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Der Vogel

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06.04.2002
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Der Vogel

Waldemar Schleicher

DER VOGEL


Der Vogel saß schweigend auf der Banklehne. Der Mann sah nicht hin. Er war schon an zu vielen Orten gewesen, er hatte schon zu viel gesehen, um der Schönheit eines Vogels zu glauben.
Der Sonnenuntergang vor seinem Gesicht. Auch er war gelogen, trügerisch. Ein Rosa in den Wolken, wie Zuckerwatte.
Nein.
Alles gelogen, alles verdorben.
"Warum siehst du mich nicht an?", sagte der Vogel. Seine Stimme war ernst. Fast schon düster. Er fühlte sich... betrogen. Der Mann hatte nicht hingesehen, nicht sein schönes Federkleid betrachtet, das bläulich am Kopf war und zu den Füßen immer grüner wurde, der Schwanz ein dezentes schwarz, die Flügel mit roten Tupfen. Alles ein harmonisches, fließendes Farbenspiel. Aber der Mann hatte nicht hingesehen.
"Warum sollte ich", sagte der Mann. Er klang nicht überrascht, und auch das ärgerte den Vogel. Er hatte sich die Mühe gemacht, den Mann zu überraschen, zu ihm zu sprechen, aber der war kein kleines bisschen überrascht.
"Du SOLLTEST", erwiderte der Vogel, "ich habe ein schönes Federkleid, das dir gefallen wird. Sieh es dir doch an!"
"Was bringt mir dein Federkleid, Vogel, wenn ich es nicht mir nicht nehmen kann. Du fliegst davon..."
"Aber es ist sehr schön!", hielt der Vogel dagegen, "Warum siehst du es dir nicht an? Du wirst Freude daran haben!"
"Woher willst du wissen, dass ich meine Freude an deinem Federkleid haben werde!"
"Es ist sehr schön."
"Vielleicht es das ja. Aber dann fliegst du ja doch wieder fort, und mir bleibt wieder nichts. Ich will es nicht sehen, ich will es nicht sehen, um mich später nicht danach zu sehnen."
"Aber du hast... du hast doch die Erinnerung!"
Der Mann seufzte.
"Ach, Vogel, was nützen mir Erinnerungen, wenn mich die Sehnsucht zehrt. Sie wird mich zehren, nach mehr fordern, ich solle dich suchen, wird sie sagen, und wieder werde ich nächtelang nicht schlafen können, weil mein Herz sich nach dir sehnt. Nach deinem Federkleid. Seit Jahren lebe ich in der Sehnsucht, Vogel. Ich weiß, wovon ich rede. Die Sehnsucht... sie ist gefährlich. Sie macht blind, sie macht traurig."
"Aber mein Federkleid! Willst du es nicht riskieren? Woher weißt du, dass mein Federkleid es nicht wert ist, dass du es dir ansiehst, nicht wert, die Sehnsucht dafür auf sich zu nehmen?"
"Wenn du so viel durchgemacht hast, wie ich, ist Sehnsucht vielleicht das Einzige, was dir bleibt. Die Erinnerung... Ja, die Erinnerung schafft Sehnsucht. Das unbeschwerte Leben der Jugend... verglichen mit den mühsamen Tagen, Stunde für Stunde, jahrelang, im Leben der Alten. Die Jugend ist frei von Sehnsucht, frei von Erinnerung. Sie ist LEER. Bei Gott, ich wäre gern wieder jung. Aber noch lieber... könnte ich alles vergessen. Alles vergessen, was ich durchgemacht habe, was alle neben mir durchmachen mussten. Ich denke nicht gern daran zurück, und der Gedanke, dass es bessere Zeiten gegeben hatte, die SEHNSUCHT nach den besseren Zeiten. Sie zehrt mich, sie zerfrisst mich. Zu gerne würde ich vergessen, dass es schlechte Zeiten gab, zu gerne würde ich glauben, die besseren Zeiten wären nie vorbei gewesen. Aber sie sind vorbei. Ich erinnere mich, SEHNE mich. Und das ist es, was mich nachts aufwachen und leise weinen lässt."
Der Vogel zuckte die Achseln. Er flog davon. Niemals erfuhr er, dass der Mann in diesem Moment dankbar ein Gebet sprach.

Als dem Vogel Jahre später alle Federn ausgefallen waren und die Daunen auf seiner Brust zu einem grau verblassten, legte er sich auf eine Bank. Er fühlte sich schwach, sehr schwach. Und alt.
Der Mann hatte recht, dachte der Vogel, er hatte recht. Manchmal sehnte der Vogel sich danach, wieder auf der Bank sitzen zu können, wieder mit dem Mann zu reden, mit seinem Federkleid zu prahlen. Aber es war nur Sehnsucht. Sein Federkleid war längst nicht mehr so schön, wie es früher einmal war, und das machte ihn traurig. Er SEHNTE sich, nach den Zeiten, als er noch jung und schön war, als er noch fliegen konnte.
Es machte ihn traurig. Er wusste, dass die bessere Zeit vorbei war.
Er sehnte sich nach der Bank, dem Mann, der so verbittert über Sehnsucht sprach, er sehnte sich nach einem Gespräch mit diesem Mann. Ihn einfach wiedersehen und reden.
Es machte ihn traurig, dass er das nicht konnte. Er konnte nicht mehr fliegen, um den Mann zu suchen.
Und es machte ihn halb wahnsinnig, dass es doch möglich war. Der Mann lebte noch, er würde mit ihm reden wollen. Doch er konnte es nicht mehr.
Und das war der Grund, warum der Vogel in seinen letzten Tagen, Stunde um Stunde zäh verfließend, in seinen letzten Nächten weinend in der Ecke hockte.
Sich sehnte.

20. Oktober 2002

 

Hallo Creeper,

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Sie ist schön geschrieben, mit zur allgemeinen Stimmung passenden Bildern. Was sind selbst die schönen Dinge im Leben wert, wenn von ihnen doch nur Erinnerung bleibt? Ist es ein sinnvoller Weg, sich durch Verweigerung vor Enttäuschung zu schützen? Bedeutende Fragen wirfst Du da auf (ich hoffe, ich habe richtig interpretiert?), der Schluß ist ziemlich ernst, aber so ist halt auch das Leben.

Der vorletzte Satz gefällt mir nicht so gut, er erinnert mich an die `Erklärungen´ in manchen Märchen.
Für mich hätte es genügt, am Schluß „... konnte er nicht mehr,“ es blieb nur die Sehnsucht, zu schreiben.
Du kannst das aber besser entscheiden als ich.

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo, Woltochinon,

Ich freue mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Sie ist das erste Gewaltfreie was ich bisher geschrieben habe.

Sajonara, Creeper

 

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