Der Vorgang
Der Vorgang
„Meine Damen und Herren, auf Gleis 3 fährt ein: Regionalzug von Seefeld in Tirol nach München Hauptbahnhof. Bitte Vorsicht, Türen schließen automatisch!“
Hechelnd schleppe ich mich von der Wartehalle zur Unterführung, durchquere die neonbeleuchtete CT-Röhre mit Liebesschwüren à la „Deine Mutter ist eine Bitch“ an der Wand, sprinte auf Höhe des blauen Schilds mit der weißen Drei wieder nach oben und erreiche gerade den letzten Treppenabsatz, als mich das Kommando zurück ereilt. Auf Gleis 1 fahre er nur ein, der Zug.
„So ein Scheißverein!“
„Und wir zahlen noch dafür!“
„Vollidioten!“
Ich weiß nicht, was die Leute haben. Von Gleis 3 über Gleis 1 und 2 zum Ersatzgleis 5, das tut gut, hält fit und spart einem das tägliche Lauftraining. Fünf Termine habe ich auf diese Weise bereits verpasst, dafür bin ich chronisch außer Atem, Sommer wie Winter. Lauf- und Schlittschuhlauf, das lustige Trainingsprogramm für Senioren. Apropos Senioren: Da steht so eine Dame vor mir, die aussieht wie eine Statue bei Madame Tussauds. Der ideale Werbeträger für die Bahn. Der Zug fährt mit quietschenden Bremsen ein und ich springe an Bord. Abwärmen ist angesagt. Die Heizungsanlage läuft auf Hochtouren und bringt die 40 Grad kalte Luft zum Kochen. Ich erkämpfe mir einen Platz im brechend vollen Abteil, sauge den aphrodisierenden Geruch nach Schweiß und warmem Bier in mich auf und setze mich in die Nähe der defekten Bordtoilette. Man weiß ja nie.
„Meine Damen und Herren! Wegen fehlender Zugteile, die uns aus München zugeliefert werden müssen, verzögert sich die Weiterfahrt unseres Zuges um ca. 30 Minuten. Wir danken für Ihr Verständnis.“
Fehlende was? lese ich in den Glubschaugen von Madame Bleichgesicht, und ihre Miene wird ernst. Sehr ernst. Bauen die vor jeder Fahrt den Zug neu zusammen? Unmöglich, aber da packt die Erinnerung sie schon am Genick, ich erkenne sie an dem Blitzen in ihren Augen, die Gedanken an den Triebwagenschaden, die defekte Lok und die Geschichte mit dem abgebrochenen Verschiebeteil.
„Ja, welcher Zugteil fehlt denn da bloß?“, rätselt der ältere Herr gegenüber. „Die Bremsen eher nicht, die sind bei jeder Fahrt kräftig angezogen. Das Gaspedal auch nicht, das ham’se schon vor dem Fall der Berliner Mauer abgeschafft. Aber wat dann? Die Klimaanlage? Die Klospülung? Der Sitzbezug?“
„Der Lokführer!“, ereifert sich sein Begleiter und deutet auf den eisschleckenden Herren hinter dem Fenster, verbindlich lächelnd in seiner Uniform. Er wirkt sichtlich entspannt, als er eine knappe Stunde später das Führerhaus besteigt. „Meine Damen und Herren, aufgrund eines kleinen Problems…“
Miss Bleichgesicht atmet erleichtert auf. Ich bin schon geneigt, es ihr gleichzutun, werde aber vom herbeieilenden Schaffner gebremst. Wie ein Einser-Schüler, der ständig aufzeigt, strecke ich ihm meine Fahrkarte entgegen, doch der Koloss hat es auf was Anderes abgesehen. „Können Sie nicht lesen?“
„Weshalb?“
„Der Platz ist für Rollstuhlfahrer.“ Seine Rechte weist auf den blauen Aufkleber mit dem weißen Rolli in der Mitte direkt über mir.
Hektisch blicke ich mich im Abteil um. „Ich sehe hier aber keinen.“
„Darum geht’s auch grad nicht. Wenn dieses Symbol draufsteht, dürfen Sie da nicht sitzen, ne?“
„Außer ich besorge mir einen Rollstuhl, nicht wahr?“ Ich screene meine Umgebung, werde aber nicht fündig. „Gut, dann mach ich hier mal nen Abgang und setz mich dort drüben hin“, verkünde ich und deute auf den einzig freien Platz im Gang.
„Das hätten Sie sich mal besser früher überlegt. Jetzt müssen wir einen Vorgang aufnehmen.“
„Einen wa-?“
„Sie haben mich schon verstanden. Wir werden jetzt einen Vorgang aufnehmen. Also Personalien, Ausweis! Hopphopp!“ Er nimmt die Haltung von Oberst Moser ein, meinem Kommandanten bei der Bundeswehr, dem er auch optisch gleicht: Schiebermütze, Zornesfalte, Hakennase und Oberlippenbart.
„Moment mal, Sie wollen mir eine Strafe aufbrummen, weil ich auf einem Sitz für Rollstuhlfahrer gesessen bin, obwohl kein Rollstuhlfahrer im Abteil war?“
„Unsere Anweisung lautet in so einem Fall einen Vorgang aufzunehmen.“
„Steht die im selben Abschnitt wie die Gebrauchsanweisung für die Bordheizung?“
„Ausweis! Oder wollen Sie, dass ich nen zweiten Vorgang aufnehme?“
„Brauchen Sie dafür nicht erst meine Daten?“
„Ich kann auch die Polizei holen, ne?“
„Wenn Sie meinen.“
Die Brauen des Schaffners bilden ein steiles V. „An der nächsten Haltestelle sind Sie draußen.“
„Da müssen wir erst ankommen.“
Verhaltenes Gelächter in den hinteren Reihen.
