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Der Wünschedieb
„Hallo, Mami, wir sind da!"
Timo hatte den Schulranzen im Flur auf den Boden fallen lassen, und während er sich von seinem Anorak losstrampelte, sauste er durch die Küche ins Wohnzimmer.
„Mami, Mami. Es sind Ferien und mir ist noch ein Weihnachtswunsch eingefallen!“
„Ups!“, entfuhr es ihm, und er hielt sich die Hand vor den Mund; Mama telefonierte.
„Was sagst du da“, hörte er sie ins Telefon flüstern, „die Weihnachtsengel streiken dieses Jahr? Es gibt niemanden, der die Wunschzettel abholen wird?“
Erschrocken schlich Timo zurück zur Küchentür und spitzte die Ohren. Da spürte er Papas Hand auf seiner Schulter.
„Wir lauschen doch nicht, wenn andere telefonieren oder?“, sagte der und zog ihn zurück in den Flur.
„Ich wollte doch nur …, weißt du …, ich habe auch gar nichts gehört“, stammelte Timo.
Schnell hing er seine Jacke an die Garderobe und trug den Schulranzen in sein Zimmer. Dort lag auf dem Schreibtisch sein Wunschzettel. Gerade hatte er sich einen Stift genommen, um den neuen Wunsch aufzuschreiben, als seine Mama ihn zum Essen rief. Als er die Küche betrat, sagte Papa: „Auch, wenn jetzt Ferien sind, ein bisschen Lesen und Schreiben musst du üben.
„Ach, ne Papa“, antwortete er und schmollte, „das kann ich sehr gut, sieh dir meinen Wunschzettel an.“ Papa lächelte.
Mama hatte Würstchen und Kartoffelsalat zubereitet, sein Lieblingsgericht. Doch so richtig schmecken wollte es ihm nicht. Mit der Gabel stocherte er auf seinem Teller herum und wagte nicht, seine Mama nach den Engeln zu fragen, da er ja gelauscht hatte; zudem hatte er auch noch seinen neuen Wunsch vergessen. Wenn aber kein Engel kommen würde, dann war das auch egal.
„Ich finde das ungerecht!“ platzte es mit einem Mal aus ihm heraus. „Ich habe mir so viel Mühe gegeben, mit dem Wunschzettel, habe immer meine Hausaufgaben gemacht und war fast immer lieb. Richtig gemein find ich das.“
Währen seine Mama ihn scheinbar verdutzt ansah, nickte Papa mit dem Kopf: „Von wegen, gar nichts gehört,“ grinste er.
Mama war aufgestanden und mahnte zur Eile. Es sei noch so viel zu erledigen an diesem Tag und man sollte später noch darüber sprechen.
„Ihr zwei Männer besorgt jetzt erst einmal einen Tannenbaum. Und du, Timo“, fuhr sie mit mahnendem Fingerzeig fort, „du achtest darauf, dass Papa nicht wieder ein so riesiges Weihnachtsbaummonster anschleppt, wie im vergangenen Jahr.“
Timo platzte heraus vor Lachen, als er zurückdachte. Der Baum war so groß gewesen, dass Papa, als er versuchte ihn durch die Wohnzimmertür zu schieben, zwischen Baum und Türrahmen eingeklemmt wurde.
„Zum Schluss hat er aber sehr schön ausgeschaut“, verteidigte sich Papa.
„Ja, zum Schluss“, bestätigte Mama und lächelte, „nachdem du ihn bis auf die Spitze heruntergesägt hattest. Nun aber los, ihr zwei!“
Timo hatte einen richtig tollen Tannenbaum ausgesucht und mit einer Säge und Papas Hilfe oberhalb des Forsthauses aus dem Wald geholt. Den ganzen Nachmittag waren sie unterwegs gewesen. Wieder zu Hause angekommen war Mama voller Lob. Nicht zu groß sei der Baum und nicht zu klein, gut gewachsen und mit Überlegung ausgesucht.
Papa wollte ihn noch am gleichen Abend aufstellen. Timo aber war so müde, dass er nach dem Abendbrot sofort ins Bett ging, denn am folgenden Morgen sollte er zum ersten Mal helfen, den Baum zu schmücken.
Doch kaum hatte er sich unter die Bettdecke gekuschelt, musste er an das denken, was Mama ins Telefon gesprochen hatte: Die Weihnachtsengel streiken! Keiner holt die Wunschzettel ab!
Wenn das stimmte, war die ganze Arbeit umsonst gewesen. Schon seit Wochen hatte er jeden Wunsch aufgeschrieben, der ihm eingefallen war. Das konnte nicht richtig sein, die Mama hatte das bestimmt falsch verstanden. Engel die streiken? Das dürfen die bestimmt nicht, genau wie sein Papa, weil er Beamter ist.
Mitten in seine Gedanken hinein platzte ein: „Zapperladingsbums, was ist das?“
Überrascht öffnete Timo die Augen und schaltete seine Nachttischlampe ein. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner Mann mit weißem Bart, in grüner Hose und grüner Weste. Darunter trug er ein orangefarbenes Hemd und auf dem Kopf eine spitze, rote Mütze.
„Danke,“ sagte der kleine Mann und starrte auf Timos Wunschzettel, „aber, zapperladingsbums, selbst bei Licht, was ist das?
„Mein Wunschzettel“, antwortete Timo höflich.
