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Der Würfel ist gefallen
Der Würfel ist gefallen
Jakob hatte schon immer eine Abneigung gegen Rechen, Spaten und all jene Geräte, die zur Gartenarbeit verwendet werden.
Nach dem Ableben seines Schwiegervaters trat er das Erbe der Gartenpflege im 1000 qm großen Schwiegerelternzweitgarten an und entwickelte seither eine regelrechte Phobie gegen alle Dinge mit Stielen und gekrümmten Enden.
An einem heißen Junitag entwurzelte er ein Gebüsch und spähte durch die Lücke, die es hinterlassen hatte.
Und sah IHN!
Es war ein Würfel; ein besonderer Würfel; ein großer Würfel.
Jakob schätze seine Maße auf eineinhalb Meter, aber schließlich stellte man eine Kantenlänge von 157,988 cm fest. Und er war knallrot.
An sich ist das Auftauchen eines knallroten, 157,988 cm großen Würfels in einem Garten schon recht merkwürdig. Doch dieser war eindeutig besonders merkwürdig.
Wie man später ermittelte, schwebte er exakt 157, 988 cm über dem Boden.
Jakob war nicht besonders erfreut. Solche Sachen verursachten Ärger und den konnte er gerade überhaupt nicht gebrauchen.
Er bewegte den Stiel seines Rechens um den Würfel, doch dieser schwebte tatsächlich frei in der Luft.
Sein Freund Andreas staunte, als ihm Jakob „seinen“ Würfel präsentierte. Andreas kannte sich zwar nicht mit Würfeln, aber mit Außerirdischen aus. Für ihn war klar, dass dieser eine Nachricht unserer interplanetarischen Nachbarn an die Erde darstellte.
Jakob zweifelte daran, denn das Ding tat gar nichts. Es leuchtete nicht, es kreiste nicht, es pulsierte nicht und gab auch keine verschlüsselten Botschaften von sich. Es war einfach nur da.
Auch Klaus, Vorstand des Schützenvereins und Frau Lindner, Direktorin der Grundschule, waren verwirrt, als sie das außergewöhnliche Objekt begutachteten. Selbst der zu Rate gezogene, ehemalige Professor von Frau Lindner fand keine Erklärung für das Phänomen. Seiner Meinung nach müssten nun Spezialisten den Würfel untersuchen.
Und die kamen dann auch, aus allen Disziplinen. Sie konnten zwar keine Resultate vorweisen, zerstörten jedoch mit ihren sonderbaren Geräten einen großen Teil des Gartens, worüber Jakob nicht unbedingt unglücklich war.
Selbst das örtliche Baugeschäft versuchte das Ding mit einem Bagger zu heben, doch der Würfel rührte sich nicht von der Stelle.
Da die Fachleute das Rätsel des bizarren Etwas nicht lösen konnten, zogen sich achselzuckend in ihre Labore zurück.
Andreas wunderte sich darüber. In den USA wäre wahrscheinlich eine für außerirdische Aktivitäten zuständige Sondereinheit angerückt.
Aber Niederbayern war ja auch kein Bundesstaat der Vereinigten Staaten.
Jakob war froh, dass die Wissenschaftler weg waren. Zwar hatte er wieder mehr Gartenarbeit, aber wenigstens seine Ruhe. Zumindest eine Weile.
Im Gemeindeblatt sowie in den „Niederbayrischen Neuigkeiten“ waren dem Würfel doch einige Zeilen gewidmet.
Daraufhin standen Neugierige an der Gartenzauntür und wollten den ungewöhnlichen Gegenstand sehen, wozu sich Jakob am Anfang gerne bereit erklärte. Dann kamen zu seinem Unmut immer mehr Interessierte, der Würfel schien im Internet eine Attraktion geworden zu sein.
Ein Kollektiv, das sich „Hüter des Kubus“ nannte, ließ sich an einem Abend nicht mehr von ihrem Kultobjekt wegbewegen. In Neuseeland (in der Nähe von Auckland) wäre das Ding bereits im September 2010 gesichtet worden. Damals wäre es jedoch lila gewesen. Dort hätte sich die Gemeinschaft gefunden und fortan ihr ganzes Dasein dem Würfel gewidmet.
Hexaeder war ihr geistiger Führer und überredete Jakob, die Nacht bei dem Heiligtum verbringen zu dürfen.
Am nächsten Tag verkündete Hexaeders Gefährtin auf Youtube, mit dem Würfel kommuniziert und eine Botschaft erhalten zu haben. Das Zeitalter spirituellen Umdenkens sei angebrochen und bald würde es auf der ganzen Welt nur noch Frieden und Liebe geben.
Die „Hüter des Kubus“ reisten ab, hatten aber durch ihren Internetauftritt viele Gleichgesinnte zum Aufsuchen des Heiligtums animiert.
Allmählich wuchs Jakob der ganze Rummel über den Kopf. Am liebsten hätte er den Würfel in den Sperrmüllcontainer geworfen, aber das Ding ließ sich ja leider nicht bewegen.
