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Der Voyeurist
Für einen Augenblick gelang es mir, all die wirren, widersprüchlichen und unaussprechlichen Gedanken auszublenden und den heutigen Tag als einen völlig normalen Tag anzusehen.
In jenem kurzen Moment fühlte ich mich frei, fühlte ich mich menschlich.
Ich schloss die Augen, holte tief Luft und versuchte mir, diesen schönen Augenblick in all seinen Facetten gut einzuprägen.
Anschließend fuhr ich mit meiner Arbeit fort und richtete meine Videokamera wieder auf das junge Liebespaar, welches ich nun schon seit mehreren Stunden aus sicherer Entfernung beobachtete.
Nichts hatte sich bisher meiner Aufmerksamkeit entzogen. Alles wurde sorgfältig dokumentiert.
Jede noch so winzige Gestik, all die kleinen zwischenmenschlichen Spannungen und die vielen Emotionen, die es mir schwer fiel, in all ihrer Komplexität vollständig zu erfassen und zu verstehen.
Doch ich musste sie verstehen. Ich musste lernen zu begreifen, was es hieß, ein normales Leben zu führen. Ein Leben mit Freude, Liebe, Leidenschaft und dem ganzen anderen sentimentalen Zeug eben.
Es war die einzige Möglichkeit, meinen eigenen Gedanken zu entkommen, und mich in eine Welt zu begeben, die frei war vom Hinterfragen, frei vom andauernden Durchdenken von Ereignissen und deren Willkürlichkeit, die mir wiederum zu unbegreiflich war, um mit dieser schrecklichen Ungewissheit normal weiterleben zu können.
Aus eben jenen Gedanken ergab sich ein unaussprechliches Verlangen, das frei von jeder Menschlichkeit war. Ein Verlangen, dem ich versuchte, durch mein ständiges Beobachten und Studieren von Menschen aus dem Weg zu gehen. Ich konnte mir selten etwas Genaues unter diesem Verlangen vorstellen. Ich wusste nur, dass wann immer es mich überkam, mein gesamter Körper ganz plötzlich erstarrte.
Mein Herz fing an zu rasen und um mich breitete sich eine beklemmende Dunkelheit aus. Nichts war dann mehr konstant, die Welt wirkte surreal, und die Menschen in ihr bedrohlich.
Schon seit vielen Jahren suchte ich nach einem Weg, all meinen Schmerz und all diese unerträgliche, mich ständig begleitende Angst hinter mir zu lassen, und wurde so zu jener befremdlichen Kreatur, die sich nicht mehr durch menschliche Ideale wie Liebe, Vertrauen und Empathie auszeichnete, sondern viel mehr auf das Lustlose und Grausame in der Welt fixiert war.
Doch noch sah ich Hoffnung. Die Hoffnung, mich irgendwann von all meinen Gedanken lösen und mich schließlich auch dieser geistigen Leere hingeben zu können.
Wie schön muss das sein. Gedankenlos durch die Welt zu spazieren, nichts ahnend dem Leben entgegenzublicken und das alles hier für real zu halten, all die Willkürlichkeiten wirklich nur als solche wahrzunehmen und nicht weiter zu hinterfragen. Ist das nicht auch irgendwie das, wonach alle Menschen in ihrem Leben streben? Nach dem Freisein von jeglichen Zweifeln und jeder Art von Verantwortung sich selbst gegenüber?
Nachdem ich ein paar schöne Aufnahmen gemacht hatte, packte ich die Kamera zurück in meine Tasche und zog wieder mein Notizheft hervor. Als ich gerade einen neuen Eintrag verfassen wollte, musste ich an Lisa denken. Daran, dass es heute genau einen Monat her war, dass sie mein Leben verlassen hatte.
Den ganzen Tag träumst du nur vor dich hin. Wenn ich mit dir rede, bist du geistig ganz wo anders. Du lebst in deiner eigenen Welt. Wie willst du mich lieben, wenn du dich nicht mal selbst ausstehen kannst?
