlatein aneignen, die Sprache, auf die sie sich nach längerem Disput geeinigt haben. Sie sind alle schon hier und warten auf dich.“
„Ich…ich kann nicht. Wer soll die Vorlesung halten? Wenn ich die Hypothekenraten nicht bezahle, wird mein Haus von der Bank zwangsversteigert. Meine Töchter… sie werden mich vermissen. Meine Frau bekommt Unterhalt von mir…“
Er merkte, was er für einen Unsinn stammelte.
„Also gut, aber ich muss noch einige Dinge holen: meine Bücher und meine Alben, den PC, den CD-Player, meinen Rasierapparat, die Zahnbürste…“
„Mathias! Hier gibt es keine Elektrizität. Wenn du Musik hören willst, dann lausche denen, die bereits Zupf-Instrumente aus Holz und Darm, Flöten aus Bambus und Trommeln aus Kürbissen und Tierfellen gebaut haben, oder lerne selbst, ein Instrument zu spielen. Wenn du lesen willst: Natürlich haben wir fast alle Bücher, die jemals geschrieben wurden, kopiert und hierher geschafft. Wir wollen nicht euer ganzes Wissen, eure Poesie und Prosa in Vergessenheit geraten lassen.“
„Aber ich muss noch einen Blick auf meine Welt werfen. Ich will noch einmal mein Haus sehen, den irdischen Himmel, die Sonne. Ein letztes Mal. Ich will nur Abschied nehmen“, log er, „dann komme ich zurück.“
Er rannte los, den Wildwechsel entlang, in Richtung zur Hecke. Er rannte und rannte, aber die Hecke tauchte nicht auf. Er rannte, bis ihm die Lunge zu platzen drohte. Plötzlich lichtete sich der Wald. Er blieb stehen. Neben ihm erschien Yoda, von dem er geglaubt hatte, er sei ihm entflohen. Der Kobold sah ihn mit seinen großen Augen traurig an.
„Es tut mir leid. Du kannst nicht mehr zurück. Die Membran zwischen den Universen ist nicht länger durchlässig. Aber sieh.“
Vor Brauner öffnete sich unter einem sanft abfallenden Hang ein Tal. Am Ufer eines schmalen Flüsschens standen Häuser, einfache Hütten vielmehr, aus Lehm und Stroh. Er sah Rinder, Hühner und Hunde, eine eingegatterte Ziegenherde – und Menschen, viele Menschen. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und unterschiedlichen Aussehens, in unterschiedlichster Kleidung. Eine Delegation von ihnen kam den Hang hinauf. Ihre äußere Erscheinung war von solcher Vielfalt, wie unüberwindbare Entfernungen und Jahrtausende währende Menschheitsgeschichte sie nur schaffen konnte, aber alle hatten etwas gemeinsam: ausgestreckte und nach oben gerichtete Handflächen und ein warmes Willkommenslächeln.
ENDE