Klaus hatte die Idee „Würfelfremdenführer“ zu engagieren. Von den Würfelinteressierten könnte man für dieses spezielle Angebot 5 Euro Eintritt verlangen.
Frau Lindner und ihre Referendarin erklärten sich dazu bereit. Jakob ließ zum Verkaufen der Eintrittkarten ein kleines Häuschen bauen.
Die Direktorin wies Jakob darauf hin, dass es bei so vielen Menschen dringend erforderlich wäre, eine Verköstigung anzubieten, vielleicht sogar etwas Bayrisches. Und natürlich müssten weitere sanitäre Anlagen bereit gestellt werden.
Jakob besorgte zusätzliche Toilettenwägen und konnte Bertl, den Wirt des „urigen Bräustüberls“ dazu gewinnen, nebenher einen kleinen Biergarten zu betreiben. Als das Wetter schlechter wurde, stellte die einheimische Feuerwehr ihr Bierzelt zur Verfügung.
Klaus hatte die Idee, einen kleinen Souvenirladen zu eröffnen. Dort konnten die Gäste Postkarten, Bilder, Plüschwürfel und andere Andenken erwerben.
Bertl als einfallreicher Gastwirt erfand die „Würfelmaß“. In einem speziell angefertigten, rechteckigen Bierkrug würde das mysteriöse Gebräu serviert. Die Zutaten waren Bertls Geheimnis, aber bei übermäßigem Genuss fiel man mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Bierbank. Bei den Touristen fand das Spezialgetränk erstaunlicherweise wegen dieses Umstands hohen Zuspruch.
Mit dem nahenden Herbst wurde das Festzelt der Feuerwehr langsam unzweckmäßig. Jakob ließ eine große, stabile Scheune erstellen, in der Bertl auch eine Großküche unterbringen konnte.
Andreas konnte es immer noch nicht fassen, dass sich angesichts der Berühmtheit des Würfels und des hohen Touristenaufkommens wichtige Behörden, zum Beispiel die nationale Sicherheit, nicht für ihn interessierten.
Doch er hatte sich getäuscht, denn das örtliche Landratsamt wurde aufmerksam. Das setzte eine Reihe bürokratischer Aktivitäten in Gang.
Zunächst meldete sich der für Schwarzbauten zuständige Baukontrolleur und kritisierte Jakob, ohne Genehmigung diverse Gebäude errichtet zu haben.
Auch die Naturschutzbehörde und das Wasserwirtschaftsamt waren wegen eventueller, durch den Würfel verursachter Kontaminationen sehr besorgt.
Als das Gewerbeaufsichtsamt sich bei Bertl wegen der Schankerlaubnis erkundigte, hatte Jakob nur noch den Wunsch, das Grundstück mitsamt Würfel und Touristen in die Luft zu jagen.
Doch die Unannehmlichkeiten dauerten weiter an. Als ein Brandschutzbeauftragter mit Fragen nach dem Rauchverbot und den Fluchtwegen auftauchte, beförderte ihn Jakob persönlich zurück in dessen Dienstwagen.
Zusehends brisant wurde die Lage, als ein Hygieneinspektor in Bertls heiligen Küchenhallen einmarschierte. Da dieser daraufhin sehr erbost reagierte, handelte er sich diverse Anzeigen ein.
Jakob sperrte sich in Folge dieser ganzen Widrigkeiten in seinem Keller ein. Er wollte nichts mehr sehen und hören.
Weder seine Frau, noch seine Freunde, noch der Dorfpfarrer konnten ihn mit einfühlsamen Worten zum Herauskommen bewegen. Selbst ein befreundeter Psychologe erzielte mit therapeutischen Schlüssellochgesprächen bei Jakob keinen Erfolg.
Dieser hatte inzwischen beschlossen, dem Würfel gehörig die Meinung zu sagen. Es war unfair, dass ihn das verfluchte Ding mit den Konsequenzen seines Auftauchens so alleine ließ.
Unbeobachtet krabbelte er aus dem Kellerfenster, machte sich auf den Weg zum Garten und erreichte schließlich den Platz, an welchem der Würfel üblicherweise residierte.
Diesmal war es anders. So sehr Jakob auch blinzelte, das Ergebnis war immer das gleiche.
Der Würfel war nicht mehr da.
Es gab nichts zu sehen, nur einen unauffälligen, leeren Platz. Keinerlei Anzeichen, dass dieser je existiert hatte.
Jakob lief irritiert im Garten herum, möglicherweise hatte das Ding einfach nur seine Stellung gewechselt. Doch er fand nichts.
Jakob setze sich aufwühlt ins Gras und dachte lange nach.
Da sich auch unter extremen Umständen sein bodenständiger und pragmatischer Charakter durchsetzte, akzeptierte er das Verschwinden des Würfels genauso schnell, wie er es bei dessen Auftauchen getan hatte.
Er schätzte die Konsequenzen der neuen Situation sachlich ab und entschied sich dementsprechend für das einzig Richtige:
Er musste nun doch den neuen Rasenmäher kaufen.