Solche Sachen sagte sie zu mir. Und sie sagte sie immer wieder. Manchmal glaubte ich, sie habe es in den zwei Jahren, in denen wir zusammen waren, geradezu darauf angelegt, mich in den Wahnsinn zu treiben.
Lisa erinnerte mich oft an meine Mutter. Genau wie sie war sie eine starrköpfige Besserwisserin gewesen, die nicht nur mich, sondern auch sich selbst belog.
Die Welt bietet uns so viele Möglichkeiten. Du kannst alles erreichen, wenn du es nur willst.
Wie oft ich mir diesen Mist schon anhören musste. Nicht nur von Lisa. Von so vielen Menschen.
Meiner Mutter, meinen damaligen Lehrern, meinem Therapeuten. Sie alle hielten mich anfangs für eine arme, ängstliche und gequälte Seele, die einfach noch nicht ihren Platz in der Welt gefunden habe.
Und vielleicht war ich das auch. Nur passte ich eben nicht in deren Vorstellung eines Opfers der Gesellschaft. Deswegen wendeten sich auch letztendlich die meisten Menschen von mir ab.
Sie wagten es nicht, hinter meine zahlreichen Masken zu blicken, weil dies zunächst ihre Scheinwelt durcheinander gebracht und sie in weiterer Folge zu der Erkenntnis geführt hätte, dass wir doch gar nicht so gänzlich verschieden waren.
Die Menschen fürchteten sich schon immer vor Sachen, die sie nicht verstanden und Lisa war da keine Ausnahme. Trotz alldem hielten die meisten sie immer für eine kluge, ehrgeizige und gebildete Frau, die stets versuchte, das Gute in Menschen zu sehen. Und das war und tat sie auch mit Sicherheit, doch glaubte ich, dass dies in gewisser Weise nur noch mehr dazu beitrug, sie innerlich zu zerbrechen.
Sie war nicht immer ehrlich, weder mir, noch sich selbst gegenüber, aber was ich ihr antat, hatte sie sicher nicht verdient. Ich verstand bis heute nicht, wieso ihr eigentlich an einem wie mir etwas lag und wie sie es überhaupt zwei lange Jahre lang mit mir aushielt.
Dass sie Angst vor mir habe, sagte sie damals zu mir, als sie die winzigen Spionagekameras entdeckte, die ich heimlich in ihrem Büro angebracht hatte. Oder auch, als sie mich eines Morgens dabei erwischte, wie ich gerade panisch den Hausmüll unserer Nachbarn durchwühlte.
Das alles schien Lisa überhaupt nicht zu verstehen. Ich erinnerte mich noch genau an den Abend, an dem ich ihr versuchte, meine Weltanschauungen näher zu bringen, anstatt ihr nur wieder irgendeine Ausrede für mein Verhalten ins Gesicht zu knallen.
Doch als Reaktion auf diese Aufrichtigkeit, hörte sie nur geduldig zu, nickte schweigend und starrte in die Leere ohne eine Miene zu verziehen oder auch nur ein Wort zu sagen.
Anschließend stand sie wortlos auf, ging in unser Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett und starrte aus dem offenen Fenster. Sie blieb dort mehrere Stunden regungslos sitzen und rührte sich nicht vom Fleck.
In ihren Augen spiegelte sich eine sonderbare Mischung aus Angst und absoluter Gleichgültigkeit wider. Dieser Blick war mir nicht neu. Ich kannte ihn bereits. Ich kannte ihn von mir selbst.
Lisa hatte nie gelernt, wie mit Menschen umzugehen war, die in keine der ihr bekannten Schubladen hineinpassten. Ich hatte ihre schön geordnete Welt, in der sie glaubte zu leben, mit meiner Andersartigkeit auf den Kopf gestellt.
Und so sehr ich die Art, wie Lisa verzweifelt versuchte, Struktur in ihr tristes Dasein hinein zu bringen verabscheute, lebte sie doch genau das Leben, das ich auch immer führen wollte.
Ich fühlte mich einerseits zu Lisa hingezogen, bemitleidete sie, doch auf der anderen Seite gab es diese Tage, an denen ich ihr inständig den Tod wünschte.