„Dein Wunschzettel? Nein, daraus wird nichts, darunter setze ich meinen Stempel nicht. Das ist, zapperladingsbums, das ist ein ganzes Wünschebuch! Da muss ich mich nicht wundern, dass die Engel streiken, wie sollen die das alles tragen?“
„Ah“, sagte Timo verstehend, „du holst meinen Wunschzettel ab?“
„Zapperladingsbums, sehe ich aus wie ein Engel?“, schimpfte der kleine Mann und stampfte mit einem Fuß auf, „nur Engel dürfen Wunschzettel einsammeln.“
Dann sah er Timo an, hob mit einer Hand seine Mütze und verbeugte sich leicht.
„Darf ich mich vorstellen, ich bin Raseschnell, Expresswunschzettelpoststellenoberwichtel des Weihnachtsmannes. In meinem Büro da oben“, er zeigte dabei mit dem Finger gegen die Zimmerdecke, „da oben bleibt die ganze Arbeit liegen und das nur, weil ich bei den Kindern die Wunschzettel kontrollieren muss, ob sie sich auch etwas Vernünftiges gewünscht haben. Dabei könnt ihr Kinder noch froh sein, dass der Weihnachtsmann ein so großes Herz hat. Die Engel wollten Weihnachten ausfallen lassen.“
„Aber alle meine Wünsche sind wichtig,“ sagte Timo leise.
„Na dann wollen wir doch einmal sehen“, hörte Timo vom Wichtelmann, der in seinen Wunschzetteln blätterte. „Hier, gleich hier auf der zweiten Seite, was stehen da für Wünsche?“
„Das weiß ich nicht mehr“, antwortete Timo wahrheitsgemäß, „das sind zu Viele, um sie sich zu merken, aber darum habe ich sie ja aufgeschrieben.“
„Zapperladingsbums“, wieder stapfte der Wichtel mit dem Fuß auf, „Pusteblumenwünsche sind das, Pusteblumenwünsche! Da hält die Tinte nicht auf dem Papier.“
Fragend blickte Timo zum Wichtelmann, der seine Wunschzettel hochhielt. Und dann verstand Timo und war entsetzt. Der Wichtelmann hatte seine Wangen aufgeblasen, bis sie aussahen wie Tennisbälle und pustete mit einem Pfeifen zwischen die Blätter des Wunschzettels. Die so mühevoll zusammengestellten Sätze und Wörter schienen plötzlich auf dem Papier zu tanzen, lösten sich dann gänzlich und wirbelten schließlich wie Pusteblumensamen als Buchstabengewusel durch die Luft.
„Komm zu mir“, rief der Wichtelmann, „sieh dir an, was geblieben ist!“
Nun war Timo richtig böse. Er sprang aus dem Bett, sauste auf den Wichtel zu und riss ihm den Wunschzettel aus der Hand. Ungläubig starrte er auf das fast leere Papier.
„Du kommst nicht vom Weihnachtsmann“, presste er mit feuchten Augen, den Tränen nahe hervor, „du bist ein Wünschedieb, ein gemeiner Wünschedieb!“
„Wenn du das meinst“, sagte der Wichtelmann und streckte beruhigend seine flache Hand nach vorne, „ich werde versuchen es rückgängig zu machen, aber auf deine Gefahr, dieser Wunschzettel wird nicht abgeholt werden.“
Seine Hände sausten unerwartet über seinem Kopf hin und her. Wie in einem Wirbel formierten sich die Buchstaben zu einer Kugel und mit einem „Zapperladingsbums“ schnappte der Wichtel die Buchstaben aus der Luft und schleuderte sie zurück auf den Wunschzettel.
Plötzlich hörte Timo seine Mama und gleichzeitig war der Weihnachtswichtel verschwunden.
„Timo, Timo mein Schatz, aufwachen. Es ist heilig Abend, wir wollen den Baum schmücken.“ Timo rieb sich die Augen, sprang aus dem Bett und stürzte gleich auf den Schreibtisch zu. Er war erleichtert, als er seinen Wunschzettel dort unversehrt vorfand. Während des Frühstücks dann erzählte Timo von seiner Begegnung mit dem Weihnachtswichtel und Mama und Papa hörten aufmerksam zu.
„Der Wichtelmann kommt wirklich vom Weihnachtsmann“, sagte Mama und auch ich habe dir
schon gesagt, dass zu viele Wünsche meist nicht in Erfüllung gehen. Wir können aber feststellen, ob er in der Nacht bei dir war. Hole doch mal deinen Wunschzettel.“
Als sie Timos Wunschzettel in der Hand hielt, kniff sie Lippen und Augen zusammen, atmete tief ein und wieder aus und sagte: „Ja, der Wichtel war bei dir, das erkenne ich. Er hat beim Fangen und wieder Zusammensetzen der Buchstaben einige vergessen oder auch verdreht. Sieh hier zum Beispiel: …“, und Mama zeigte ihm die vielen Fehler, die sich beim Zusammensetzen eingeschlichen hatten. Timo war verzweifelt, alles das konnte er nicht korrigieren, dazu fehlte die Zeit. Doch dann besann er sich und erzählte seiner Mama, was er sich am meisten wünschte.
Zusammen mit ihr hatten sie dann einen kleinen, neuen Wunschzettel geschrieben und ihn noch vor dem zu Bett gehen fertig gestellt … Und diese Wünsche sind auch in Erfüllung gegangen. Mama hatte spät abends noch einmal auf diesen Wunschzettel geschaut, bevor er von einem Engel abgeholt worden war und hatte darunter einen Stempel gesehen, der besagte: Genehmigt, Expresswunschzettelpoststellenoberwichtel des Weihnachtsmanns, Raseschnell.