„Wer war das? Du?“ Der Zugchef hält auf den dunkelhäutigen Halbwüchsigen auf dem Sitz schräg gegenüber zu. „Hast du überhaupt einen Fahrschein, du?“
Der Junge sieht ihn mit großen Augen an. „Ich wollte mir am Automaten einen kaufen, aber der nimmt nur Münzen.“
„Klar, ne!“ Der Schaffner baut sich breitbeinig vor ihm auf. „Du glaubst wohl, du bist besonders schlau.“
„Tut mir leid, ich wollte wirklich einen kaufen. Kann ich das nicht jetzt bei Ihnen…“
„Das macht 85 EUR.“
Ein verzweifelter, Hilfe suchender Blick in meine Richtung. „So viel habe ich nicht.“ Die Lippen des Schaffners umspielt ein süffisantes Grinsen. Gib’s ihm, kann ich in seinen Augen lesen, und er plustert sich vor ihm auf wie ein Gladiator, der auf den Beifall der begeisterten Menge wartet.
„Einen Zwanziger hab ich noch übrig“, werfe ich ein.
„Das wird nicht reichen“ Der Schaffner grinst, während der Zug zum Stillstand kommt.
„Meine Damen und Herren. Wegen eines Problems mit der Oberleitung verzögert sich unsere Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit. Wir danken für Ihr Verständnis.“
„Wie wär’s, wenn Sie dem Jungen die Karte einfach zum Normalpreis verkaufen?“
„Dat würde Ihnen so passen, wa?“, sagt der Oberst ohne mir dabei ins Gesicht zu sehen. „Ausweis!“, bellt er den Jungen an.
„Der liegt bei meinem Betreuer.“
„Soll das heißen, du kannst dich nicht ausweisen?“ Sein Ton wird schärfer.
„Tut mir leid. Ich…“
Big Boss zieht sein Smartphone aus der Tasche und tippt eine Nummer ein. „Ja, Zugführer 1116 hier… Ich habe einen blinden Passagier und einen Mann, der sich nicht ausweisen will…Ja, kommen Sie am besten gleich nach Murnau… Ein Ausländer und so ein Penner. Bis dann!“
Grabesstille erfüllt den Waggon. Big Boss steckt das Telefon weg, stemmt die Hände in die Hüften und mustert den fahrkartenlosen Jungen wie ein Sheriff seinen Sträfling. Inzwischen fährt der Zug wieder. „In Murnau steigen wir aus, Freundchen!“ Er packt ihn grob an der Hand und verpasst ihm einen Stoß. „Dann geht’s ab in die Zelle, ja?“
„Sie meinen die Wartehalle?“, protestiere ich von hinten, worauf der Typ sich abrupt zu mir umdreht. „Sie halten einfach den Mund, ja?“ Auf der Suche nach einem weiteren Opfer schreitet er das restliche Abteil ab, trifft aber nur auf rechtschaffene, zahlungswillige Kunden. Ein Snob in gestärktem Anzug und Uniform distanziert sich von dem Gesindel, das unsere Bahnhöfe flute, ein anderer ereifert sich über die Manieren der Jugend. Von den Kanaken könne man sich ja nichts anderes erwarten, meint eine Frau. Solidarisch bis zum Untergang.
Den Funken Widerstand, der in den Augen des Rasta-Pärchens aufflackert, bezwingt der Zugchef mit seinem Blick.
„Meine Damen und Herren: In Kürze erreichen wir den Bahnhof Murnau. Ladies and gentlemen: Our next stop: Murnau. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Please exit the train on the right hand side“, schallt es aus dem Lautsprecher.
„Auf geht’s, Bürschchen!“
Mir entgeht, ob die Aufforderung mir oder dem Jungen gilt.
„Meine Damen und Herren: Ausstieg in Fahrtrichtung links. Please exit the train on the left hand side.“
„Los, runter da! Wird’s bald!“
„Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Please exit the train on the right hand side.“
Endlich kommt der Zug zu stehen. Der Schaffner packt den Kleinen am Genick und schubst ihn die Treppe hinab. Ich folge den beiden in Respektabstand. Hoch erhobenen Haupts hält der Sheriff Ausschau nach unserem Empfangskomitee. Der Junge zittert wie Espenlaub. Gefängnisse kennt er aus seiner Heimat, sein Blick lässt keinen Zweifel daran.
„Wo die bloß wieder bleiben?“
Da, endlich. Zwei Beamte in Uniform. Die Mundwinkel des Zugchefs kräuseln sich zu einem Lächeln. Meine auch.
„Haben Sie uns angerufen?“, erkundigt sich der Ältere von beiden, ein kräftiger, untersetzter Kerl mit Dreitagebart.
„Wir haben hier einen Fahrgast, der sich weigert, seine Daten herauszugeben und einen Kanaken, der -“
Weiter kommt er nicht, denn der zweite, jüngere Beamte schaut mich verdattert an. „Ja, Franz! Was machst’n du da?“
„Ihr ken-?“ Der Zugchef bricht ab, die Wörter scheinen in seiner Kehle festzustecken.
„Na klar. Das ist mein Kollege Franz von der Dienststelle in Garmisch“, sagt er lachend zu mir. „Was machst’n du da?“
„Ich nehme einen Vorgang auf“, erwidere ich.