Nicht nur für sie, sondern auch für mich stellte unsere Beziehung eine sonderbare Reise dar.
Doch für mich war es eben auch wiederum eine Art Experiment, über das ich natürlich in mehreren genau beschrifteten Unterlagen Protokoll führen musste. Wenn Lisa nur darauf geachtet hätte, welch großen Wert ich auf die genaue chronologische Ordnung und Beschriftung meiner Sachen legte, vielleicht wäre ich ihr dann ein Stück sympathischer gewesen.
Das war eben meine Art, Ordnung zu schaffen und den Überblick über all die Willkürlichkeiten und Nichtigkeiten, die das Leben so mit sich brachte, zu behalten, doch das konnte und wollte Lisa nie verstehen.
Wie oft sie weinend in meinen Armen gelegen hatte und mich währenddessen mit ihren Problemen zulaberte. Dass sie es immer nur jedem Recht machen wollte, sagte sie zu mir und dass sie nie die Anerkennung bekommen hatte, die sie eigentlich verdient hätte.
Das Einzige, was sich Lisa wirklich von mir wünschte, war Mitgefühl. Etwas, das ich nie in der Lage war, ihr zu geben. Von Anfang an schon hatte ich sie nur ausgenützt und emotional genötigt.
Wann wirst du endlich aufwachen und dich der Realität stellen? Wann wirst du endlich aufhören, vor deinen Problemen davonzulaufen? Irgendwann wird dich die Vergangenheit einholen!
Das waren ihre Worte an jenem Abend, an welchem wir beschlossen, dass unsere gemeinsame Reise ein Ende finden musste. Es war der letzte Abend, den wir zusammen als Paar verbrachten und Lisas Worte gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Denn, was wenn sie mit allem Recht hatte? Was, wenn ich wirklich für immer so armselig und gefühlskalt bleiben würde? Was, wenn dieses Verlangen nie verschwindet?
Schon seit längerer Zeit spürte ich, dass die Dunkelheit in mir immer mehr die Oberhand gewann und ich immer machtloser gegen sie wurde, ganz gleich wie sehr ich mich danach sehnte, das Leben eines ganz gewöhnlichen, gleichgeschalteten Mannes zu führen, ich schien einfach nicht dazu in der Lage zu sein. War ich bestimmt dazu, irgendwann durchzudrehen, Amok zu laufen und mir selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen?
Hunderte von Seiten hatte ich schon im Laufe der letzten Jahre mit meinen Beobachtungen vollgeschrieben und es schien mir nie weitergeholfen zu haben.
Im Gegenteil, mich langweilten Menschen noch viel mehr als früher.
Jedes Gespräch kam mir nur noch oberflächlich und vorhersehbar, jede Gestik und jeder Gesichtsausdruck nur noch gespielt vor.
Ich war also nicht menschlicher geworden, ich wurde nur besser im Schauspielen. Das war es wohl, was Lisa immer meinte.
Und während ich über all das nachdachte, musste ich feststellen, wie viel Zeit inzwischen im Hier und Jetzt vergangen war.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bereits mehrere Stunden ins Nichts gestarrt und mich meinen sowohl nervenzerfetzenden, als auch nervenbetäubenden Gedanken ausgesetzt hatte, und in ihnen regelrecht versunken war.
Mich überkam diese sonderbare Mischung aus Gleichgültigkeit und Panik, als mir klar wurde, dass ich mein eigentliches Ziel vollkommen aus den Augen verloren hatte.
Und was ich dann erblickte, stellte meine Welt vollkommen auf den Kopf. In diesem Moment schien es keinen Ausweg mehr zu geben und ich musste mich endgültig all den Widersprüchlichkeiten und Absurditäten meiner Gedankenwelt stellen.
Denn an dem schönen Plätzchen, das einige Stunden zuvor noch das junge Paar für sich beanspruchte, hatte sich nun eine wahrlich andersartige und skurril anmutende Kreatur niedergelassen.
Ich konnte mich an keinen Anblick in meinem Leben erinnern, der so verstörend auf mich wirkte wie dieser hier.
Dort auf jenem kleinen Hügel inmitten des Stadtparks, hatte sich doch tatsächlich ein Penner niedergelassen.
Ein dämlicher, in den Tag hinein lebender, heimatloser Penner, der so sturzbetrunken war, dass er es offensichtlich nicht einmal mehr schaffte, es sich auf einer der, von den Strahlen der Sonne aufgewärmten Parkbänke gemütlich zu machen.
Nein, er lag da auf der Wiese, mit dem Gesicht im Dreck und war jedem nur ein Dorn im Auge.
War es Wut oder gar Hass, was mich da gerade überkam? Was auch immer es war, das plötzlich Besitz von mir ergriff, es brachte mich dazu aufzustehen und loszurennen, mit nur einem Ziel im Auge.
In jenem Augenblick erschien mir alles andere gleichgültig, es gab nur noch diesen penetranten, nicht weg zu denkenden Drang und die damit einhergehende Dunkelheit.
Ich rannte also auf den Penner zu, ich wollte alles, einfach alles über ihn erfahren. Ich wollte mich in meinen Erwartungen bestätigt fühlen, das Elend von der ersten Reihe aus betrachten und ganz genau studieren.
Und doch ging es hierbei um so viel mehr, als diese widerwärtige, einem Autounfall gleichende Gestalt.
Nein, als ich in diesem Moment losrannte und alles andere in der Welt als lediglich zweitrangig einstufte, dachte ich an meine Mutter, daran wie sehr sie mich, ihren einzigen Sohn geliebt haben musste und alles tat, damit es mir an nichts fehlte.
Ich dachte an meinen Vater und wie sehr er meine Mutter doch gehasst haben musste, dass er sie ständig wie Dreck behandelte und ihr so viele schreckliche Dinge antat.
Und natürlich dachte ich an Lisa. Ich dachte daran, wie viel stiller es in meiner Wohnung nun war, seit dem sie fort war. Und daran wie erbärmlich sie in jener Nacht aussah, als sie auf dem Boden meines Schlafzimmers gelegen hatte und ihr kaltes Blut ihren spröden, leblosen Körper entlang floss.
All das ging mir durch den Kopf, als ich gerade dabei war, die Jackentaschen des Penners zu durchwühlen, während sich die Welt um mich immer mehr mir anzupassen schien.
Denn um mich existierte nur noch diese beklemmende Dunkelheit, die mich langsam aber sicher zu verschlingen drohte und auch vor meinen Augen schienen die Bilder immer verschwommener und düsterer zu werden.
Ich betrachtete den Penner von allen Seiten genau, ich durchsuchte all seine Taschen, ich betastete seinen ganzen Körper und roch sogar an ihm.
Ich suchte nach Hinweisen, aus irgendeinem Grund schien ich zu glauben, dass sich in dem Elend, das diese Gestalt darstellte, eine Antwort verbarg. Eine Antwort, die ich bislang nicht erkennen konnte, da ich zu geblendet war, um die richtigen Fragen zu stellen.
Ich besaß keine Kontrolle, mir wurde etwas Entscheidendes vorenthalten.
Ich betastete ihn von oben bis unten und während ich das tat, versperrte mir die Dunkelheit immer mehr die Sicht. Was mit jenem harmlosen Betasten anfing, mutierte immer mehr zu einem Gewaltakt.
Ich spürte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten und auf den scheinbar emotionslosen Körper eindroschen. Wieder und wieder.
Ich glaubte zarte Tränen zu erkennen, die mein Gesicht hinunter liefen, sich rot färbten und schließlich eine ebenso seltsame und düstere Gestalt wie der Rest der Umwelt annahmen.
Schließlich klammerten sich meine Hände um eine rostige Klinge, die sich mit jedem Hieb tiefer in das Fleisch der gesichtslosen Kreatur bohrte.
Doch meine Seele befand sich bereits außerhalb meines Körpers und war Teil der Dunkelheit geworden. Ich war nur noch ein Beobachter.